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Max steht auf, zieht sich leise an, schleicht mit angehaltenem Atem aus der Wohnung. Erst auf der Straße wagt er normal zu gehen, normal zu atmen. Ein kühler Wind streicht durch die Äste der Bäume, treibt die Blätter über den Gehsteig. Etwas später steigt er die Treppen der Metrostation Villiers hinunter. Der Bahnsteig wie ausgestorben. Mitternacht ja schon vorbei. Ein Summen. Das Summen wird lauter. Gegenüber fährt eine Metro ein, fährt gleich darauf weiter. Ein paar Menschen verlassen den Bahnsteig. Max kratzt mit dem Nagel des Zeigefingers über die Kuppe des Daumens.

Er bemerkt ihn erst, als er direkt auf ihn zukommt. Der Mann mit Dreitagebart, brauner Lederjacke, auf dem Kopf eine Schiebermütze, hinter der die Haare leicht gelockt hervor wuchern, der Mann hat ihn ins Auge gefasst. Zu spät! Max kann nicht mehr ausweichen.

Dicht vor ihm bleibt der Mann stehen, fragt leise nach der Uhrzeit. Max versteht nicht, schaut nur verstört. Der Mann verneigt sich leicht und verschwindet im Korridor mit der Tafel «Ausgang».

«Reiß dich zusammen», befiehlt sich Max selbst. «Ein Mann in deinem Alter kann sich doch nicht einfach wegen eines Hirngespinsts aus der Bahn werfen lassen.»

Er steigt wie immer in «Sentier» aus. Er hat ganz zwangsläufig seinen Arbeitsweg gewählt. Kein Mensch zu sehen. Aus Pappschachteln am Straßenrand quellen bunte Stoffreste. Vor dem Hofeingang zu seiner Firma bleibt er kurz stehen, hastet weiter.

Beim Seitenausgang des Grand Rex bleibt er wieder stehen, ohne zu wissen, wer der Held ist, der überdimensional von der gemalten Kinoreklame auf ihn herunterschaut, er nimmt ihn gar nicht richtig wahr. Max geht zurück, biegt ab, erreicht nach ein paar Schritten den Place du Caire. Kairo … Vom Morgenland ist selbst in der Nacht nicht viel zu sehen. Trotz Sphinx, Hieroglyphen und Lotosblumen im Schein der Straßenlampen. An der Fassade von Nummer 2. Und reiner Zufall, dass sein Blick darauf fällt. Bereits vorbei, besinnt er sich. Wieder umkehren? Nein. Bereits vorbei. Leise lächelt er in sich hinein.

Hier war im Mittelalter ein Cour des Miracles, ein Hof der Wunder gewesen, hier ereignete sich jeden Tag neu das Wunder. Max erinnert sich, dies in seinem Reiseführer gelesen zu haben, der damals, während seines Praktikantenjahrs, sein treuer Kompagnon in den Straßen von Paris gewesen war. Jeden Morgen verließen Scharen von Krüppeln, von Blinden, Versehrten jeglicher Art den Hof, um in der Stadt zu betteln. Jeden Abend strömten sie zurück, warfen ihre Krücken, warfen ihre Binden, warfen ihre Holzbeine weg, soffen, schlemmten, feierten Orgien die ganze Nacht. Und das war das große Wunder! Da lohnte es sich, einer Heiligen eine Kerze anzuzünden. Ganze Schafe, Schweine und Rinder wurden am offenen Feuer gebraten, der Wein wurde fassweise angerollt und einmal angestochen, der Hahn nicht mehr zugedreht. Tausende von gut organisierten Landstreichern, Bettlern und kleinen Ganoven hatten hier ihren Unterschlupf, ihr Reservat, ihr Paradies. Sie wählten sogar ihren eigenen König. Die Polizei wagte sich nicht in das Gewirr der Gässchen, Passagen, Sackgassen, ein Labyrinth, das sehr leicht zu verteidigen und dessen Zentrum der stinkende, schlammige Hof war.

Träum nicht von der guten alten Zeit; einem Generalleutnant der Polizei gelang es schließlich, sie aus ihrem Bau zu verjagen, sie zu massakrieren, und wer noch nicht tot war, wurde gefoltert, bis er krepierte und die Zuschauer vor Freude und Grauen jauchzten.

