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DREI

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Mary Fulton wohnte in einem kleinen Haus in einer Seitenstraße der Shoot-Up Hill, nicht weit von der U-Bahn-Station Kilburn. Thorne klopfte und wartete frierend vor der Haustür. Er war dankbar, dass die Todesnachricht bereits überbracht worden war, dass die beiden Streifenpolizisten, die gestern als Erste am Fundort der Leiche gewesen waren, Fulton schon vom Selbstmord ihrer Schwester in Kenntnis gesetzt hatten.

Wie üblich hatten die Uniformierten die Arschkarte gezogen.

Als die Tür sich schließlich öffnete, zückte Thorne seinen Dienstausweis und stellte sich vor. »Herzliches Beileid«, sagte er und hoffte, die Frau würde ihm nicht anmerken, wie überrascht er war. Sie wirkte deutlich älter, als er erwartet hatte. Doch wie üblich verriet ihn seine Miene sofort.

»Pip war zwanzig Jahre jünger als ich«, sagte Mary. Sie schüttelte den Kopf und brachte ein dünnes, trauriges Lächeln zustande. »Sie nannte sich immer ›den Unfall‹.« Die Frau war schätzungsweise Ende sechzig und hatte sich das graue Haar modisch kurz schneiden lassen. Sie trug einen langen Rock mit Schottenkaros und eine dunkle Strickjacke über einer weißen Bluse. Ihr Lächeln verschwand, und sie begann, an ihrer silbernen Halskette herumzuspielen. »Das klingt jetzt richtig schrecklich, oder?«

»Na ja …«

»Wobei das gestern natürlich kein Unfall war.«

»Nein.«

»Eher das genaue Gegenteil.«

Thorne schaute über ihre Schulter hinweg ins Haus und sah eine jüngere Frau aus einem Zimmer treten. Sie blickte zu ihm herüber, verschwand dann aber in einem anderen Raum. »Ich würde gern einen Blick in die Wohnung Ihrer Schwester werfen«, sagte er.

»Oh.« Mary wirkte überrascht. »Brauchen Sie dazu meine Erlaubnis?«

»Um ehrlich zu sein, bin ich nicht ganz sicher«, sagte Thorne. Wäre Philippa Goodwin ermordet worden, würde es bei ihr zu Hause längst von Polizisten und Kriminaltechnikern wimmeln. Doch wenn es um Selbstmord ging, gab es keine klaren Vorschriften. »Trotzdem wär mir wohler, wenn Sie es mir gestatten würden.«

»Dann … ja, warum nicht?«

»Vielen Dank.«

»Irgendwann muss ich sowieso mal zu ihr rüber.« Sie wandte sich kurz ab, als hätte sie etwas abgelenkt. »Um ihre Sachen zu sortieren.«

Thorne griff in die Tasche und zog einen Schlüsselbund hervor, der – den Hygiene- und Sicherheitsvorschriften für den Umgang mit blutverschmierten persönlichen Gegenständen entsprechend – gründlich desinfiziert worden war. »Sie hatte die hier bei sich.«

»Oh.« Zögernd streckte Mary den Arm aus. Thorne legte ihr die Schlüssel auf die Handfläche, und sie schloss langsam die Faust darum.

»Ehrlich gesagt habe ich gehofft, Sie würden mit mir kommen«, sagte er.

»Wirklich?«

»Natürlich nur, wenn Sie sich dazu in der Lage fühlen.« Er sah, wie die Frau ihre Faust öffnete, auf die Schlüssel ihrer toten Schwester blickte und mit den Fingern über den ledernen Anhänger strich. »Auf dem Weg würde ich mich gern mit Ihnen über Philippa unterhalten. Aber auch das natürlich nur, wenn es Ihnen recht ist.«

»Kann meine Tochter mitkommen?« Sie drehte sich zu der jüngeren Frau um, die wieder im Hausflur aufgetaucht war. »Seit wir die Nachricht erhalten haben, ist sie die ganze Zeit bei mir gewesen.«

»Natürlich.« Thorne sah, wie die beiden Frauen einen Blick wechselten. Die jüngere wirkte etwas widerwillig, signalisierte dann aber mit einem Achselzucken ihre Zustimmung.

»Geben Sie uns fünf Minuten«, sagte Mary Fulton.

Auf der Fahrt Richtung Tufnell Park saß die ältere Frau überwiegend schweigend auf dem Beifahrersitz von Thornes BMW, während ihre Tochter auf der Rückbank deutlich gesprächiger war. Ihre ausdruckslose Stimme deutete allerdings darauf hin, dass sie in erster Linie das Schweigen nicht auszuhalten schien. Thorne sah im Rückspiegel ihre roten, verquollenen Augen und vermutete, dass sie das Reden dem Weinen vorzog.

