Читать книгу Die vom Tod verschmähte Katze - Matthias M. Rauh - Страница 23

Kapitel 20 - Das Unglück sucht sich seinen Raben

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Als der Landstreicher sein Opfer in den Laden gezerrt hatte, fiel die Tür zurück ins Schloss - mit einem langen, ja geradezu erbärmlichen Quietschen. Ein eigenartiger Geruch aus Staub, modrigem Papier, Nelken und Schnaps erfüllte den Raum. Aber da war noch etwas, ein verlockender Duft, dem man kaum widerstehen konnte. Brombeere...

"Warte hier", knurrte der Landstreicher.

"Es tut mir leid, dass das Fenster kaputt ist, aber..."

"Vergiss das Fenster", fiel ihm der Riese ins Wort. "Warte hier. Und wage es ja nicht zu türmen. Ich erwische dich sowieso..."

Valentin wunderte sich. So energisch und brutal ihn sein Gegenüber auch am Kragen gepackt hatte, so nachlässig und amateurhaft schien er sich nun um seinen Gefangenen zu kümmern. Er wartete ab, bis der Mann in einem Nebenraum am anderen Ende des Ladens verschwunden war. Dann drückte er vorsichtig die Türklinke herunter.

"Mist."

Die Tür ließ sich nicht öffnen, obwohl Valentin genau gesehen hatte, dass sie nicht abgesperrt worden war. Da erinnerte er sich an den Vorfall vor dem Antiquitätengeschäft. Auch damals hatte der Landstreicher auf irgendeine geheimnisvolle Art und Weise dafür gesorgt, dass die Tür nicht mehr geöffnet werden konnte.

"Er hat ihn eingespääärrt!", rief Engels aufgeregt, als er einen Blick durch die Scheibe der Ladentür riskierte.

"Ja, Kraus ist geliefert", bemerkte Pappke seelenruhig.

"Und was meinst duuu, wird er mit ihm machen?"

Pappke runzelte die Stirn. "Wenn das ein Mörder oder Psychopath ist, wird er ihn foltern und umbringen. Was dachtest du denn?"

Engels´ Kugelaugen flackerten bedrohlich, während sich das Pickelgesicht wieder mit seinem Handy beschäftigte. "Ich nehm´s auf. Wenn ich das ins Netz stelle, komm ich ganz groß raus."

Valentin hatte die beiden Schwachköpfe längst entdeckt. Sie wirkten jetzt gar nicht mehr so bedrohlich, eher wie Schulkinder, die den Bus verpasst hatten. Während Pappke seinen Blick starr auf den Bildschirm seines Handys richtete und dabei eine Kaugummiblase nach der anderen produzierte, zeichnete Engels mit der flachen Hand eine Linie über seine Kehle und zuckte ratlos mit den Schultern.

"Danke, sehr nett", flüsterte Valentin und kehrte ihnen den Rücken zu.

Zweifelsohne war dies das seltsamste Geschäft, welches er je gesehen hatte - ein Relikt aus einem längst vergessenen Jahrhundert. Die dunklen Schränke, Vitrinen und Kommoden waren vollgestopft mit Kitsch, die Regale überladen mit einem Sammelsurium an verstaubten Büchern und Kisten. Stative mit uralten Kameras aus bemaltem Holz, Standuhren, Truhen, Türme aus Büchern und Schachteln waren kreuz und quer über den ganzen Raum verteilt, so dass man wirklich aufpassen musste, wohin man seinen Fuß setzte. Das monotone Ticken und Klacken unzähliger Uhren erfüllte den spärlich beleuchteten Ort. Und es war kalt, genauso kalt wie...

Aha, dachte er sich und war sich jetzt ziemlich sicher, dass es der Widerling also doch auf die gefrorene Uhr abgesehen hatte. Da begann direkt über seinem Kopf eine schäbige Kuckucksuhr zu rasseln, die sofort den ganzen Laden ansteckte. Das Klingeln, Schlagen und Rufen eines ganzen Kuckucksuhrenarsenals machte nun die Runde, entfernte sich und verwandelte sich wieder in das monotone Ticken von eben.

