Читать книгу Verschwörungen, Verschwörungstheorien und die Geheimnisse des 11.9. - Mathias Bröckers - Страница 12

Mulders Dilemma

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SIE stecken dahinter. Wenn Agent Fox Mulder die Augen aufreißt und seiner Partnerin, Agent Scully, einen verzweifelten Blick zuwirft – worauf diese vielsagend die schöne Stirn in Falten zieht – , dann wissen die Zuschauer von Akte X: SIE haben wieder zugeschlagen. Wer SIE genau sind, bleibt auch nach mehr als hundert Folgen der »Ungeklärten Fälle des FBI« im Dunkeln, aber dass irgendwer dahinter stecken muss, hinter all diesen mysteriösen Ereignissen – und nicht nur irgendwer, sondern eine machtvolle Struktur oder Organisation –, das ist klar. Zumindest für den Agenten Mulder. Denn der findet Beweise über Beweise, und da, wo keine zu finden sind, findet er Beweise dafür, dass sie vernichtet wurden. »Ein Paranoiker«, so William S. Burroughs, »kennt immer alle Fakten.« Der unermüdlich Fakten aufdeckende Agent Mulder wäre insofern der perfekte Paranoiker – und tatsächlich ohne die skeptische, erdgebundene Frau Dr. Scully an seiner Seite spätestens in Folge 3 im Irrenhaus gelandet. So aber wurde er zu einem der beliebtesten Fernsehhelden und die Akte X zu einer der weltweit erfolgreichsten TV-Serien der 90er Jahre. Ein postmoderner Don Quichotte, der nicht nur den alten aussichtslosen Kampf kämpft – in diesem Fall gegen die Windmühlenflügel mysteriöser Verbrechen und Vertuschungen –, sondern der auch weiß, dass die mit der Aufdeckung dieser Fälle beauftragte Agentur, und damit er selbst, ebenfalls ein Teil der Vertuschung sind. Insofern wird aus dem Puzzle, das Mulder und Scully zusammentragen, nie ein ganzes Bild und wenn, dann zeigt es nicht, wer SIE wirklich sind, denn SIE haben das Bild manipuliert. Nur eines zeigt sich wieder und wieder: dass es eine Große Verschwörung geben muss, die hinter alledem steckt.

»Paranoia ist nicht das Schlechteste, wenn man Freund und Feind nicht mehr auseinanderhalten kann. « (Christoph Spehr, Die Aliens sind unter uns!, München 1999)

Mulders Dilemma ist ein doppeltes: Einerseits hat sich die ganze Welt (einschließlich aller Geheimdienste, Militärs und möglicher extraterrestrischer Zivilisationen) gegen ihn und seine Ermittlungen verschworen – und diese Verschwörung ist so mächtig und universell, dass sie niemals aufgedeckt werden kann. Andererseits aber kann niemand, nicht einmal seine Vertraute Scully, seine verrückten Theorien widerlegen denn jeder Beweis gegen sie funktioniert gleichzeitig auch für sie. Zumindest für Mulder. SIE stecken wieder dahinter ... Nichts ist, wie es scheint – gegen derlei doppeltes Blendwerkkämpfen selbst Superhelden vergeblich.

»Wem es gelingt, dir falsche Fragen einzureden, dem braucht auch vor der Antwort nicht zu bangen«, heißt es in Thomas Pynchons großem Verschwörungsroman „Die Enden der Parabel“[6]. Für die Agenten der ausgehenden 90er ist diese fatale Erkenntnisfalle täglich Brot. Und es ist vielleicht kein Zufall, dass mit Mulder und Scully zwei Fernsehfiguren zu Superhelden wurden, die unentrinnbar in ein Spiegelgefecht von Wahrheit und Lüge, Manipulation und Realität verwickelt sind. Sie markieren das Ende der klassischen Aufklärung: dem Glauben, dass sich eine objektive Wahrheit, eine eindeutige Realität von außen erkunden lässt. Die Agentur, in deren Auftrag die beiden nach Wahrheit suchen, ist selber Teil des Problems – und wie der Beobachter in der Quantenphysik kann Mulder den Dingen nur auf die Spur kommen, indem er selbst Teil des Experiments wird.

Verschwörungen sind etwas so Allgemeines, Selbstverständliches, dass es dazu scheinbar gar keiner großen Erklärung bedarf. Dass A und B eine Absprache treffen, um sich gegen über C einen Vorteil zu verschaffen, gehört auf allen Ebenen des gesellschaftlichen und natürlichen Lebens zur alltäglichen Praxis – und ebenso alltäglich ist es, dass A und B, um ihren Vorteil gegenüber C zu vergrößern, diesen über ihre Absprachen im Dunkeln lassen. Mit dieser geheimen Absprache sind schon alle Ingredienzien einer Verschwörung komplett – ob in der Natur zwei Parasiten einander zuarbeiten, um einen dritten beim Beute machen auszustechen, ob im Geschäftsleben mit diskreten Absprachen die Konkurrenz ausgetrickst wird, ob in der Politik die Nachrichten– und Geheimdienste ihr eigenes Schattenreich errichten oder ob im Privatleben Klatsch und Intrigen an der Tagesordnung sind. Auch wenn es bis heute jede Menge Verschwörungstheorien, bloß keine allgemeine Theorie der Verschwörung gibt, so hat doch das Fernsehvolk von der Realität der Verschwörung eine ziemlich eindeutige Meinung.

