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VIER

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»Also dann«, murmelte Mary und öffnete die Tür zum Haus, in dem Philippa Goodwin gewohnt hatte. Der Regen hatte nachgelassen. Ella trat ein Stück vor und hängte sich bei ihrer Mutter ein. Dann gingen sie zusammen hinein.

»Warum ist sie den ganzen Weg bis Highgate gegangen?« Die Frage schien Mary besonders umzutreiben. Sie drehte sich um und streckte den Finger aus. »Gleich dort um die Ecke ist eine Haltestelle.«

»Ich schätze, das werden wir niemals erfahren«, sagte Thorne.

Sie wollte sich wahrscheinlich etwas Zeit verschaffen, um es sich doch noch anders überlegen zu können, dachte er. Oder um all ihren Mut zusammenzunehmen.

Als Mutter und Tochter die Post vom gefliesten Fußboden aufgehoben hatten, folgte er ihnen in die Diele. Eine Auswahl farbenfroher Hüte und Schals hing aufgereiht über einem großen Spiegel. Darunter lehnte ein glänzendes schwarzes Fahrrad an der Wand, das Schloss ordentlich aufgerollt im Korb. Thorne sah, wie Mary im Vorbeigehen über den Sattel strich.

In der Wohnung war es warm, und aus der Etage darüber war Folkmusik zu hören. Thorne glaubte, den Geruch von Karamell wahrzunehmen, oder von Vanille. Er schaute sich um und bemerkte auf einem niedrigen Tisch einen dieser gläsernen Raumduft-Diffusoren mit Stäbchen.

»Nur Werbung«, sagte Ella und ließ die Post auf den Tisch fallen.

Thorne wusste über Londoner Hauspreise eigentlich nur, dass sie aberwitzig hoch waren. Er fragte sich, wie eine Universitätsdozentin in der Lage gewesen war, sich eine solche Wohnung – das komplette Erdgeschoss eines großen Reihenhauses in Tufnell Park – zu leisten. Als sie ins Wohnzimmer traten, wusste Mary seinen Gesichtsausdruck einmal mehr zu deuten.

»Unseren Eltern ging es ziemlich gut«, erklärte sie. »Großes Haus in Hampstead und so weiter. Als sie starben, konnte ich mit dem Erbe die Hypothek abzahlen und Pip diese Wohnung hier kaufen.« Sie deutete mit dem Kopf auf ihre Tochter. »Und Ella konnte sich auch etwas zulegen.«

»Muss ja ein riesiges Haus gewesen sein, das Ihrer Eltern«, bemerkte Thorne.

»Eigentlich nicht.« Ella trat an eines der Fenster und zog ein Rollo hoch, hinter dem ein nicht allzu kleiner Garten zum Vorschein kam.

»Tatsächlich blieb am Ende immer noch eine Menge übrig«, sagte Mary. »Genug, damit wir alle etwas für schlechtere Zeiten zurücklegen konnten.«

Thorne nickte. Zur Not hätte das Familienvermögen der Goodwins wohl auch ein paar vergoldete Regenschirme hergegeben.

Ella ließ sich seufzend auf ein altmodisches Sofa fallen, eines von verschiedenen Möbeln, die auf lässig-kunstvolle Weise nicht zueinander passten. Seit sie von ihrer Erbschaft sprachen, wirkte ihre Miene nicht mehr kummervoll, sondern eher mürrisch. »Meine Wohnung ist übrigens nicht ganz so hübsch wie diese hier. Ich meine, sie ist ein bisschen größer, liegt aber in einem nicht ganz so schönen Viertel.«

Im Stillen fragte sich Thorne, warum so viele Leute mit Geld – vor allem die, denen es in den Schoß gefallen war – deshalb Verlegenheit oder gar Scham zu empfinden schienen und einem wortreich versicherten, dass es ihnen nichts bedeute, dass sie sich nicht über materiellen Wohlstand definierten.

Dass der Reichtum sie nicht verdorben hatte.

Er schaute sich um und warf hin und wieder einen Blick auf Ella.

»Wonach suchen Sie?«, fragte Mary.

»Ehrlich gesagt weiß ich das selbst nicht«, räumte Thorne ein.

