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SECHS

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Der Gesichtsausdruck von DCI Russell Brigstocke entsprach, inklusive Augenrollen und Stirnrunzeln, ziemlich genau seinen Erwartungen. Mit anderen Worten: Er war beeindruckend. Dasselbe Maß an Verwirrung hatte Thorne zwei Tage zuvor auf dem Bahnsteig in Challs Gesicht wahrgenommen. Er hatte es in Tanners Stimme gehört, als er sie nach dem Besuch in der Wohnung der Toten angerufen hatte. Jetzt aber hatte er es mit seinem direkten Vorgesetzten zu tun, und die ursprüngliche Verwunderung war einer ernsthaften Gereiztheit gewichen.

»Bestimmt habe ich hier irgendwo ein Wörterbuch«, sagte Brigstocke. Er öffnete mehrere Schubladen seines Schreibtischs, schob sie wieder zu und schüttelte dabei mit gespieltem Ärger den Kopf.

»Sir?« Wenn es darum ging, Ranghöheren durch die korrekte Anrede den gebührenden Respekt zu erweisen, verfügte Thorne nur über begrenzte Kapazitäten, die er in Notfällen wie diesem zum Einsatz brachte. Das Wort »Sir« war ihm noch nie leicht über die Lippen gekommen. Davon abgesehen war er sicher, dass Brigstocke seine Schleimerei längst durchschaut hatte.

Brigstocke knallte die letzte Schublade zu: »Vielleicht liegt es daran, dass ich ein bisschen schwer von Begriff bin, aber … ich wollte bloß nachsehen, ob ich wirklich weiß, was Mord bedeutet.« Er warf einen Blick hinaus Richtung Einsatzraum. »Denn das steht auf der Tür da draußen, oder irre ich mich?«

»Mord und Kapitalverbrechen –«

»Ich weiß, was da steht, Tom.«

»Eben«, sagte Thorne. Ihm war klar gewesen, dass er bei seinem Besuch in Brigstockes Büro überzeugende Argumente vorbringen musste. Deshalb gab er sich alle Mühe, seine eigene Gereiztheit in Schach zu halten und alles, was er vorzubringen hatte, so unbegründet es auch erscheinen mochte, möglichst vernünftig klingen zu lassen.

Genau deswegen hatte er Nicola Tanner mitgebracht.

Als Zugabe rang er sich ein weiteres »Sir« ab, und Tanner schloss sich ihm an.

»Und Suizid gilt schon seit langer Zeit nicht mehr als Verbrechen, auch nicht als schweres.«

»Er wurde 1961 entkriminalisiert«, sagte Tanner.

»Vielen Dank.« Brigstocke starrte sie an, schmallippig und alles andere als dankbar.

»Kommen Sie schon, Russell.« Thorne machte einen halben Schritt auf den Schreibtisch zu. »Es ist nicht der Selbstmord, über den wir hier reden. Es geht um diesen Betrüger, Patrick Jennings.«

»Oh, das ist mir klar, denn so überraschend es klingen mag, ich habe Ihnen zugehört. Und ich weiß auch, dass Sie mich immer dann Sir nennen, wenn Sie mir in den Arsch kriechen wollen, und Russell, wenn Sie mich um einen Gefallen bitten.« Brigstocke nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. »Allmächtiger …«

Thorne blieb stumm. Zahllose hitzige Wortgefechte hatten ihn gelehrt, dass es besser war, das Unwetter auszusitzen. Er hatte weit Schlimmeres erlebt. Ja, er und sein Chef waren etliche Male aneinandergeraten. Trotzdem kannte Thorne den DCI als anständigen und menschlichen Bullen, der fortwährend mit den Zwängen der Hierarchie rang. Der ständig gezwungen war, mit seinen Vorgesetzten Bullshit-Bingo zu spielen. Außerhalb der trostlosen grauen Mauern des Becke House waren er und Thorne trotz allem befreundet.

Mehr oder weniger.

Er wartete, bis Brigstocke seine Brille wieder aufgesetzt hatte. Dann warf er Tanner einen Blick zu.