Im September 1996 ergab eine Umfrage, die das Magazin George veröffentlichte, dass unter erwachsenen Amerikanern 74 Prozent – praktisch also drei von vier Bürgern – glauben, die US-Regierung sei regelmäßig in geheime und verschwörerische Aktivitäten verstrickt. Verwechseln diese zutiefst misstrauischen US-Bürger einfach nur Fernsehen und Realität? Auch wenn das Ergebnis einer solchen Umfrage in Deutschland, wo man der Obrigkeit traditionell eher mit Blauäugigkeit als mit Misstrauen begegnet, weniger drastisch ausfallen würde, sind diese drei von vier Durchschnittsamerikanern, die ihre Regierung ruchloser, verbrecherischer Aktivitäten verdächtigen, keineswegs alle verrückt oder paranoid. Dieselbe Studie ergab, dass nur 29 Prozent an Zauberkräfte glauben und ganze zehn Prozent davon überzeugt sind, dass Elvis Presley noch lebt. Ziemlich normale Zeitgenossen also – und doch hegen Dreiviertel von ihnen Ansichten über den Staat, wie sie noch vor hundert Jahren allenfalls von einer Handvoll Anarchisten und Berufszynikern vertreten wurden. Sie wissen sehr wohl zwischen Nachrichten und Akte X zu unterscheiden – doch sie ahnen, dass selbst die verrücktesten Fälle von Mulder und Scully nicht völlig fiktiv und auch die offiziellen Fakten der Nachrichten längst nicht mehr wahr sind. Dass die Parteien und Vater Staat für Demokratie und Gerechtigkeit sorgen und die Polizei dein Freund und Helfer ist: Derlei fromme Denkungsarten, wie wir sie noch auf der Schule lernten, müssen aus dieser Perspektive als hoffnungslos naiv gelten. Stattdessen zieht sich der Verdacht, von einer korrupten, kriminellen Clique regiert zu werden, durch das gesamte politische Spektrum und alle Schichten.

Politiker und Großkapital sind freilich nicht die einzigen, die einem derart massiven Vertrauensschwund ausgesetzt sind. Es gibt wohl kaum irgendeine Gruppe der Gattung Homo sapiens, die von einer anderen Gruppe nicht schon zum Objekt angstvoller Verdächtigungen und Vorwürfe gemacht worden wäre. Das reicht von Großgruppen wie Nationen, Rassen, Religionsgemeinschaften über Berufsklassen wie Gebrauchtwagenhändler, TV-Mechaniker oder Zahnärzte bis zur Straßengang oder dem Dorfclan nebenan. Das Verschwörungsdenken blüht – und es gibt weder ein Weltübel noch ein Lokalproblem, das sich nicht irgendeiner bestimmten Gruppe anlasten ließe. Historisch wurden zum Beispiel zuerst die Juden, später die Ketzer und danach die Hexen über lange Jahrhunderte als Inkarnation der Weltübel und »Antichrist« schlechthin betrachtet, nach der Französischen Revolution kamen dann die Freimaurer, Kapitalisten und Kommunisten sowie die Geheimdienste dazu. Hitler kombinierte zwei der beliebtesten Hassgruppen zur »jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung«, hetzte seine willigen Vollstrecker damit zum Weltkrieg und wurde zum schreckensreichsten Verschwörungstheoretiker des letzten Jahrhunderts. Seitdem sind Auswahl und Kombinationsmöglichkeiten potenzieller Hassgruppen noch viel größer geworden – und weil der menschliche Geist offenbar dazu neigt, alles, was er in eine bestimmte Perspektive rückt, in dieser Perspektive zu vergrößern, lässt sich das Böse im Prinzip überall entdecken. Man muss nur lange genug hinsehen.

Insofern überleben auch Verschwörungstheorien jede Kritik. Als populäre Dämonologie teilen sie diesen erhabenen Zustand mit ihrem klassischen Zwitter, der Theologie. Dass Gott überall ist, lässt sich mit wissenschaftlichen Experimenten ebenso wenig beweisen, wie man die These widerlegen kann, letztlich und allerletzten Endes übe das Böse doch die Kontrolle über die Welt aus. Hängen also die zahlreichen Zeitgenossen, die ihren Regierungen, Finanzämtern, Institutionen, Wissenschaftlern, Medien, kurz: allem und jedem misstrauen, nur einer Art materialisierten Aberglaubens an, der nicht mehr Teufel, Dämonen und Übersinnliches für alle Missgeschicke verantwortlich macht, sondern leibhaftige Personen oder Gruppen? Auch wenn jeder Verschwörungstheoretiker den Einwand von sich weist, dass es sich in seinem Fall um eine Glaubensangelegenheit handelt, und er sogleich Fakten, Dokumente, Beweise präsentiert, sind die strukturellen Parallelen zwischen altem Dämonenglauben und neuem Verschwörungsdenken nicht zu übersehen. Sie reduzieren eine komplexe, unbegreifbare Realität auf ein simples Ursache-Wirkung-Schema.

Verschwörungen, Verschwörungstheorien und die Geheimnisse des 11.9.

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