Der Holzfußboden war fast komplett unter mehreren ausgeblichenen Teppichen versteckt, und an den Wänden hingen scheinbar wahllos zusammengewürfelt gerahmte Drucke, Bleistiftzeichnungen, mediterrane Landschaften, Plakate von Ausstellungen und Filmfestivals. Auf praktisch sämtlichen verfügbaren Flächen waren Zeitschriften verstreut, Bücher lagen neben einem zugestaubten Computer und füllten ein die ganze Raumhöhe einnehmendes Regal am Fenster. Er trat näher, um einen Blick darauf zu werfen. Von einzelnen Autoren hatte er gehört, aber nie etwas gelesen. Ein erkennbares Ordnungsprinzip schien es nicht zu geben – Belletristik stand neben Sachbüchern, gebundene Ausgaben neben Taschenbüchern. Unwillkürlich dachte er, dass mindestens eine Person, die er kannte, empört auf dieses willkürliche System, dieses Chaos reagieren würde.

»Er sucht nach einem Abschiedsbrief«, sagte Ella.

»Oh«, entfuhr es Mary. Sie nahm ihrer Tochter gegenüber auf einem alten Ledersofa Platz. »Ja, wahrscheinlich hat sie einen hinterlassen. So machen es die meisten, nicht wahr?«

Über einen Abschiedsbrief Philippa Goodwins wäre Thorne in der Tat ausgesprochen froh gewesen, hätte er doch ein paar Antworten gegeben. Doch er hegte keine große Hoffnung. »Nein«, sagte er, »das ist eher die Ausnahme«.

Tatsächlich hinterließ die Mehrheit derer, die sich das Leben nahmen, keine schriftliche Erklärung. Das gehörte zu den vielen Mythen über solche Fälle. Thorne wusste auch, dass die meisten Selbstmorde nicht in der Weihnachtszeit oder zwischen drei und vier Uhr morgens begangen wurden. Und dass sich zwar aufs Jahr gesehen mehr Männer als Frauen umbrachten, dass die Frauen es aber häufiger versuchten.

Er wusste, so dachte er, eigentlich viel zu viel darüber.

Thorne ging in den angrenzenden Raum und stellte fest, dass der leicht chaotische Zustand des Wohnzimmers in auffälligem Kontrast zur Ordnung in der kleinen Küche stand. Entweder hatte sich Philippa in den Tagen vor ihrem Tod zu Hause keine Mahlzeiten zubereitet, oder sie war der Überzeugung gewesen, dass Sauberkeit und Ordnung an manchen Orten wichtiger waren als an anderen. Ein schneller Blick ins Bad bestätigte die zweite Theorie.

In der Tür zum Wohnzimmer stehend bat er die beiden Frauen: »Erzählen Sie mir ein bisschen mehr über den Mann, von dem Sie im Wagen gesprochen haben.«

»Er heißt Patrick Jennings. Ich glaube, sie hat ihn vor ungefähr drei Monaten kennengelernt«, sagte Ella.

»Eher vor vier.« Mary beugte sich vor. »Im Pub, nach irgendeiner Uni-Veranstaltung.«

»Er machte einen netten Eindruck«, sagte Ella.

Mary schüttelte den Kopf.

»Jedenfalls am Anfang.«

»Dann sind Sie ihm mehrmals begegnet?«, fragte Thorne.

»Ja, Pip zeigte ihn gern herum«, sagte Mary. »Sie war vorher ziemlich lange allein.«

»Er war charmant.« Ella schaute zu ihrer Mutter hinüber. »Das musst du zugeben. Ich meine, ich kann verstehen, was Pip an ihm gefiel. Ein richtiger Silberrücken, hat sie gesagt.«

Mary verzog den Mund. »Ja, er … ist auf elegante Art ergraut.« Sie sprach mit offenkundiger Abscheu, als würde sie eigentlich etwas sagen wie krankhaft adipös, mit dem Atem eines syphilitischen Hundes.

»Wahrscheinlich haben Sie kein Foto von ihm?«

Ella verneinte.

