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FÜNFZEHN

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Als Thorne das Krematorium leise durch die Hintertür betrat, hatte die Zeremonie schon begonnen. Vorsichtig schloss er die Tür und nahm Platz. Vom leeren Stuhl neben ihm nahm er ein Faltblatt mit den Texten und Liedern des Gottesdienstes und starrte das Foto der jungen Frau auf der ersten Seite an, wie es schien, war es während ihrer Studentenzeit aufgenommen worden. Das passende Klischee drängte sich auf und ließ sich nicht beiseiteschieben: Das ganze Leben lag noch vor ihr.

Thorne blätterte um und überflog den Inhalt.

Es handelte sich um eine humanistische Zeremonie, Thorne sah, was er verpasst hatte: Nachdem der einfache Holzsarg zu den Klängen von REMs »Everybody Hurts« hereingetragen worden war, hatte die Leiterin der Zeremonie ein paar einleitende Worte gesprochen. Dann hatten Freunde der Verstorbenen ihr zu Ehren »Amazing Grace« zum Besten gegebenen.

Thornes Gedanken blieben beim REM-Song hängen. War er nicht für jemanden geschrieben worden, der über Selbstmord nachdachte? Vielleicht hatte Philippa Goodwin das Lied einfach gemocht. Vielleicht war es ausgesucht worden, ohne dass jemand bewusst auf den Text geachtet hatte. Oder Philippas engste Freunde hatten genau gewusst, wovon der Song handelte, und es nicht für nötig befunden, die Wahrheit zu beschönigen.

So oder so, er mochte das Lied, sie hätten, weiß Gott, Schlimmeres auswählen können.

»Going Underground« von The Jam zum Beispiel.

Während die Leiterin der Zeremonie – eine permanent lächelnde Frau mittleren Alters – ihre Ansprache hielt, blickte Thorne sich um. Von ein paar leeren Reihen ganz hinten abgesehen war es voll, er schätzte hundert Trauergäste. Aber das war nach Thornes Erfahrung oft so, wenn Menschen zu früh oder unerwartet starben. Mit dem Alter schrumpfte der Bekanntenkreis, nur die langjährigen Freunde und Verwandten blieben übrig. Thorne reckte den Hals, in der ersten Reihe sah er Mary und Ella Fulton, daneben einen Mann, bei dem es sich vermutlich um Marys Ehemann handelte, und ein älteres Paar, Onkel und Tante vielleicht.

Während der Trauerrede waren immer wieder Schluchzer zu hören.

Nachdem die Frau ihre Gedanken zu Leben und Tod beendet hatte – ohne den freiwilligen Abschied vom Leben auch nur ein einziges Mal zu erwähnen –, trat Mary vor, um an ihre Schwester zu erinnern. Nervös an ihrer silbernen Halskette fingernd beschrieb sie eine Frau, die stets großzügig und lebendig gewesen war, die immer versucht hatte, in den Menschen das Beste zu sehen. An dieser Stelle hielt sie einen Moment inne, und Thorne konnte sich gut vorstellen, was ihr durch den Kopf ging. Wer ihr durch den Kopf ging. Anschließend las Ella ein Gedicht vor, das sie nur unter Mühen zu Ende brachte.

Viel besser, du vergisst und lächelst,

als dass du erinnerst und traurig bist …

Nach einer Minute des stillen Gedenkens wurde der Sarg dem Feuer übergeben, woraufhin sich der Raum langsam leerte. Das Schluchzen und Stühlerücken wurde weitgehend von einem klassischen Stück von Elgar übertönt, das Thorne überraschenderweise erkannte. Vermutlich hatte er es einmal in einem Werbespot gehört.

Draußen mischte er sich unter die Trauernden, die sich um die vor der Tür aufgereihten Blumenkränze drängten, um die Abschiedsgrüße zu lesen. In einem Krimi, dachte Thorne, wäre das hier wohl der Punkt, an dem einer der Grüße die Aufmerksamkeit des Ermittlers auf sich ziehen würde. Weil er eine kryptische Botschaft enthalten würde, von einem oder mehreren Unbekannten hinterlassen, die möglicherweise einen Hinweis auf die Umstände des Todesfalls geben konnte.

