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Im Namen des Staates

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Ähnlich wie bei den historischen Illuminaten, die angeblich erst nach ihrer offiziellen Auflösung richtig aktiv wurden, ist für viele heutige Verschwörungsexperten mit der Verurteilung oder dem Tod der Drahtzieher von P2 – der »Bankier Gottes« Roberto Calvi fand sich 1982 bekanntlich auf Mafia-Art selbstgemordet unter einer Londoner Brücke – deren Geschichte nicht beendet. Sie verweisen unter anderem auf Silvio Berlusconi, der 1978 als Bauunternehmer nicht nur ins Mediengeschäft einstieg, sondern zufällig unter der Mitgliedsnummer 1816 auch bei P2. Den Ausweis habe man ihm unaufgefordert zugeschickt, und er habe ihn gleich weggeworfen, behauptet Berlusconi heute. Wie glaubhaft das ist, mag daran gemessen werden, dass er seinen Aufstieg zum Medienmonopolisten Italiens vor allem zwei hohen Politfunktionären verdankt, die aufs Engste mit der P2 und der Mafia verbandelt waren: Bettino Craxi und Giulio Andreotti. Der Exsozialistenführer und der Exministerpräsident wurden wegen ihrer Verstrickung in mafiose Verschwörungen als Bauernopfer vor Gericht gebracht, obwohl sie, wie ein Kenner der Materie schreibt, nur getan hatten, »was vom Beginn des nachfaschistischen Italiens an der große Ziehmeister CIA jenseits des Atlantiks den italienischen Politikern aller Couleurs ans Herz gelegt hatte«[24]. Nämlich zur Abwehr der kommunistischen Weltverschwörung auf die von der CIA gelegten Verbindungen zur organisierten Kriminalität und zur Mafia zurückzugreifen. Also auf jene über die ehrenwerte Gesellschaft und den Vatikan führende Connection, auf der die amerikanischen Geheimdienste nach Kriegsende auch schon die ihnen nützlichen SS- und Nazi-Größen heimlich nach Südamerika geschleust hatten.

Die Struktur, die der P2-Skandal als einer der am besten dokumentierten Verschwörungsfälle der letzten Jahrzehnteoffenbarte, ist noch skandalöser, als es die einzelnen Fälle von Geldwäsche, Korruption und Terroranschlägen sind, für die P2-Mitglieder verantwortlich gemacht wurden. Alle diese Verbrechen geschahen nicht aufgrund von Aktivitäten einigerraffgieriger Krimineller, sondern auf Initiative, unter Beteiligung und Billigung amtlicher Institutionen. Sie geschahen Im Namen des Staates. So lautet der Titel eines Buchs, dessen Autor, Andreas von Bülow, man sicher kein paranoides Verhältnis zur Staatsmacht unterstellen kann – er war Bundesminister für Wissenschaft und Forschung und Staatssekretär im Verteidigungsministerium. Als im KoKo-Untersuchungsausschuss zur Kommerziellen Koordinierung in der DDR immer dann, wenn die Rede auf die schmutzigen Geschäfte derwestlichen Geheimdienste kam, gnadenlos abgeblockt wurde – weil die »innere Sicherheit« mal wieder nur durch Vertuschung der Verschwörung gewährleistet werden konnte –, begann der Abgeordnete von Bülow auf eigene Faust zurecherchieren. Das Ergebnis ist alarmierend, denn, so von Bülow: »Herausgekommen ist ein erschreckendes Gemälde der systematischen operativen Verschränkung geheimdienstlicher, also staatlicher Operationen mit dem organisierten Verbrechen, dem Drogenhandel und dem Terrorismus.[25]

Wenn die amerikanische Drogenverfolgungsbehörde DEA 75 Prozent aller großen Drogengeschäfte nicht weiterverfolgen kann, weil sie auf die schützende Hand der CIA stößt, wenn die im Geheimdienstslang so genannten »netten Hurensöhne der USA« wie der Iraker Saddam oder der Panama-General Noriega jahrelang mit Waffen und Schwarzgeld ausgehalten werden, um bei strategischem Bedarf dann als böse Dealer oder »Wiedergänger Hitlers« vorgeführt zu werden, wenn in nahezu allen Bürgerkriegen – ob in Nicaragua, in Ruanda, in Afghanistan oder im Nahen Osten – westliche Geheimdienste im Waffengeschäft tätig sind, wenn nur diese wenigen Beispiele der langen Liste zutreffen, die von Bülow dokumentiert hat, dann ist tiefes Misstrauen gegen unsere demokratischen und gar so menschenrechtskonformen Regierungen keine Paranoia, sondern durchaus angebracht. Es handelt sich hier nicht um Verschwörungstheorien, sondern um echte Nachrichten über tatsächliche Machenschaften, die nur kraft Autorität der paranoiden Staaten, die um ihre »innere Sicherheit« fürchten, im Schatten bleiben müssen. Insofern wundert dann auch nicht mehr, warum die Staats- und Regierungschefs bei ihren globalen Treffen sich meist über nichts Vernünftiges – zum Beispiel über ein Ende der Klimazerstörung durch die Industrienationen – einigen können, es jedoch fast jedes Mal zu einer gemeinsamen Erklärung zur Bekämpfung der internationalen Drogen- und Terrorismusgefahr reicht. Der Satan, den diese Teufelsaustreiber da mit Inbrunst zum neuen Weltübel ausrufen, stammt zum Großteil aus ihrer eigenen Produktion.