»Das ist ein schönes Auto«, sagte sie.

»Früher hatte ich ein älteres Modell. Das war noch viel schöner.«

»Polizisten scheinen deutlich mehr zu verdienen, als ich dachte.«

»Der hier war gebraucht.« Thorne bremste an einer Ampel und warf einen Blick in den Spiegel. »Ziemlich gebraucht.«

»Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich sage nicht, dass Polizisten nicht gut bezahlt werden sollten. Ich meine, es ist ein schrecklicher Beruf, oder? Grässlich. Menschen in den schlimmsten Situationen zu sehen, all die entsetzlichen Dinge und die … Opfer. Ich kann mir kaum vorstellen, dass einen das alles nicht verändert, Tag für Tag aufs Neue, dass es keine unangenehmen Auswirkungen hat … und ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass jemand diese Arbeit mag.« Sie lockerte ihren Sicherheitsgurt und beugte sich vor. »Mögen Sie Ihren Job?«

Thorne fuhr wieder an, und Mary drehte sich zu ihrer Tochter um.

»Ich weiß nicht, ob das –«

»Ich frage doch bloß.«

»Schon in Ordnung«, sagte Thorne.

»So ist sie immer, auch wenn’s ihr gut geht«, stellte Mary fest.

»Das ist nicht fair.«

»Und jetzt …« Mary packte die schwarze Handtasche auf ihrem Schoß noch fester. »Sie wissen schon, wo sie so aufgeregt ist …«

Thorne suchte Ellas Blick im Rückspiegel. »Standen Sie Ihrer Tante nahe?«

Ella lehnte sich ruckartig zurück und schüttelte den Kopf. »Was ist das für eine Frage?«

»Tut mir leid«, sagte Thorne.

»Mein Gott …«

»Es war eine dumme Frage.«

»Sie standen sich sehr nahe«, erklärte Mary.

Eine halbe Minute lang herrschte peinliches Schweigen, bis Ella seufzte und zu sprechen begann, als redete sie mit sich selbst. »Sie war für mich eher beste Freundin als Tante. Sie war ja nur ein paar Jahre älter als ich …«

Schweigend erreichten sie Chalk Farm, wo Thorne eine Reihe von Schleichwegen nahm, die er gut kannte, und schließlich auf die Kentish Town Road bog, gerade mal zwei Minuten von seiner eigenen Wohnung entfernt. Es hatte zu regnen begonnen, sodass sie noch schleppender vorankamen als gewöhnlich. Der dichte Verkehr hätte in jedem anderen Teil des Landes der abendlichen Rushhour Ehre gemacht.

»Ich hoffe, Sie verzeihen mir die Frage«, nahm Thorne das Gespräch wieder auf, »aber haben Sie irgendeine Vorstellung, was Philippa dazu gebracht haben könnte, sich das Leben zu nehmen?«

Erneut machte sich lähmende Stille breit. Die Spannung war greifbar. Thorne schaute in den Spiegel und sah, wie Ella mit ausdrucksloser Miene auf die langsam vorbeiziehenden Geschäfte und Passanten starrte, die mit grimmigen Gesichtern durch den Regen huschten. Als ein Fahrer vor ihnen hupte, zuckte Mary auf dem Beifahrersitz zusammen.

»Willst du es ihm sagen?«, fragte sie ihre Tochter. »Oder soll ich es tun?«

Ella reagierte nicht.

»Was denn?« Thorne wartete.

Die junge Frau auf der Rückbank schüttelte den Kopf. »Ich bin mir nicht sicher –«

»Komm schon.« Mary drehte sich zu Ella um. »Wir reden um den heißen Brei herum, seit wir erfahren haben, was passiert ist. Du weißt genauso gut wie ich, was Pip durchgemacht hat.« Sie schlug energisch auf die Rückenlehne ihres Sitzes. »Ella …?«

Ella blies die Wangen auf, ließ die Luft entweichen und beugte sich zu Thorne. »Es gab einen Mann, mit dem sie sich getroffen hat.«

»Ich wüsste ein paar passendere Bezeichnungen für ihn«, platzte Mary heraus.

»Es hat kein gutes Ende genommen.«

»Hat er sie sitzen gelassen?«, fragte Thorne.

Mary schnaubte. »So kann man es ausdrücken.«

»Pip war extrem unglücklich«, sagte Ella. »Die ganze Sache hat sie ziemlich hart getroffen.«

Mary drehte sich auf ihrem Sitz, sodass sie Thorne voll im Blick hatte. »Also, ich kann Ihnen nicht nur sagen, warum meine Schwester vor diesen Zug gesprungen ist, ich kann Ihnen auch den Namen des Mannes nennen, der dafür verantwortlich ist.«

Ein Herz und keine Seele

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