An den Wänden hingen merkwürdige Ölgemälde von Vögeln und Faltern, alle in kitschigen Rahmen, verstaubte Spiegel, Zinnteller, Masken aus Porzellan und Holz, ein mit Spinnweben verhangener Bussard und dazu die vielen tickenden Uhren. Erst jetzt fiel Valentin auf, dass sie alle unterschiedliche Zeiten anzeigten, was sogleich die Frage aufwarf, wie zum Teufel man derart viele falschgehende Uhren dazu bringt, in ein und demselben Augenblick zu läuten.

Die Tapete mit dem altmodischen Rosenmuster warf an einigen Stellen Falten - und wo kein Bild und keine Uhr angebracht war, wiesen dunkle Ränder darauf hin, dass hier irgendwann schon einmal etwas Derartiges gehangen haben musste. Preisschilder suchte man vergeblich, aber zumindest gab es eine Kasse. Sie stand auf einer riesigen Kommode, inmitten eines gewaltigen Schneekugelbergs.

Am Eingang befand sich ein weiteres Regal, welches von oben bis unten mit verstaubten Einmachgläsern gefüllt war. Bei genauerem Betrachten erkannte er, dass sie alle Marmelade enthielten, wenn auch mit höchst eigenartigen Namen: Trauerweide, Brombeerhexe, Schlehdorngewächs, Schwarzbeersirup (übers Kreuz gezüchtet), Schleierweintraube, Ahornschattenkompott, Himbeermantelessig, Schabrackenkralle, Tollkirsche (launischer Kern), flehende Mistelbeere (Zeterelse), fliehende Mistelbeere (Verschwindibus), Querbeet, Birkenblattblüte, Vogelbeerteppich, Stachelbeerstichling, Schrabnellenwahn, Zeterkastanie, höllische Waltraud. Die Gläser dufteten so derart verführerisch, dass Valentin plötzlich das Verlangen verspürte, seine Hand danach auszustrecken, um...

Doch da vernahm er schon das dumpfe Klopfen eines Stocks. Der Landstreicher ging langsam und ächzenden Schrittes auf ihn zu.

"Jetzt ist es soweit!", rief Pappke begeistert. "Das Schlachtbankett ist eröffnet. Und dann..."

"Dann?", wiederholte Engels.

"Dann macht er ihn richtig platt, hahaaaa!"

Engels kniff die Augen zu, während seine Nickelbrille beschlug. Das Pickelgesicht formte eine Kaugummiblase und verschluckte sie gleich wieder. "Jede Wette, dass der irgendwo im Keller ein monstermäßiges Folterkabinett vorbereitet hat. So, wie der aussieht, ist das ein abartiger Psychopath."

Engels wagte einen kurzen Eulenblick durch seine Hand, so als stünde der Augenblick des ultimativen Grauens unmittelbar bevor. Nach einer Weile absoluter Stille flüsterte er schließlich: "Sollen wir nicht doch liiieber die Bullen ruuufen?"

"Jetzt mach dir mal nicht ins Hemd", motzte Pappke. "Es ist doch nur Kraus, hallooo?"

"Ich...ich meine ja bloooß", rechtfertigte sich sein Diener.

Der Landstreicher schien auch nicht lange zu fackeln. Er packte Valentin und schob ihn voran. "Los, da lang!", raunzte er.

"Aber es waren wirklich die beiden Idioten da draußen, die Ihr Fenster eingeworfen haben. Ich bin doch nur durch Zufall in diese Gegend geraten, weil die beiden mich gejagt haben! Aber ich kann Ihnen den Schaden ja trotzdem ersetzen!"

"Ich sagte schon, vergiss das Fenster. Und außerdem..."

Der Mann blieb stehen und starrte mit einem Grinsen auf Pappke und Engels, die mit weit aufgerissenen Augen durch das Fenster blickten.

"...ist da gar niemand!"