Dein Einsatz …

Tanner trat an Thornes Seite und öffnete ihr Notizbuch. »Drei Wochen bevor sie sich umbrachte, überwies Philippa Goodwin 75000 Pfund von ihrem Sparkonto auf ein Konto der Firma LectureCom Ltd.«

»Jennings«, sagte Thorne.

Brigstocke zeigte keine Reaktion.

»Zwei Tage nach der Überweisung wurde dieses Konto aufgelöst und sämtliches Geld abgezogen«, sagte Tanner. »Wir schauen uns gerade die Daten an, die bei der Kontoeröffnung verwendet wurden, können aber relativ sicher davon ausgehen, dass gefälschte Ausweispapiere benutzt wurden. Damit werden wir also nicht weit kommen. Wir haben es mit einer dieser Onlinebanken zu tun, die nicht mal die Kreditwürdigkeit ihrer Kunden prüfen. Mit ein paar zweifelhaften Stromrechnungen zum Nachweis des Wohnsitzes und der Einzahlung von ein paar Hundert Pfund ist es getan. So ein Konto ist in wenigen Minuten eröffnet.«

Tanner steckte ihr Notizbuch ein. Jetzt war Thorne wieder an der Reihe.

»Also … Jennings, oder wie auch immer er wirklich heißt, nimmt eine Beziehung zu Philippa Goodwin auf, gewinnt ihr Vertrauen und überredet sie, all ihre Ersparnisse in eine nicht existierende Firma zu stecken.«

»So weit kapier ich’s«, sagte Brigstocke.

»Ich meine, wahrscheinlich hat er das eine oder andere investiert, damit alles koscher aussieht. Sie wissen schon, ein hübsches Logo, schickes Design, aber der ganze Rest: Schall und Rauch.«

Brigstocke schüttelte energisch den Kopf und lehnte sich zurück. »Schon klar, diesmal brauche ich kein Wörterbuch. Sie beschreiben mir da einen simplen Betrug. Und jeder Idiot mit einer Dienstmarke kann Ihnen erklären, dass wir ein sehr großes Team in einem sehr hübschen Büro haben, das sich tagtäglich mit solchen Fällen herumschlägt. Weil. Das. Sein. Job. Ist. Ein Anruf im Betrugsdezernat, und Ihr Job ist ebenfalls getan.« Sein Blick wanderte von Thorne zu Tanner und wieder zurück. »Soll ich Ihnen die Nummer raussuchen?«

Die Frage blieb unbeantwortet. Tanner schaute auf ihre Füße, die peinliche Stille wurde nur durch die Gespräche und das Lachen der Kollegen vor der Tür unterbrochen.

»Sie hat sich umgebracht, Russell«, sagte Thorne, als wüsste Brigstocke nicht längst Bescheid, als könnte seine Bemerkung noch etwas ändern, auch wenn er davon ausging, dass die Entscheidung längst gefallen war. Doch was blieb ihm übrig?

»Ja, das ist schrecklich.« Brigstocke beugte sich über seinen Schreibtisch. »Aber abgesehen von dem Betrug –«

»Seinetwegen. Wegen dem, was er getan hat, und den Gefühlen, die es in ihr ausgelöst hat. Er hat ihr alles genommen, er hat sie erniedrigt.« Thorne schaute zu Tanner hinüber. Sie nickte und schob offenbar ihre eigenen Zweifel beiseite, um ihn wie versprochen zu unterstützen. »Er hat sie mehr oder weniger vor diesen Zug gestoßen.«

»Ich denke, das ist ein bisschen übertrieben.«

»Da bin ich anderer Meinung.«

»Genau genommen ist es ziemlich übertrieben, und mit ›mehr oder weniger‹ brauchen Sie vor Gericht erst gar nicht zu erscheinen.«

Thorne drehte sich auf dem Absatz um, nahm sich einige Sekunden, um ein paar äußerst deftige Bemerkungen herunterzuschlucken, und wandte sich dann langsam wieder dem DCI zu. »Vor einigen Monaten kam in Birmingham ein ähnlicher Fall vor Gericht. Und Ende letzten Jahres irgendwo im Norden.«

»Newcastle«, soufflierte Tanner.