»Ich hatte den Eindruck, dass Patrick sich nicht gern fotografieren ließ«, sagte Mary. »Ich wollte ein Bild machen, als Pip und er einmal zum Abendessen kamen. Ich weiß noch, dass er nicht begeistert war.«

Ella nickte. »Manche Menschen sind einfach so.«

Thorne spürte ein Kribbeln im Nacken, für einen kurzen Moment schien ihm etwas über die feinen Härchen zu streichen.

»Aber ich bin sicher, dass es auf Pips Handy ein paar Fotos von ihm gibt. Haben Sie das Handy noch?«

Thorne nickte und erinnerte sich an den Anblick des Telefons in Challs Plastikbeutel, an das blutverschmierte Display. Er wusste nicht, ob das Gerät überhaupt noch funktionierte, und selbst dann war es wahrscheinlich gesperrt. Er nahm sich vor, einen Kollegen aus dem Technikerteam zu bitten, es für ihn zu checken, bloß um seine Neugier zu befriedigen.

»Was glauben Sie, warum er mit ihr Schluss gemacht hat?«

»Er hat nicht Schluss gemacht«, sagte Ella. »Er hat sie geghostet.«

Thorne hatte den Begriff schon einmal gehört, doch Mary schien verwirrt.

»Er ist irgendwann einfach verschwunden und hat jeglichen Kontakt abgebrochen.« Ella beugte sich zu ihrer Mutter. »Er hat keine Anrufe oder SMS mehr beantwortet, so als hätte er nie existiert. Wie ein Geist, Mum.«

Mary nickte. »Verstehe. Na, egal wie man es heute nennt, es war auf jeden Fall ein Schock. Gerade noch sind er und Pip ein Herz und eine Seele und reden davon, zusammen eine Firma gründen zu wollen. Und im nächsten Augenblick habe ich sie weinend am Telefon.«

Wieder spürte Thorne dieses Kribbeln. »Was für eine Firma?«

»Etwas mit Computern, glaube ich.« Ella schaute zu ihrer Mutter hinüber. »Videos?«

»Unterrichtsmittel«, erklärte Mary. »Sie wollten Vorlesungen online stellen, damit die Studenten sie sich anschauen können. Pip hielt es für eine tolle Idee.«

»Die Idee ist ja auch wirklich gut«, sagte Ella. »Schade nur, dass sie sich getrennt haben, bevor sie richtig loslegen konnten.«

»Ja, schade.« Mary wartete, bis Ella sich abgewandt hatte, dann schaute sie Thorne an und riss die Augen auf, als wolle sie wortlos einen Verdacht zum Ausdruck bringen, dem ihre Tochter sich offenbar nicht stellen wollte. »Ich schätze, wir sollten anfangen zu überlegen, was wir mit all den Sachen anfangen.« Mary warf einen Blick ringsum und klammerte sich an ihre Handtasche. Plötzlich standen ihr die Tränen in den Augen. »Pip hatte so viel Zeug …«

Thorne erklärte, er werde sie natürlich gern nach Hause fahren. Er wolle im Auto warten und sie für ein paar Minuten allein in der Wohnung lassen.

»Das ist sehr nett«, sagte Mary.

Thorne schloss die Tür hinter sich und ging schnell zum Wagen, da der Regen jeden Moment wieder stärker zu werden drohte. Noch im Gehen wählte er Nicola Tanners Nummer.

»Kannst du mir einen Gefallen tun?«

»Sag mir erst, worum es geht«, erwiderte Tanner.

»Würdest du für mich einen schnellen Blick auf Philippa Goodwins Finanzen werfen? Kontoauszüge, Kredite, was auch immer.«

»Der Selbstmord?« Tanners Tonfall erinnerte ihn an den von Chall am Tag zuvor. Sie wollte wissen, warum Thorne einem Todesfall nachging, dessen Untersuchung ihn, streng genommen, nichts anging.

»Es wird dich keine fünf Minuten kosten«, sagte Thorne.

»Wie viel Zeit es mich kostet, ist mir schon klar«, erwiderte Tanner. »Aber das ist nicht der Punkt, oder?«

»Ich war bloß gerade in ihrem Haus, und –«

»Gibt es ein Problem, Tom?«

»Eigentlich nur mit der Ordnung in ihrem Bücherregal.« Thorne entriegelte den BMW. »Du würdest einen Nervenzusammenbruch kriegen.«

Ein Herz und keine Seele

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