In diesem Augenblick brach direkt hinter der Schaufensterscheibe ein fürchterliches Unwetter los. Ein tobender Sturm peitschte gegen die Ladentür, die laut schepperte und sich wand wie ein dünner Bogen Papier. Der prasselnde Regen verschluckte die Straße und färbte die Außenwelt in ein dunkles Grau. Der Wolkenturm über dem Laden war offenbar in gewaltige Rotation geraten. Engels war mit samt seiner Nickelbrille gegen das kleine Fenster in der Tür gedrückt worden und rüttelte nun panisch an der Klinke. Von Pappke fehlte längst jede Spur. Dann fauchte ein wilder Hagelsturm herab und riss zuerst Engels, dann seine tanzende Brille in ein tobendes Hagelmeer. Schließlich ließ ein infernalischer Blitz das angestaubte Interieur des Ladens erzittern und die spiegelverkehrten Buchstaben der Schaufensterscheibe gespenstisch aufglühen.

JOHANN W. AUGUSTINUS

Dann war es vorbei. Pappke und Engels waren verschwunden. Der Gewittersturm verwandelte sich in einen ganz gewöhnlichen Regenschauer. Valentin konnte es nicht fassen.

"Warum zitterst du?", lachte der Mann. "Noch nie ein Gewitter gesehen?"

"Heißen Sie Augustinus?"

"Steht doch da. Also los, wir haben zu tun. Da hinauf!" Er zeigte auf eine schäbige Wendeltreppe, die sich im hinteren Teil des Ladens befand.

"Sind Sie wahnsinnig?", sträubte sich Valentin und stemmte seine Füße gegen den Boden. "Ich geh da nicht rauf. Wahrscheinlich schmeißen Sie mich runter. Bitte lassen Sie mich gehen. Was haben Sie denn davon, wenn Sie mich umbringen?"

"Das is´n guter Witz", lachte der Landstreicher, riss ihn herum und blickte ihm tief in die Augen. "Die Frage ist vielmehr, ob du dich umbringen willst, Bürschchen."

"Ich? Wieso das denn?", fragte er verwundert.

"Da hinauf, los!", wiederholte sein Gegenüber.

Es machte keinen Sinn, sich zu wehren. Vorsichtig setzte er seinen Fuß auf die unterste Stufe der eisernen Treppe, die daraufhin bedrohlich zu schwanken begann.

"Uaaah!", zeterte er.

"Weiter!", befahl ihm der Mann.

Die schaukelnde Wendeltreppe führte in ein turmartiges Gemäuer, an dessen Ende eine massive und mit schweren Eisenriegeln gesicherte Holztür wartete. Der Landstreicher Augustinus entzündete eine Kerze, zog die Riegel zurück und öffnete die Tür. Augenblicklich schlug Valentin ein Schwall eisigster Kälte ins Gesicht.

Das Zimmer war stockdunkel, und im Kerzenschein konnte er erkennen, dass es mit dem übrigen Laden nicht die geringste Spur gemein hatte. Hier gab es keine Regale, keine Uhren, sondern nur einen einfachen Holztisch, der sich in der Mitte des kleinen Raumes befand. Darauf stand, in Ketten gelegt, eine mittelalterliche Kiste. Sie war kohlrabenschwarz und mit vielen gefrorenen Wassertropfen übersät. Es war jene Kiste, die Valentin aus der Kammer des Antiquitätenhändlers gestohlen hatte.

"Baah, weg damit!", zeterte er panisch. "Bleiben Sie mir bloß mit dem verfluchten Ding vom Leib! Ich schenk´s Ihnen. Werden Sie glücklich damit!"

"Genug gesehen!", rief der Alte, warf die Tür zurück ins Schloss und verriegelte sie. Diesen Moment nützte Valentin, riss sich los und hastete einige Treppenstufen nach unten. Doch die Treppe geriet abermals in eine gefährliche Schräglage, so dass ihm nichts anderes übrigblieb, als sich am Geländer festzuklammern. Da packte ihn der Mann erneut am Kragen.