Das Gewirr der Gässchen, Passagen, Sackgassen ist längst verschwunden, einfach abgerissen, wegrasiert, es entstanden andere Straßen, Passagen, mit Glasdach überdeckte Galerien, in denen sich, wie im ganzen Viertel von «Sentier», der Stoffgroßhandel niedergelassen hat.

Krüppel, Blinde, Versehrte jeglicher Art sind geblieben, geht Max durch den Kopf. Nur das große Wunder bleibt aus.

Er tritt durch das halboffene Gittertor in die um diese Zeit düstere Galerie du Caire, hat bereits die Hälfte der Passage hinter sich, als er erstaunt feststellt, in welch dunklen Gang er geraten ist. Glas. Auf beiden Seiten und über ihm. Glasscheiben. Er schaut zurück, späht vorwärts in die unbeleuchtete Galerie. Als er endlich den Ausgang, eine helle Scheibe am Ende des Tunnels, wahrnimmt, beschleunigt er seine Schritte. Das Gittertor ist geschlossen. Das Gefühl beschleicht ihn, in eine Falle geraten zu sein. Trotzdem nähert er sich, wenn auch langsamer. Das Tor lässt sich ohne Mühe aufstoßen. Max stolpert erleichtert hinaus auf einen kleinen Platz mit Bäumen. Zwischen den Schornsteinen ein zerbeulter Mond.

Die Gegend um Strasbourg St-Denis gilt nicht umsonst als verrufen, besonders in der Nacht. Das ist kein Hirngespinst. Selbst all die heiligen Straßennamen könnten nicht helfen.

Er geht weiter durch die enge Rue St-Foy mit ihren schiefen Häusern.

Plötzlich steht Max in einer Straße, in der für diese frühe Stunde noch außergewöhnlich viel Betrieb herrscht. Eine Autoschlange schleicht vorwärts, auf beiden Seiten strömen Menschen über den Gehsteig, hauptsächlich Männer. Die Damen lehnen sich an die Hauswände, stehen in schmalen Hoteleingängen Spalier, sitzen auf geparkten Autos und lassen lange Beine pendeln, tragen bis zu den Hüften aufgeschlitzte Röcke, hüllen sich nur in einen Pelz.

Und wie sie ihn locken, ihm zuflüstern! Er wechselt rasch die Straßenseite. An der nächsten Ecke streicht er um eine große Bar Tabac, linst so unauffällig wie möglich hinein. An der Theke drängt sich ein Volk von Nachtbummlern, Zuhältern, Huren.

Max biegt in die stille Rue St-Sauveur ein. Ein Mann stiefelt auf und ab. Als dieser Max erblickt, gibt er ein Zeichen. Was hat dies zu bedeuten? Max beschleicht erneut ein ungutes Gefühl.

Hinter einem geparkten Auto taucht eine Frau auf, zieht etwas unter dem Rock hoch. Max schaut erst in einiger Entfernung zurück. Das Paar ist verschwunden. Die Straße wird enger, eine düstere, mittelalterliche Dorfgasse. Hier liegt alles in tiefstem Schlaf! Nur eine einzige Heilige steht in der Ecke, eine Echte, aus Gips, in der Nische auf Höhe des ersten Stocks über einem geschlossenen Restaurant. «Plat du jour: Fricassée de poulet». Mit Kreide auf die Frontscheibe geschrieben.

Der traurige Gefährte, der alte Kumpel der Melancholie, der gute Gesell, eben noch mit einer Beule im Himmel oben, ist nicht mehr zu sehen.

Und was hat er, Max Berger, hier mitten in der Nacht verloren? Er kommt sich vor wie ein richtiger alter Knacker mit einem richtigen Knall, wie sie zu Tausenden durch Paris wandeln.

Es fing damit an, dass er in der falschen Metro saß. Aber er ist noch jung, jünger als viele andere! Da haben die paar weißen und die grauen Haare nichts zu bedeuten.

Am Straßenrand ein Peugeot, die rechte Vordertür weit offen. Niemand darin. Max schaut verwundert. Er hört ein sich näherndes Motorengeräusch. In seinen Augenwinkeln sieht er einen Kastenwagen der Polizei heranfahren. Es ist besser, wenn er von hier verschwindet. Zu spät! Zwei Polizisten springen auf die Straße.

Endstation Alpenparadies

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