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ZEHN

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In letzter Zeit hatte Thorne sich beim Aufwachen häufig nicht ganz auf der Höhe gefühlt. Heute allerdings war es anders. Er hatte von seiner Mutter geträumt. Was nicht oft vorkam, und jedes Mal fühlte er sich anschließend … verletzt und ein wenig durcheinander. Jedenfalls hatte es nichts Tröstliches, wie man es bei einem Traum von einem verstorbenen Elternteil vielleicht erwarten würde. Auch hatten diese Träume von der Mutter, die er so sehr vermisste, nie etwas Angenehmes, an dem er sich nach dem Aufwachen festhalten konnte.

Dabei waren es an sich keine ungewöhnlichen Träume. Nichts, worüber er nachgrübeln oder was man vor einem Therapeuten ausbreiten würde, wenn er der Typ gewesen wäre, der mit so etwas seine Zeit vergeudete. Die Träume waren – wie auch seine sonstigen – ziemlich simpel: Erinnerungen an Dinge, die wahrscheinlich nie geschehen waren.

Alltäglich …

Ihre Stimme und ihr Geruch: Camay und Parma-Veilchen. Ihr Anblick im Garten, von seinem Schlafzimmerfenster aus. Ihr mit einem roten Tuch gebändigtes Haar.

Und trotzdem erwachte er unruhig und reizbar.

Dahinter steckten Schuldgefühle, vermutete er, auch wenn es ihm schwerfiel, sich das einzugestehen und es zu akzeptieren. Komplett irrationale Schuldgefühle, aber deshalb nicht weniger schmerzhaft. Vielleicht rührten sie daher, dass er nicht so oft von seiner Mutter träumte, wie er es seiner Meinung nach hätte tun sollen.

Nicht annähernd so oft.

Vielleicht war es ganz natürlich, dass er häufiger von seinem Vater träumte. Thorne hatte dessen schrecklichen Verfall miterlebt, der sich über Jahre hingezogen hatte. Er hatte zugesehen, wie die Alzheimer-Erkrankung den alten Mann in die Dunkelheit hinabgezogen, ihn in eine Welt hatte driften lassen, die Thorne nicht betreten konnte. Wenn er von seinem Vater träumte, war dieser stets so scharfsinnig und gedankenschnell, wie Thorne ihn als Kind erlebt hatte. Dann war er wieder der Vater und Thorne wieder der Sohn, ganz wie es sein sollte. Während dieser Träume hatte Thorne immer ein gutes Gefühl. Und wenn er aufwachte, war er traurig, weil sie so kurz, so flüchtig waren. Und wütend, dass sie ihm entrissen wurden. Nein. Die Schuldgefühle kamen nicht daher, dass er häufiger von seinem Vater als von der Mutter träumte. Sondern weil seine Träume von ihr so selten waren, während ihm andere so oft erschienen.

Von einem Mann namens Stuart Nicklin zum Beispiel träumte er häufiger als von seiner Mutter. Und auch von Francis Calvert und Arkan Zarif. Er träumte von Mördern und Vergewaltigern wie andere Menschen vom Fliegen oder vom Sex mit einer Berühmtheit. Von Männern, die hassten und anderen mit größter Selbstverständlichkeit wehtaten, die aufblühten, wenn andere Schmerz empfanden.

Von Monstern, wenn man an so etwas glaubte.

Während der Frau, die er verehrt und die ihn mehr geliebt hatte als irgendein anderer Mensch auf diesem Planeten, nur die Statistenrolle blieb.

»Alles in Ordnung, Tom?«

Thorne blickte von seinem Schreibtisch auf und sah, dass Tanner sich auf dem Stuhl gegenüber niederließ. Er brummte etwas in sich hinein und schaute wieder auf dasselbe Blatt Papier, das er schon eine Viertelstunde lang angestarrt hatte.

Er versuchte sich zu konzentrieren.

»Alles im grünen Bereich«, sagte er.

»Um ehrlich zu sein, hast du schon glücklicher auf mich gewirkt«, stellte Tanner fest. »Ich hab sogar Leichen gesehen, die glücklicher wirkten.«

Zumindest den letzten Punkt wollte Thorne nicht auf sich sitzen lassen. »Mir geht’s gut. Es ist bloß … Irgendwas Neues in der Goodwin-Sache?«

Die Sache. Kein Fall, noch nicht.

»Irgendwann im Laufe des Tages dürften wir mehr erfahren.«

Thorne schaute auf die Uhr. Es war noch nicht mal elf.

»Ich muss sagen, ich hatte bessere Laune erwartet. Bis jetzt läuft doch alles wie gewünscht. Wir wissen, dass die Kollegen eine Menge Fingerabdrücke und ein paar brauchbare DNA-Proben genommen haben, nicht?«

Etwas altes Blut im Bad, in dem sich Patrick Jennings beim Rasieren geschnitten haben könnte. Haare mit intakten Follikeln und Wurzeln, dazu trockene Hautschuppen. Außerdem war DNA von der Leiche Philippa Goodwins genommen worden, damit sie die beiden Profile unterscheiden und Jennings’ Probe dann mit der landesweiten Datenbank abgleichen konnten. Dasselbe galt für die Fingerabdrücke.