"Hiergeblieben."

"Ich will damit aber nix zu tun haben."

"Dazu ist es jetzt zu spät", stellte Herr Augustinus unbekümmert fest. "Aber so ist das nunmal im Leben. Das Unglück sucht sich seinen Raben, nicht umgekehrt. Und so manch einer stand plötzlich vor dem eigenen Grab und wunderte sich, wie flink seine Neugier den Spaten zu schwingen vermochte."

"Ich mach das Ding nicht nochmal auf. Vergessen Sie´s. Ich habe es gefunden und wollte es dann nur noch loswerden."

"Wer hat gesagt, dass du sie öffnen sollst?", grinste der Alte. "Nur ein Narr käme auf eine derartige Idee. Ich denke, diese Lektion dürftest du ja inzwischen gelernt haben."

Valentin nickte verschämt. "Was ist denn das jetzt für ein komisches Ding?"

Herr Augustinus blickte ihm tief in die Augen. "Kannst du dir das nicht denken?"

Er schüttelte den Kopf.

"Na gut, dann komm mit." Er löschte die Kerze. Nachdem ihnen die Treppe gestattet hatte, wieder nach unten zu gehen, griff der Alte nach einem Stuhl, der vor einem recht heruntergekommenen Holztisch stand. "Hinsetzen", grummelte er.

Valentin hatte es längst aufgegeben, sich den Befehlen zu widersetzen. So nahm er Platz und bemerkte sogleich, dass der Tisch ebenfalls nach Brombeere roch. Herr Augustinus warf ihm ein völlig verlottertes Buch vor die Nase. Als es auf der Tischplatte landete, stieß es eine riesige Staubwolke aus. "Seite 651. Lesen."

Gedichtverse standen dort geschrieben, mit einer altertümlichen Strichzeichnung, die eine Frau zeigte, welche ganz offensichtlich...

...zu Staub zerfallen und verbrannt,

wollt´ man sie jagen aus dem Land...

...auf einem brennenden Scheiterhaufen stand. Valentin schluckte. "Soll das eine Hexe sein?", stammelte er mit großen Augen. "Aber das sind doch nur Märchengeschichten."

"Aha, Märchengeschichten also. Und wieso schleppst du dann eine durch die Gegend und reißt sie auch noch aus ihrem Schlaf?", donnerte der Alte. Valentin warf das staubschnaubende Lesewerk zu.

"Soll das heißen, dass das dort eine..?"

Herr Augustinus nickte zustimmend mit dem Kopf. "Jaja, richtig geraten. Das ist eine Hexenurne", sagte er und zeigte mit der Hand zum Turmzimmer hinauf. "Und du hattest das Glück, dass es sich hierbei nur um eine relativ harmlose Windsbraut handelt, eine Wetterhexe, sozusagen. Aber relativ harmlos heißt in diesem Fall: Nur je nach Tageslaune absolut tödlich. Du kannst froh sein, dass sie nur sehr langsam aus ihrem Schlaf erwacht ist und du nichts von ihrem Staub eingeatmet hast. Dann hättest du jetzt wirklich ein Problem."

"Aber das ist doch Quatsch. Es gibt doch überhaupt keine..."

"Sooo?", fiel ihm der Alte ins Wort. "Ist bei dir denn alles in Ordnung?"

"Bei mir?", versuchte sich Valentin in kunterbunter Schönfärberei. "Natürlich. Alles bestens. Na ja, außer..."

"Außer, dass die alte Waldhütte am See bei Zeiten mit Glasscherben schießt und ein Gewitter nach dem anderen anlockt, wolltest du sagen."

Valentin schluckte und senkte reumütig den Kopf.

"Mist."

"Also doch", grummelte Augustinus, allerdings in einem viel ruhigeren Tonfall. "Da hast du uns ja eine schöne Bescherung eingebrockt."

"Tut mir leid. Ich wusste nicht, dass..."

"Was hast du denn erwartet, als du sie gefunden hast? Eine Kiste voller Gold und Diamanten, wie im Märchen?"

