Читать книгу Ein Herz und keine Seele - Mark Billingham - Страница 5

ZWEI

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Sarah sitzt am Küchentisch, den sie eine Stunde zuvor gewachst und poliert hat, und betrachtet die Frau ihr gegenüber, die den Karottenkuchen verputzt, als hätte sie einen Monat lang nichts zu essen bekommen. Die Frau – Karen, wobei die erste Silbe wie car ausgesprochen wird – summt vergnügt vor sich hin und tupft sich den Mund mit einer der Servietten ab, die Sarah nach dem Polieren des Tischs extra noch gebügelt hat.

»Oh. Mein. Gott.« Die Frau lässt ihre Hände flattern, als hätte der einzigartige Geschmack sie vorübergehend der Kontrolle über ihre Gliedmaßen beraubt.

»Schön, dass er Ihnen schmeckt.«

Die Frau schluckt. »Haben Sie den selbst gemacht?«

Manche Dinge sind es nicht wert, dass man ihretwegen schwindelt. »Sainsbury’s, fürchte ich. Ich wünschte, ich hätte Zeit zum Backen.«

»Wem sagen Sie das.« Der Blick der Frau fällt auf den in einer Ecke zusammengeschobenen Haufen mit Legosteinen und die herumliegenden DVDs: Dino Man und Coco – Der neugierige Affe. »Der Tag hat nur vierundzwanzig Stunden, stimmt’s?«

Sarah nickt lächelnd, doch für einen kurzen Moment hat sie so etwas wie Missbilligung in der Miene der Frau entdeckt. Eine Grimasse, die sie nicht ganz unterdrücken konnte und die zu sagen schien, dass es – Stress hin oder her – für Schludrigkeit einfach keine Entschuldigung gibt.

Vor allem, wenn man Gäste hat.

»Es ist lächerlich, oder?« Die Frau streicht sich die Haare aus dem Gesicht und pickt dann die Krümel von ihrem Teller. »Man setzt die Kinder ab, dann gleich zurück ins häusliche Chaos, mit Glück ein schnelles Mittagessen. Und ehe man weiß, wie einem geschieht, ist es schon wieder Zeit, die kleinen Plagegeister abzuholen.«

»Ist schon schwer genug, wenn man nur einen davon hat.«

»Klar, natürlich.« Die Frau leckt sich die Finger ab. »Ganz zu schweigen vom Hund, den man bei Wind und Wetter ausführen muss …«

Sarah nickt und nimmt einen Schluck Kaffee.

Über die Hunde haben die beiden sich kennengelernt, vor vierzehn Tagen oder so, im Park am Ende der Straße. Sarah schleifte ihren dummen alten Mischling um den See herum und begegnete dabei Karen, die mit großem Getue ihren kläffenden Cockapoo ausführte. Die Hunde beschnüffelten gegenseitig ihre Hinterteile, während die Frauen sich auf zivilisiertere Weise bekannt machten.

Ja, es ist wirklich schön heute, nicht wahr? Ich wünschte nur, die Stadt würde sich um den Müll kümmern und um die Jungs, die auf den Bänken Gras rauchen. Allein der Geruch. Ach du Scheiße, Monty jagt schon wieder den Enten nach, ich werd mal lieber rennen …

Am nächsten Tag noch ein bisschen mehr Geplauder, ein paar gemeinsame Spaziergänge, und jetzt sitzen sie hier.

Kaffee und Kuchen, alles wunderbar.

»Ich glaube, meine beiden sind ein bisschen älter als Ihrer, oder?«

»Ja, er ist erst sechs.«

»Oh, tut mir leid, ab da wird’s nur noch schlimmer. Dreckige Fußballklamotten in sämtlichen Zimmern, die Hausaufgaben und was weiß ich noch alles. Können Sie sich drauf freuen.«

Sarah lacht und verdreht die Augen, weil es ihr passend erscheint. »Wo gehen Ihre zur Schule?«

»St Mary’s. Ich glaube, die ist sehr gut. Sie sollten Ihren Jungen dort rechtzeitig anmelden.«

Karens Kinder gehen nicht auf dieselbe Schule wie Jamie. Es wäre ihr ein wenig unangenehm gewesen, aber sie wäre damit zurechtgekommen. Solche Situationen hat sie schon mehrmals erlebt und sie irgendwie immer gemeistert. Improvisieren ist inzwischen eine ihrer Stärken.

