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Der äußere Schein trügt

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Für Robert A. Wilson, der in den 70er Jahren zusammen mit Robert Shea die zum Kultroman und Weltbestseller avancierte Verschwörungstrilogie „Illuminatus“[7] schrieb und unter dem Titel „Everything Under Control“ ein Kompendium der Konspiration vorgelegt hat[8], sind Verschwörungen als »ganz normale Fortsetzung ganz normaler Geschäfts- und Wirtschaftspraktiken mit ganz normalen Absichten« unserem Gesellschaftssystem »eingeboren«: »Im Prinzip«, so Wilson, »verhält sich jedes einzelne Individuum als Verschwörer, wie beim Poker.«

Wenn sich im Prinzip jedes Individuum als Verschwörer verhält und dies eine ganz normale Fortsetzung ganz normaler Geschäftspraktiken mit ganz normalen Mitteln darstellt Verschwörungen also etwas durch und durch Selbstverständliches sind –, warum gibt es dann in den meisten Ländern Gesetze dagegen? Weil es eben meist doch nicht so ganz normal und mit ganz normalen Mitteln zugeht.

Der Vorsitzende des Ausschusses für Terrorismus, Drogen und internationale Operationen, John Kerry, war entsetzt, als er bei der Untersuchung der Iran-Contra-Affäre 1992 aus den Akten erfuhr, dass der Geheimdienst CIA Drogen ins Land schmuggelte und die Narco-Dollars aus diesen Geschäften zur Finanzierung seiner Operationen verwendete:

»Was wir zuerst fanden, konnten wir einfach nicht glauben, nein, das ist einfach zu unglaublich. Ich glaube das nicht. Und dann wird es an einer anderen Stelle von jemandem erhärtet,Detail für Detail: die Macht des Narco-Dollars, der ganze Länder kauft und ganze Rechtsinstitutionen – auf beiden Seiten der Revolutionen – und der die Geopolitik in einer Weise ändert, mit der wir wirklich nichts zu tun haben wollen. Und das geschieht nicht nur in Mittelamerika, sondern es geschieht auch im Fernen Osten und es geschieht im Bekaa-Tal. Ist es wahr, oder ist es nicht wahr, dass nahezu alle politischen Gruppen, ob revolutionär oder nicht, Profite aus Drogengeschäften nutzten, um Waffen zu kaufen und ihre Operationen zu finanzieren?«[9]

Dass der Chef des Geheimdienstes CIA auf diese entsetzte Frage wahrheitsgemäß antwortet: »Ja, Sir. Da Ihr Senat uns die Gelder, die wir zur Stabilisierung unseres geopolitischen Einflusses in insgesamt 50 Ländern benötigen, niemals bewilligen würde, sind wir gezwungen, andere Einnahmequellen zu erschließen. Drogengeschäfte bieten sich wegen der hohen Profitraten da ebenso an wie der Waffenhandel, vor allem wenn wir beide Konfliktparteien damit beliefern ...« – mit einer solchen Antwort ist nicht zu rechnen. Nicht weil sie falsch wäre (zu den Punkt für Punkt erhärteten Details, die den Ausschussvorsitzenden Kerry sprachlos machten, sind mittlerweile viele weitere, sorgsam recherchierte Beweise hinzugekommen), sondern weil diese Wahrheit mit der nationalen Sicherheit kollidieren würde.

Hier berühren wir einen weiteren, für eine Theorie der Verschwörungstheorien wesentlichen Punkt: Es ist nicht in erster Linie der überforderte, zu naivem Sündenbockdenken neigende Bürger, der den Nährboden für das Wuchern von Verschwörungstheorien abgibt, es sind die von chronischer Paranoia befallenen Staaten und Machteliten. Oder anders ausgedrückt: Wenn heutzutage drei Viertel der Bevölkerung ihrer Regierung misstrauen, dann trauen die Regierungen ihrer Bevölkerung erst recht nicht mehr über den Weg.

Lauschangriff, Videoüberwachung, Urinkontrollen, »homeland security« sind nur einige aktuelle Stichworte. Darüber hinaus hat jeder Staat Gesetze gegen Verschwörungen und verfügt über Behörden und Sonderstäbe, die Tag und Nacht jeder Art von Subversion auf der Spur sind. Folgen wir dem englischen Historiker R. J. Blackburn[10] , dann sind Stämme, Nationen, Staaten ohne Geheimdienste gar nicht lebensfähig, weil es immer einen anderen Stamm gibt, von dem man sich abgrenzen oder vor dem man sich schützen muss, und weil auch im Inneren potenzielle Feinde, die am Stuhl der jeweils Herrschenden sägen, stets eine Bedrohung darstellen. Das Verschwörerische ist also nicht nur dem Wirtschaftsleben, sondern auch dem Leben der Staaten eingeboren – und dies sorgt für eine grausame Ironie: Der Hang zur Bekämpfung von Verschwörungen führt nicht zur Eindämmung konspirativen Verhaltens, sondern produziert und fördert es geradezu. Mulders Dilemma, dass die Agentur zur Aufdeckung von Vertuschungen selbst zur Vertuschung beiträgt, ist keine Einbildung, sondern Realität und sein Schlachtruf »Trau keinem« längst von der Wirklichkeit übertroffen – nicht von irgendeinem Phantasten, sondern einem der mächtigsten Staatsmänner des Jahrhunderts: Josef Stalin.