"So ähnlich", hielt sich Valentin bedeckt und wagte einen vorsichtigen Blick nach oben. "Aber ich habe die gefrorene Uhr nicht angerührt. Ehrenwort."

"Ach, die Uhr", sagte Augustinus abfällig und rollte mit den Augen. "Die Uhr war nur eine wertlose Spinnerei eines selbstvergessenen Sammlers. Die ist hinüber. Eine Uhr aus Eis, was für ein unglaublicher Schwachsinn. Aber ich muss zugeben, dass es ein cleverer Schachzug von deinem Herrn Zacharias gewesen ist, sie mit Hilfe der eisigen Kiste zu kühlen. Allerdings hat der unbelehrbare Zeitfanatiker nicht daran gedacht, dass die Urne auf diese Art und Weise auch in falsche Hände geraten könnte. Ich habe ihn gewarnt, mehrmals sogar. Aber er wollte nicht auf mich hören."

"Sind Sie ein Hexenjäger?", fragte Valentin.

"Nein", erwiderte der Alte. "Das würde voraussetzen, dass ich mich an ihre Fersen hefte und mit ihnen kämpfe. Wozu sollte das gut sein? Hexenjäger sind ein Relikt der Vergangenheit. Und man kann von Glück reden, dass es sie nicht mehr gibt, dieses verkommene Gesocks. Ich verwalte nur das, was sie hinterlassen haben und sehe zu, dass diese Hinterlassenschaften keinen Schaden anrichten können."

"Hinterlassenschaften?"

"Die Kiste ist die Hinterlassenschaft eines Hexenjägers. Er hat die Hexe nach ihrer Hinrichtung gefangen und dort eingesperrt. Doch leider ist er wohl aus irgendeinem Grund nicht mehr dazu gekommen, sie fachgerecht zu beerdigen. Und du Tollpatsch hast sie wieder freigelassen. Den Schaden, den sie dabei angerichtet hat, kannst du jetzt am Ufer des Waldsees beobachten."

"Geht das wieder weg?", wollte Valentin wissen.

"Ich hoffe es", mutmaßte der Alte. "Allerdings kann es eine ganze Weile dauern, bis sich ihre Spuren durch den Wind verflüchtigt haben. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass die Hütte selbst dann noch ihre Eigenheiten behalten wird. Sie hat immerhin Hexenstaub abgekriegt. Brennender Zorn, verstehst du? Das Ding hätte dich im Handumdrehen pulverisieren können. Du hast wirklich Glück gehabt. Mehr Glück, als man erwarten kann."

"Was machen Sie denn jetzt mit ihr?", fragte er bestürzt. "Werden Sie sie töten?"

Der Alte schüttelte den Kopf. "Nein, das ist völlig unmöglich. Man kann nichts töten, was bereits tot ist."

"Ach so. Und verbrennen?"

"Sie ist bereits Asche. Hast du schon einmal versucht, Wasser zu verbrennen? Das ist ganz und gar unmöglich. Und vernichten kannst du es ebenfalls nicht."

"Doch, es verdunstet", antwortete Valentin.

"Richtig", stimmte ihm Augustinus zu. "Es verdunstet und sammelt sich anschließend zu dem, was du Wolken nennst, bevor es als Regen zu dir zurückkehrt. Du kannst es verdampfen, gefrieren oder sogar vergiften, was allerdings nicht sonderlich ratsam wäre. Du kannst Wasser sogar ins Weltall befördern. Dann verwandelt es sich eben in eine Schar schwereloser Eiskristalle. Es ändert dabei jedoch nur seinen Zustand, mehr nicht. Aber es wird niemals vernichtet werden, egal, was du damit anstellst. Es ist unzerstörbare Materie. Und genau das geschieht mit Hexenstaub, wenn du versuchst, ihn zu verbrennen."

"Sie sind also völlig machtlos gegen die Hexe?"