»Eigentlich«, fuhr Tanner fort, »wüsste ich nicht, warum du nervös werden solltest.«

»Ich dachte, du wärst auf meiner Seite.«

»Bin ich auch.« Tanner beugte sich vor und rückte den Ablagekasten für Thornes Posteingang gerade, indem sie ihn erst ein Stück in die eine Richtung schob, dann in die andere, bis sie zufrieden war. Dann lehnte sie sich wieder zurück. »Bis zu einem gewissen Punkt jedenfalls.«

»Nämlich?«

»Bis zu dem Punkt, an dem du aufhörst, realistisch zu denken.«

Die Forensiker waren vor beinahe achtundvierzig Stunden in Goodwins Wohnung in Tufnell Park geschickt worden, gleich nachdem Russell Brigstocke widerwillig sein Okay gegeben hatte. Thorne wusste, dass er bestenfalls überoptimistisch und dass sein ungeduldiges Warten auf ein Resultat unangebracht war. In manchen Fällen – Vergewaltigung war das Paradebeispiel – konnten DNA analysiert und Proben innerhalb von Stunden verglichen werden, um die Qualen für das Opfer abzukürzen. Wenn anzunehmen war, dass ein Leben auf dem Spiel stand, oder der Countdown bis zur Entlassung eines Mordverdächtigen lief, wurden alle Hebel in Bewegung gesetzt, doch solche Eile war in diesem Fall nicht angebracht.

Bei einem Selbstmord. Dem niemand besondere Dringlichkeit zumaß.

»Und mal davon abgesehen, was wir Russell erzählt haben, ist es ja nicht so, als hätten wir nichts zu tun. Ich sitze jedenfalls nicht rum und drehe Däumchen.«

Natürlich hatte Tanner recht, und Thorne war klar, dass auch er ausreichend Arbeit hatte. Er musste die Präsentation der Beweismittel für eine Gerichtsverhandlung in der nächsten Woche vorbereiten. Ein Mann wurde beschuldigt, seine Freundin erwürgt zu haben, behauptete aber, in Notwehr gehandelt zu haben. Seine Verteidiger hatten großspurig auf die oberflächlichen Schnittwunden an seinen Armen hingewiesen, bis sich herausgestellt hatte, dass sich auf dem Messer nur Fingerabdrücke des Beschuldigten befunden hatten. Außerdem war über Nacht ein verdächtiger Todesfall in einem Krankenhaus in Edmonton hereingekommen, dazu drei Messerstechereien unter Gangmitgliedern in Tottenham, zu denen er die Akten noch einmal durchsehen sollte.

Aber nichts davon ging ihm so unter die Haut wie diese Sache.

Patrick Jennings …

Er hätte nicht einmal sagen können, warum.

Und eigentlich wartete Thorne auch nicht mit vor Spannung angehaltenem Atem. Er wusste so gut wie Tanner, dass sie außerordentliches Glück haben mussten. Dass ein derart gewiefter und vorsichtiger Mann wie Jennings auf keinen Fall große Risiken eingehen würde, wenn es darum ging, seine Identität zu verbergen. Schließlich war Täuschung sein Leben, seine Einnahmequelle. Doch eine magere Chance war besser als gar keine. Vielleicht war er irgendwann festgenommen worden, weil er als Student einen Polizisten geschlagen oder weil er betrunken am Steuer gesessen hatte. So oder so wären mit ziemlicher Sicherheit seine Fingerabdrücke genommen worden und möglicherweise auch ein DNA-Abstrich.

Dann wäre er im System.

Da diese Chance aber tatsächlich mager war – mehr oder weniger anorektisch, wie Hendricks es ausgedrückt hatte –, würde Thorne sich etwas einfallen lassen müssen, um voranzukommen. Eine Strategie, die nicht davon abhing, dass er die Identität des Mannes kannte, und die ihm keine allzu großen Schwierigkeiten mit seinem Vorgesetzten einbringen würde.

Er brütete bereits über einer solchen Strategie, doch das Resultat war bisher exakt null.

Als Thorne aufblickte und sah, dass Tanner ihm immer noch gegenübersaß, sagte er: »Wie war das mit den Däumchen?«

Sie stand auf. »Ich wollte nur mal vorbeischauen, um zu hören, ob du Lust hast, morgen zum Abendessen vorbeizukommen.«

»Bei dir

»Warum nicht.«

»Na ja …«

Sie warf ihm einen finsteren Blick zu. »Ich mache Fortschritte. Ich meine, es gibt bloß Nudeln. Vorausgesetzt, du hast Zeit … ich meine, Samstagabend, da kannst du dich vor Einladungen sicher nicht retten.«

»Ich schaue mal in meinen Terminkalender.«

»Bist du immer noch …?«

Thorne verkniff sich das Ich wichse in ein tränennasses Kissen und sagte stattdessen: »… allein in meiner Wohnung, ja.« Tanner wusste, was zwischen ihm und Helen gelaufen war, und hatte sich wesentlich einfühlsamer gezeigt als Hendricks. Doch zu seiner Erleichterung hatte sie ihm seitdem nicht mehr allzu viele Fragen gestellt. Obwohl es, dachte Thorne, bei der Einladung möglicherweise genau darum ging. Nudeln und eine kleine Befragung, ganz nebenbei.

»Gegen halb acht«, sagte Tanner.

»Dann kann ich noch was essen, bevor ich komme.«

»Und es bringt nichts, alle fünf Minuten auf die Uhr zu schauen, dadurch kommen die Ergebnisse auch nicht schneller. ›Abwarten und Tee trinken‹, hat meine Mutter immer gesagt …«

Und Thorne erinnerte sich an seinen Traum.

Und das Schuldgefühl stieg ihm in die Kehle, plötzlich und sauer.

Nur gut, dass Tanner sich schon abgewandt hatte und auf dem Weg zur Tür war, sonst hätte sie sicher bemerkt, dass verglichen mit Thornes Miene sogar die meisten Leichen geradezu vergnügt wirken mussten.

Ein Herz und keine Seele

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