Stalin traute in der Tat nicht einmal mehr seinen engsten Mitarbeitern, und nach den mörderischen Säuberungsaktionen, mit denen er Mitte der 30er Jahre jede Opposition in Partei und Militär eliminiert hatte, trauten die verbliebenen Genossen ihm ebenfalls nicht mehr. Hinter jeder Kritik, jedem Widerspruch und noch hinter jedem kleinen Witz argwöhnte der Diktator eine Verschwörung – und so verlegten sich seine Mitarbeiter aufs Köpfenicken und Speichellecken. Niemand widersprach, als er sämtliche Nachrichten über eine bevorstehende deutsche Invasion als »fragwürdige Quellen« oder»britische Provokationen« abtat und seine Militärs anwies, nichts zu unternehmen. Noch nachdem die deutsche Wehrmacht innerhalb von zehn Monaten 3,2 Millionen Mann an der russischen Grenze zusammengezogen hatte, tat Stalin Berichte über eine bevorstehende Aggression als »grundlose Panikmache« ab. Sein Vertrauen in den Nichtangriffspakt mit Hitler war ebenso grenzenlos wie sein Misstrauen gegen innere Feinde und Desinformation – und seine Angst, in die Falle eines britischen Komplotts zu geraten. »Es gibt wenige Völker«, so ein Historiker des Zweiten Weltkriegs, »die vor einer anstehenden Invasion besser gewarnt waren als die Sowjetunion im Juni 1941.«[11] Dennoch schränkte Stalin nach dem Beginn der Invasion – am 22. Juni 1941 um 3.15 Uhr die Gegenmaßnahmen noch weitere acht Stunden ein. Notgelandete deutsche Aufklärungsflugzeuge wurden sogar repariert und mit vollem Tank zurückgeschickt. Bis zu diesem Zeitpunkt hielt Stalin den deutschen Angriff noch für eine Aktion eigensinniger oder von den Briten gesteuerter deutscher Generäle, die sich über Hitlers eigentliche Wünsche hinwegsetzten. Stalins haltlose Verschwörungstheorie hatte ihn dazu veranlasst, die reale Verschwörung gegen sein Land völlig zu ignorieren. So konnte der deutsche Generalstab in seinem Tagebuch festhalten, dass die Sowjetarmee in keiner Weise verteidigungsbereit war und »taktisch an der gesamten Front überrascht« wurde.

Hätte sich Stalin nicht die falschen Fragen eingeredet, sondern die richtigen zugelassen und rechtzeitig ein Bollwerk an seiner Westgrenze errichtet, wäre der Zweite Weltkrieg sehrviel anders verlaufen. Sein Verhalten offenbart einen weiteren Aspekt einer Theorie der Verschwörung: Die Verstrickung in Verschwörungstheorien kann die Wahrnehmung der Realität so stark beeinträchtigen, dass die wirkliche Gefahr einer Verschwörung völlig aus dem Blick gerät. Der isolierte Machtmensch im Kreml glaubte wirklich niemandem mehr, weder seinen Untergebenen noch den gleichlautenden Geheimdienstberichten aus aller Welt. Nur einem Menschen schenkte er noch Vertrauen, und die furchtbare Ironie der Konspiration dass der Versuch ihrer Eindämmung ihre Ausbreitung fördert – wird hier zum Aberwitz: Der einzige Mensch, dem der Paranoiker Stalin noch traute und dem gegenüber er nie sein Wort gebrochen hatte, war ausgerechnet Hitler.

»Der äußere Schein trügt«: Diese Grundregel des Verschwörungsdenkens hatte der sowjetische Diktator so verinnerlicht, dass er die Wolkenkratzer der deutschen Angriffsmaschinerie für potemkinsche Dörfer hielt – und Hitler für einen Ehrenmann. Über die Parallelen der beiden Großdiktatoren ist bereits viel geschrieben worden, die verschwörungstheoretische Sicht offenbart hier weitere interessante Aspekte. Ein wichtiger Grund, warum Stalin die Hitler-Gefahr übersehen konnte, war, dass er es schon mit einem leibhaftigen Gottseibeiuns und Urheber alles Bösen zu tun gehabt hatte: mit seinem ehemaligen Kampfgenossen Leo Trotzki, dessen Vasallen er auch nach Trotzkis Ermordung überall im Land am Werke sah. Für Stalin kamen alle Gefahren eher von innen, und diese von ihm stets befürchteten Verschwörungen machten ihn taub für alle Nachrichten über reale Verschwörungen von außen. Bei Hitler indessen lief es verschwörungstechnisch genau umgekehrt: Er benutzte und instrumentalisierte eine eingebildete Verschwörung von außen – die angeblichen Gefahren der jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung zum Aufbau eines realen Verschwörungssystems im Inneren und entfesselte den Weltkrieg. Und wie es so ist, in den seltsamen Schleifen des paranoiden Denkens, scheint er sich auf das Drehbuch und die Anleitung eben jener Verschwörungstheorie gestützt zu haben, zu deren definitiver Ausrottung er anzutreten vorgab: die Protokolle der Weisen von Zion.

Verschwörungen, Verschwörungstheorien und die Geheimnisse des 11.9.

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