"Richtig. Völlig machtlos", erklärte er. "Die Unberechenbarkeit der Materie. Man könnte es natürlich auch die Unbesiegbarkeit der Materie nennen. Egal, was du auch tust - sie gewinnt immer. Denn alles ist zwar vergänglich, aber nichts vergeht. Und mit dem Hexenstaub ist das ähnlich. Er bleibt für immer und ewig. Das ganze Universum besteht schließlich aus Staub."

"Soll das etwa heißen, dass ich das Ding nie wieder loswerde?", fuhr Valentin entsetzt in die Höhe.

"Das nicht", beruhigte ihn der Alte. "Wir müssen die verbrannte Hexe nur an einen Ort bringen, an dem sie keinen Schaden mehr anrichten kann. Aber bis dahin müssen wir noch eine Weile warten. Man riskiert nämlich Kopf und Kragen, wenn man sie in diesem Zustand zu transportieren versucht. Sie hat Blut geleckt und sicher längst gemerkt, dass ein Teil von ihr wieder eingeschlossen ist. Und wahrscheinlich schmiedet sie bereits einen Plan, wie sie wieder herauskommen kann. Wir warten erst einmal ab, bis sie sich beruhigt hat, dann sehen wir weiter."

"Dann darf ich wieder nach Hause gehen? Sie bringen mich nicht um?"

"Wieso sollte ich dich umbringen?", überlegte Herr Augustinus und kratzte sich dabei nachdenklich am Kinn. "Aber da wir schon beim Thema sind: Ich habe in dem alten Bootshaus einen verrosteten Spaten und einen zerrupften Reisigbesen benützt. Denen ist der Staub auch nicht ganz so gut bekommen. Falls dir die beiden irgendwo begegnen, rate ich dir, den Kopf einzuziehen."

"Waaas?"

"Immer schön einziehen", wiederholte er. "Denk daran. Ein Besen und ein Spaten, kaum zu übersehen. Aha, wir bekommen Besuch..."

Er blickte durch das kleine Fenster vor dem Tisch und öffnete es. Draußen kamen die Krähen gerade herbeigeflogen und vollführten einige wilde Kunststücke am Himmel. "Die haben richtigen Spaß heute", freute sich Augustinus.

"Ich glaube eher, dass die hinter mir her sind", stöhnte Valentin. "Sind das Ihre Krähen?"

Noch bevor der Alte antworten konnte, flatterte eine von ihnen herab, sauste durchs Fenster und setzte sich auf seine Schulter. Es war der Krähenspäher.

"Das sind Rabenkrähen, die gehören niemandem. Aber sie hausen hier. Und wenn du nach dem Grund fragst, warum sie dir auf Schritt und Tritt gefolgt sind..."

Er machte eine unmissverständliche Geste in die Richtung des Turmzimmers.

"Habe es fast vermutet. Heißt das, dass die mich jetzt in Ruhe lassen?"

"Woher soll ich das wissen? Es sind Rabenkrähen. Die treffen ihre Entscheidungen grundsätzlich selbst. Denen kannst du nichts vormachen. Die meisten Menschen mögen keine Raben. Viele sind sogar so dumm, Angst vor ihnen zu haben. Aber das ist ganz gut, denn so werden sie wenigstens in Ruhe gelassen. Die Menschheit ist einfach zu doof für derartige Wesen. Du kannst froh sein, dass sie mich alarmiert haben. Ohne die Krähen hätte ich nie im Leben gemerkt, dass etwas im Busch ist."

"Woher wussten Sie dann, dass ich in diese Gasse laufen würde?", wollte Valentin wissen.

Herr Augustinus blickte sehr geheimnisvoll in den Gewitterhimmel. "Du hast doch selbst gesagt, dass du gejagt wurdest. Wie ich schon sagte, das Unglück sucht sich seinen Raben, nicht umgekehrt. Und der Rest..." Er schob mit der Hand einen kleinen Kupferkessel zur Seite.

"...ist nichts als Marmelade."