Dass die Geheimdienste der westlichen Staaten aufs Engste mit der organisierten Kriminalität und dem illegalen Waffen- und Drogenhandel verstrickt sind, diese Tatsache mag bestens belegt und hundertfach dokumentiert sein – zu einer Aufdeckung dieser Verschwörung wird es dennoch nicht kommen. Weil die Staaten um ihre »innere Sicherheit« fürchten, halten sie Staatsanwälte und Gerichte von der Verfolgung ab.

Sie verhalten sich damit ähnlich wie Stalin, lassen die realen Gefahren organisierter Kriminalität außer Acht und vertrauen weiterhin der Mafia, den Drogenkartellen und der Internationale des Waffenschmuggels und der Korruption.

Der konspirative Meister, den die braven Zauberlehrlinge der inneren Sicherheit einst riefen, um Verschwörungen zu verhindern, ist ihnen längst über den Kopf gewachsen. Das Dilemma des fiktiven FBI-Agenten Mulder, dass seine Agentur zur Aufdeckung von Verschwörungen selbst an ihnen beteiligt ist, ist in der gesellschaftlichen Wirklichkeit mehr als nur ein nettes, mysteriöses Vexierspiel – es hat fatale Konsequenzen. Allein der Iran-Contra-Deal wurde auf 80 Milliarden Dollar geschätzt, der Drogenumsatz in den USA beläuft sich auf 100 Milliarden Dollar pro Jahr. Diese Unsummen aus illegalen Geschäften bedrohen nicht nur die Volkswirtschaften, sondern durch Korruption – die beamtete Cousine der Konspiration – auch die Rechtsstaaten in aller Welt.

Wie werden wir diese bösen Geister los? Indem wir dissonante Wahrnehmungen – und in wessen Ohren klingt zum Beispiel die Behauptung, dass unsere Regierungen mit dem internationalen Drogen- und Waffenhandel Hand in Hand arbeiten, nicht einigermaßen schräg? – erst einmal zulassen. »Nichts ist, wie es scheint« – diesen Ersten Hauptsatz der Verschwörungsdynamik gilt es stets zu beachten, auch wenn er sich beim zweiten Hinsehen als falsch offenbart, weil alles ganz normal ist. Aber das zweite Hinsehen ist wichtig, die veränderte Perspektive. Wenn die erste Frage aller Philosophie lautet: »Warum ist überhaupt etwas und nicht nichts?«, dann setzt die Konspirologie sogleich noch den entscheidenden Nachsatz hinzu: »Und wer steckt dahinter?«, und fundiert damit »Kritik« als eine Kategorie der Wahrnehmung.

Was ist wahr, was ist falsch, was ist Information, was ist Desinformation, was objektiver Tatbestand, was subjektive Projektion, wie hängen Beobachter und Beobachtetes zusammen? Der konspirologische Denkraum ist eine Schule der Wahrnehmung. »Am Anfang aller Wissenschaft«, sagt der Psychoanalytiker Jacques Lacan, »steht die Hysterie.« Die Angst vor der Welt, vor dem Unfassbaren, dem schrecklichen Ereignis aus heiterem Himmel, ist der Antrieb aller Neugier und Wissensbedürftigkeit. Das konspirologische Denken hat sich von diesem angstgetriebenen Eifer noch einiges bewahrt – und wir haben gesehen, in welch paradoxe Fallen, in welchen irrationalen Wahn unreflektiertes Verschwörungsdenken führen kann. Das Grenzland zwischen kritischem Verdacht und pathologischer Paranoia ist ein Minenfeld. Gleichwohl lohnt es sich nicht nur, es zu betreten, die realen Verschwörungen und ihre gefährlichen Konsequenzen für die Gesellschaften zwingen sogar dazu.

Es ist an der Zeit, das Verschwörungsdenken, dieses Schmuddelkind der Erkenntnistheorie, in den Status einer kritischen Wahrnehmungswissenschaft zu erheben. Und eine allgemeine Theorie der Verschwörungstheorien zu entwerfen, die als Wegweiser in diesem Minenfeld dienen kann. Wenn unsere oben geäußerte Vermutung stimmt, dass die von der neuen Biologie entdeckte Erweiterung des evolutionären Kampfs ums Dasein – das Evolutionsprinzip der Kooperation – in Form der Konspiration eine Art Schattenseite ausgebildet hat, dann könnten wir jetzt auch schon so etwas wie einen kategorischen Imperativ, ein Grundgesetz für alle Verschwörungen angeben. Wenn alle Lebewesen von der Bakterie bis zum Blauwal gezwungen sind, nicht nur Nutznießer und Profiteur ihrer Lebenszusammenhänge zu sein, sondern auch Spender und Unterstützer, wenn individuelle, partikulare Interessen also, um weiter voranzukommen, sich immer kooperativ, symbiotisch in das Gesamtnetzwerk einbinden müssen, dann müsste dieses evolutionäre Grundgesetz auch für Verschwörungen gelten. Sie funktionieren auf Dauer nur, wenn sie nicht nur den Verschwörern, sondern auch dem Ganzen zugute kommen: Aus Parasiten müssen Symbionten werden.

Verschwörungen, Verschwörungstheorien und die Geheimnisse des 11.9.

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