Die Frau hat sich ihr Handy geschnappt und scrollt eifrig herum. Ohne den Blick vom Display zu nehmen, greift sie nach ihrer Handtasche und sagt: »Gott, in einer Stunde muss ich sie abholen, es wird Zeit.« Sie hebt den Kopf und lächelt. »Es war wirklich schön, Sarah.«

»Hat mich gefreut, dass Sie kommen konnten.«

»Nächstes Mal bei mir, ja?«

»Wunderbar.« Sarah lacht. »Und keine Sorge, ich erwarte keinen selbst gebackenen Kuchen.«

Die Frau fällt in ihr Lachen ein, und es klingt wie ein kratziges Bellen. »Gut, Sie werden auch keinen bekommen.« Dann steht sie auf und wirkt so selbstzufrieden, als sei ihr gerade eine wunderbare Idee gekommen. »Warum kommen Sie stattdessen nicht einfach zum Abendessen? Sie wissen schon, Sie und Ihr …«

»Ich habe keinen Irgendwas«, erwidert Sarah.

»Oh, ach so.«

»Geschieden.« Sarah nimmt den leeren Teller der Frau und stellt ihn auf ihren eigenen. »Auf der Suche.«

»Na, ich hoffe, Sie haben Ihren Ex um den letzten Penny gebracht.« Die Frau schaut sich um. »Schätze, das haben Sie.«

»Ich habe mein Bestes gegeben«, sagt Sarah.

»Wie auch immer.« Karen nimmt ihren Mantel und geht Richtung Tür. »Kaffeetrinken ist auch schön. Für mich jedenfalls, wenn Sie einverstanden sind.«

Sarah lächelt.

Natürlich, denkt sie. Man kann eine einsame alleinstehende Frau doch nicht zum Abendessen einladen, oder? So was sollte man tunlichst vermeiden. Es wäre für alle Beteiligten bloß unangenehm und peinlich.

»Dann bis bald im Park.«

»Auf jeden Fall«, sagt Sarah.

»Ich bin die, die einem renitenten Cockapoo hinterherläuft und haufenweise Scheiße aufsammelt.«

Sarah macht einen Schritt auf sie zu, doch die Frau wedelt gnädig mit der Hand und legt sie dann ihrer Gastgeberin auf den Arm. »Seien Sie nicht albern, ich finde schon allein raus. Ich lasse Sie in Ruhe aufräumen.«

Den Weg zur Schule würde sie wahrscheinlich im Schlaf finden. Links auf die Hauptstraße, dann der Schleichweg zur U-Bahn-Station und geradeaus an den vornehmen Häusern vorbei, an der kleinen Wiese und dem überteuerten Lokal, im dichten Verkehr, in dem sie alle paar Hundert Meter zwischen überdimensionierten SUVs zum Stehen kommt.

Ein bisschen schämt sie sich wegen ihres Kleinwagens.

Das Parken in Brooklands Hill ist jedes Mal die Hölle. Die wütenden Gesten und das unablässige Hupen, mit denen ein Bataillon schwarz glänzender Chelsea-Traktoren um einen Parkplatz möglichst nah an der Schule kämpft. Sarah hat keine Lust darauf. Hin und wieder schießt jemand, der nicht weiß, wie man einen Blinker betätigt, gerade im richtigen Moment aus der idealen Parklücke hervor, doch Sarah fährt weiter und überlässt sie dem Wagen hinter ihr. Viel lieber parkt sie in einer der etwas weiter entfernten Straßen.

Sie stellt den Wagen ab, geht die Strecke in ein paar Minuten zurück und winkt auf dem Weg zur Schule ein oder zwei bereits wartenden Eltern zu. Eine Frau namens Savita spricht sie sofort an.

»Schon wieder die verdammten Läuse.«

»Oh Gott. Arjun?« Sarah kann sich die Namen der anderen Kinder gut merken.

»Bisher noch nicht, ist aber nur eine Frage der Zeit. Anscheinend gehen sie um. Am besten schaust du dir Jamie mal gründlich an.«

»Das mach ich.«

»Mir wird schon übel, wenn ich nur daran denke.«

»Vielleicht betrifft es nur eine Klasse.«

»Keine Chance. Die breiten sich aus wie die verdammte Pest …«

Inzwischen ist Heather – eindeutig eine der netteren Mütter – eingetroffen, gleich danach kommt David, ein alleinerziehender Vater. Alle begrüßen sich mit Luftküssen, wie Schauspieler vor einer Premiere.