»Genau. Zwei Schwachköpfe aus diesen Selbstmord-Chatrooms. Beide kamen in den Knast, weil sie andere ermuntert hatten, die sich dann tatsächlich umbrachten. Sie hatten sie angestachelt, sie über die wirksamsten Methoden informiert oder was auch immer und sie provoziert, es zu tun.«

»Richtig«, sagte Brigstocke. »Aber soweit wir wissen, hat dieser Jennings nichts dergleichen getan.«

»Ich habe mit einer Bekannten bei der Staatsanwaltschaft gesprochen.«

»Ach, tatsächlich?«

Thorne hob eine Hand, um dem Anschiss zuvorzukommen, den er unweigerlich auf sich zukommen sah. »Einfach bei einem Drink, okay? Nichts Offizielles. Jedenfalls glaubt sie, dass, wenn wir ihn schnappen, es genug Gründe dafür geben könnte, sein Verhalten in anderem Licht zu betrachten. Sie sagt, wir müssten nachweisen, dass er vorsätzlich gehandelt hat, was aber nicht allzu schwer sein sollte.«

»In welchem anderen Licht?«

»Nicht als einfachen Betrug, sondern als sorgfältig geplanten und systematischen emotionalen Missbrauch. Wenn wir ein paar freundliche Experten in den Gerichtssaal holen, die bezeugen, dass dieser Missbrauch bei Philippa Goodwins Entscheidung, sich umzubringen, eine entscheidende Rolle gespielt hat … dann haben wir eine Chance.«

»Was für eine Chance? Egal was die Staatsanwaltschaft aus dem Hut zaubert, Mord ist es sicher nicht.«

»Nein. Totschlag vielleicht? Ich weiß nicht …« Wieder warf Thorne einen Blick auf Tanner, doch ihre Miene ließ ihn gleich wieder wegschauen. »Diese Frau, mit der ich gesprochen habe, hat sich jedenfalls ziemlich in die Sache reingesteigert.«

Brigstockes Gesichtsausdruck war Thorne nur allzu vertraut. Verdruss, Erschöpfung und etwas, das – erfreulicherweise – nach Resignation aussah. Er seufzte. »Was wollen Sie genau?«

»Im Augenblick bloß ein paar Kollegen aus der Forensik, die sich Goodwins Wohnung anschauen, mehr nicht. Jennings dürfte ziemlich gut darin sein, sich unsichtbar zu machen. Wahrscheinlich hat er alle offensichtlichen Spuren verschwinden lassen. Aber was Fingerabdrücke und DNA betrifft, dürfte er keine große Chance gehabt haben. Und dann sehen wir, ob sich daraus etwas ergibt.«

»Und wenn nicht?«

»Dann schadet es jedenfalls nicht. Wie Sie gesagt haben: Wir geben alles ans Betrugsdezernat und überlassen den Fall den Kollegen.« Thorne wartete einen Moment. »Im Moment haben wir nicht allzu viel auf unseren Schreibtischen –«

»Im Moment.«

»… Und es versteht sich von selbst, dass, sollte ein großer Fall reinkommen, der natürlich Vorrang hat.«

»Selbstverständlich«, sagte Brigstocke. »Es sei denn, Sie sind zu beschäftigt damit, mit unseren Freunden von der Staatsanwaltschaft zu flirten und sich gegenseitig die Mordstatistiken vorzulesen.«

»Ich stehe mehr auf Happy Ends«, entgegnete Thorne. »Eine nette Liebesgeschichte oder so was.« Wieder waren direkt vor der Tür Stimmen zu hören. »Also, wie sieht es aus mit dem Forensikerteam?«

Der DCI murmelte ein paar deftige Kommentare vor sich hin, die trotz der Geräusche von draußen nicht zu überhören waren.

Thorne kannte Brigstocke gut genug, um das als ein Ja zu verbuchen.