Natürlich entdeckte er hier nichts Derartiges.

Zu früh von uns gegangen.

Pip, wir vermissen dich.

Schlaf gut, meine Liebe.

Thorne wandte sich um und sah, dass Ella auf ihn zukam. Ohne wirklich zu wissen, warum, trat er ein Stück von den anderen weg, damit sie niemand hören konnte.

»Es ist wirklich nett, dass Sie gekommen sind.«

»Kein Problem.«

»Ist das … Ich meine, ist es üblich?«

Thorne hätte ihr keinen guten Grund für seine Anwesenheit nennen können. Als er sich entschlossen hatte, seinen Anzug auszugraben, war ihm der Gedanke durch den Kopf gegangen, dass Patrick Jennings höchstpersönlich vielleicht hier auftauchen würde. Auch mit dieser Art Soziopath – und einen solchen durfte man Jennings wahrscheinlich nennen – hatte er es schon zu tun gehabt. Natürlich war ihm praktisch auf der Stelle klar geworden, wie lächerlich der Gedanke war. Einer wie Jennings machte sich so schnell wie möglich aus dem Staub und hatte wahrscheinlich bereits sein nächstes Opfer im Blick.

Abgesehen davon hätte er sich schon verkleiden müssen, um nicht von Ella oder ihrer Mutter erkannt zu werden.

»Ich wollte einfach kommen.«

»Das ist wirklich schön.«

Sie wandten sich den Trauergästen zu, von denen die ersten sich schon auf den Weg zum Parkplatz gemacht hatten. Andere standen an, um der Humanist Society eine Spende zukommen zu lassen oder sich bei der Leiterin der Zeremonie zu bedanken. Mary und ihr Mann umarmten sich am Eingang.

»Darf ich Sie nach dem Song fragen?«

Verwirrt schaute sie ihn an.

»Der von REM …«

»Ich hab ihn ausgesucht«, sagte Ella.

»Ah ja. Ich hab mich bloß gefragt.«

»Pip hätte ihren Spaß gehabt, da bin ich sicher. Sie hasste sentimentalen Scheiß.« Kurz blickte sie zu Boden und schob die Spitze ihres schwarzen Schuhs in den Kies. »Was es noch lächerlicher macht, dass sie darauf reingefallen ist. Auf ihn reingefallen ist. Verstehen Sie, was ich meine?«

»Er muss ziemlich überzeugend gewesen sein«, sagte Thorne.

»Ja, das muss er wohl.«

»Ich schätze, wir können ziemlich sicher davon ausgehen, dass er so was nicht zum ersten Mal gemacht hat.«

Sie nickte und senkte die Stimme. »Haben Sie irgendwas herausgefunden?«

Thorne bemerkte, dass Mary sich ihnen genähert hatte und offenbar mit ihrer Tochter sprechen wollte. Sie nickte und lächelte Thorne an. Er hob grüßend die Hand.

»Ich bin mir nicht sicher, ob hier der richtige Ort ist …«

»Können wir dann vielleicht telefonieren? Ich wüsste gern, was der Stand der Dinge ist.«

»Natürlich.«

»Vielleicht können Sie auch einfach vorbeikommen, falls Sie nicht zu viel zu tun haben. Zum Tee oder wann immer es Ihnen passt. Haben Sie meine Adresse?« Sie öffnete ihre Handtasche und begann darin herumzuwühlen.

»Ich werde es finden«, sagte Thorne.

»Klar.« Ella blickte auf und trat lächelnd zurück. »So was gehört zu Ihrem Job, nicht wahr?«

Thorne drehte sich um und ging, wobei er dem Fahrer eines Leichenwagens zunickte, der gerade vorfuhr, um den nächsten Kunden abzuliefern.

Ein Herz und keine Seele

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