»Ich hab Sarah gerade erzählt, dass die Läuse umgehen«, sagt Savita.

David hat praktisch keine Zeit zu reagieren, da seine Tochter schon durchs Tor gerannt kommt, gefolgt von Savitas Sohn Arjun.

Sarah schaut an ihnen vorbei zur Schule und schüttelt den Kopf. »Lässt sich mal wieder Zeit.«

Sie und Heather verabschieden sich von David und Savita, die ihre Kinder zu den Autos bugsieren. Kaum sind sie weg, rauscht eine Frau namens Caroline heran, schick zurechtgemacht wie immer. Wenn Sarah Zeit hat, gibt sie sich vor dem Aufbruch zur Schule ein bisschen Mühe mit ihrem Äußeren, aber mehr als Schminken und Ugg-Boots kommt nicht infrage. Caroline beginnt schon zu reden, ehe die anderen auch nur Hallo sagen können.

»Dieses dämliche Meeting hat wieder länger gedauert. Das macht mich wirklich sauer, die wissen doch, dass ich losmuss.«

»Keine Panik«, sagt Sarah. »Jacob ist noch nicht rausgekommen.«

»Außerdem hab ich noch einen ganzen Berg Papierkram abzuarbeiten, wenn ich nach Hause komme.«

Caroline ist ein klein wenig selbstverliebt, sie kann gar nicht aufhören, von ihrem anspruchsvollen Job als persönliche Assistentin von diesem oder jenem zu reden, davon, dass sie es gerade so schafft, Karriere und Kind unter einen Hut zu bringen. Nach dem wenigen, was Sarah von ihrem Sohn Jacob mitgekriegt hat – er prahlt fast genauso gern wie seine Mutter –, ist der Apfel nicht allzu weit vom Stamm gefallen.

Heather zwinkert Sarah zu. »Das kommt davon, wenn man alles auf einmal will, Caroline«, sagt sie.

Sarah grinst Heather an. »Leb deinen Traum.«

Dann unterhalten sich Heather und Caroline über einen geplanten Quizabend in der Schule, zu dessen Vorbereitung sie sich haben breitschlagen lassen. Ein Mikrofon muss organisiert werden, das Catering und die Preise für die Gewinner. Sarah ist froh, dass sie damit nichts zu tun hat. Sie war noch nie der Typ für Feste, Spendenaktionen, Komitees und solche Sachen.

Was in Ordnung ist, denn die Menschen sind nun mal verschieden.

Auch wenn sie selten in einem Gespräch den Ton angibt, genießt Sarah diesen Teil des Tages, wenn sie hier vor dem Tor warten und mit einem Haufen anderer Eltern quatschen kann. Heather und Savita mag sie richtig gern. Und dann gibt es noch einen ziemlich attraktiven Dad, Alex, mit dem sie hin und wieder ein bisschen flirtet, und eine Frau namens Sue, die sie einmal in eine faszinierende Diskussion über die Aussagekraft von polizeilichen Führungszeugnissen verstrickt hat.

Eine bunte Mischung.

Die meisten sind freundlich, sie haben ihr das Gefühl gegeben, willkommen zu sein, als Jamie neu an die Schule kam. Auch wenn die eine oder andere – sie wirft einen kurzen Blick auf Caroline – ihr manchmal etwas … unangenehm erscheint, genießt sie das Geplänkel, die Lästereien und das alberne Geplauder.

Als sämtliche Aufgaben für den Quizabend verteilt sind, tritt Sarah zum Tor, wirft einen letzten hoffnungsvollen Blick in Richtung Schulgebäude und sagt: »Ich schätze, ich muss reingehen und ihn suchen. Mal wieder!«

»Mach dir nichts draus, meiner ist genauso«, muntert Heather sie auf.

»Schick Jacob raus, wenn du ihn siehst«, sagt Caroline, die mit ihrem Handy beschäftigt ist.

Von mitfühlenden Äußerungen begleitet, tritt sie durchs Tor und überquert den Schulhof. Sie lächelt den herauskommenden, dick in Mützen und Mäntel eingepackten Kindern zu, grüßt nickend verschiedene Lehrer, öffnet die Schultür und tritt ein.

Für einen Moment schließt Sarah die Augen.

Die Wärme und der Geruch.

Hier fühlt sie sich am sichersten, hier fühlt sie sich wie ein Teil von etwas.

Ein Herz und keine Seele

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