Sobald sie zurück im Einsatzraum waren, fragte Tanner: »Und, wer ist diese Frau von der Staatsanwaltschaft?«

»Hab ich nicht von ihr erzählt?«

»Nein.«

»Wahrscheinlich, weil ich sie erfunden hab.«

»Um Himmels willen.«

»Ich musste mir was aus den Fingern saugen. Na ja, ehrlich gesagt hab ich heute Nacht im Bett schon drüber nachgedacht, aber du weißt, was ich meine.«

»Klar.« Tanner verschränkte die Arme. »Und was passiert, wenn das alles durch irgendein Wunder zu einem Resultat führt und Brigstocke dich bittet, dich mit deiner Freundin bei der Staatsanwaltschaft in Verbindung zu setzen?«

»Dann wurde sie eben pensioniert oder gefeuert. Oder ist gestorben.« Thorne zuckte die Achseln. »Mir fällt schon etwas ein.« Er lächelte, erkannte aber schnell, dass Tanner sich nicht um den Finger wickeln lassen würde. »Komm schon, Nic, das wird schon.«

Tanner drehte sich um und ging. Thorne machte ein paar halbherzige Schritte hinter ihr her, gab dann aber auf. Von einem Schreibtisch in der Nähe warf ihm Dipak Chall, der das Gespräch verfolgt hatte, einen fragenden Blick zu. Thorne schüttelte den Kopf.

Machen Sie weiter, hier gibt’s nichts zu sehen.

Er würde später mit ihr reden.

Als Thorne Nicola Tanner kennengelernt hatte, war sie von ihrem Job genauso angepisst gewesen wie sämtliche Kolleginnen und Kollegen, die er kannte. Sie hatte gewirkt, als hätte sie die Vorschriften, auf deren Befolgung sie so großen Wert legte, höchstpersönlich erfunden. Und als wäre die Vorstellung, einen Vorgesetzten hinters Licht zu führen, für sie genauso abwegig wie die Annahme von Bestechungsgeld. Oder Sex mit jemandem, der einen Penis hatte.

Inzwischen allerdings arbeiteten sie seit fast einem Jahr zusammen, und die Dinge hatten sich ein wenig verschoben. Manchmal redete Thorne sich ein, dass Tanner ihre etwas entspanntere Einstellung zu den Vorschriften ihm zu verdanken hatte, dass sein schlechter Einfluss hilfreich gewesen war. Hin und wieder machte sie sogar selbst Andeutungen in diese Richtung. Dabei wussten sie beide, dass es nur eine willkommene Ausrede war.

Und nicht so unbequem wie die Wahrheit.

Der Mord an Tanners Partnerin Susan hatte sie auf eine Art und Weise verändert, die Thorne erst sieben Monate zuvor, während des dramatischen Höhepunkts eines Falls, klar geworden war. Ein verdammt blutiger Tatort und ein Vorfall, über den sie seitdem kaum gesprochen hatten, hatten sie zusammengeschweißt.

Lügen und Gesetzwidrigkeiten – Blut – bestimmten seither jeden gemeinsamen Augenblick und ließen Tanner ein wenig bereitwilliger reagieren, wenn Thorne sie mal wieder um einen Gefallen bat.

Was diesen speziellen Gefallen in Brigstockes Büro betraf, hatte Thorne ihre Zweifel gespürt, auch wenn sie seiner Bitte Folge leistete und ihre Rolle perfekt spielte: die Vernünftige, die Beamtin, der die Vorgesetzten vertrauen konnten. In Wahrheit hatte Thorne sich tatsächlich etwas aus den Fingern gesogen und zweifelte ebenso wie Tanner daran, dass sie Patrick Jennings jemals für etwas anderes drankriegen würden als für seine Finanzdelikte.

Und doch wusste er, dass er ihn schnappen wollte.

Er kehrte in sein Büro zurück und dachte an den Leichensack und das verräterische Durchhängen, an Mary Fulton, die so nervös an ihrer Halskette herumgespielt hatte.

Wobei das gestern natürlich kein Unfall war …

Ja, er musste ihn schnappen.

Er wollte dabei sein, wenn Patrick Jennings, oder wie auch immer er in Wirklichkeit hieß, zu einer möglichst langen Haftstrafe verurteilt wurde. Er wollte zuschauen und ihm zum Abschied winken, wenn der Mann, den er für den Tod von Philippa Goodwin verantwortlich machte, von der Anklagebank geführt wurde, um so lange wie möglich von der Bildfläche zu verschwinden.

Das war Thornes Vorstellung davon, jemanden zu ghosten.

Ein Herz und keine Seele

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