Wahrscheinlich war es kein Zufall, dass er sich gerade in diesem Augenblick umdrehte und das riesige Buch wieder zurück ins Regal beförderte. Doch eine Frage konnte Valentin sich dennoch nicht verkneifen. Er wollte wissen, warum sich ein so gefährliches Wesen wie die Staubhexe von einer einfachen Kiste aus Holz und Eisen im Zaum halten ließ.

"So niederträchtig das Hexenjägergesindel auch war. In diesem Fall haben sie zumindest gewusst, was sie taten", meinte Herr Augustinus. "Es ist das Holz der Kiste, das ihr die Grenzen aufzeigt. Birkenholz oder auch Hexenwurzelholz. Das vertragen sie nicht. Sein Geruch schläfert sie ein. Die Eisenbeschläge und das Schloss sind nur dazu da, um die Kiste zusammenzuhalten und den Inhalt vor ahnungslosen Langfingern wie dir zu schützen."

Valentin senkte abermals den Kopf. "Und warum haben Sie die Kiste in Ketten gelegt?"

"Nun, du hast sie ja ordentlich ramponiert. Ihr Schloss ist hinüber, Birkenholz hin oder her. Aber das neue Schloss ist auch nicht schlecht."

"Und warum verriegeln Sie dann noch die Tür?"

"Reine Vorsichtsmaßnahme. Staubhexen sind tückisch. Wenn du glaubst, sie würden etwas nicht können, könnte das schon der erste Fehler sein - und...wenn´s richtig schiefläuft, auch der letzte."

"Und was mache ich nun mit dem Bootshaus?"

"Gar nichts", sagte der Alte, jetzt in einem sehr bestimmenden Tonfall. "Du wirst dich der Hütte nicht mehr nähern. Sie hat Hexenstaub abbekommen. Könnte sein, dass sie so etwas wie ein Bewusstsein entwickelt hat. Heimtückische Sache..."

"Und was ist mit anderen Menschen, die sich dem See nähern?", gab Valentin zu bedenken.

"Nun, wenn sie Pech haben...", überlegte Herr Augustinus laut, schüttelte dann aber sogleich den Kopf. "Warum sollte ein Mensch eine verlassene Hütte im Wald aufsuchen?"

"Vielleicht, weil es komisch ist, dass sie Gewitter anlockt?"

"Hmm...nein", antwortete er. "Ich glaube kaum, dass gewöhnliche Menschen diese Art von Gewitter sehen können. Nein, die sehen nichts. Die haben eigentlich noch nie irgendetwas gemerkt. Vergiss sie einfach. Mach´s wie die Krähen. Die lachen sich kaputt darüber."

"Dann bin ich kein normaler Mensch?"

"Offensichtlich nicht. Aber mehr ist ja nicht passiert."

"Gibt es mehrere, nicht normale Menschen?"

"Das hoffe ich doch. Die alte Dame zum Beispiel, der die Kiste einmal gehört hat. Sie hätte das Gewitter ganz sicher gesehen. Und da sie die Kiste bis zu ihrem Ende völlig unbemerkt unter Kontrolle halten konnte, müssen wir davon ausgehen, dass sie wahrscheinlich sogar die Mittel besaß, das Unwetter zu bändigen."

"Und warum ist sie dann tot?"

Wieder zuckte der Alte mit den Schultern. "Warum nicht? Lass sie doch. Vielleicht verging ihr die Zeit einfach nicht schnell genug." Das war die mit Abstand banalste Betrachtungsweise über den Tod, die Valentin je gehört hatte.

"Aber eines merke dir", warnte ihn Augustinus. "Du wirst die Waldlichtung nicht mehr betreten, ganz egal, was geschieht. Es könnte nämlich durchaus passieren, dass dich der verbliebene Staub zu locken versucht. Grundsätzlich gilt: Traue nie einem Hexenweib, welches sich seines Körpers bereits entledigt hat. Niemals, verstanden?"

"Jaaah", antwortete Valentin und erschrak dabei, da seine Stimme in eine Tonlage verfiel, welche er sonst nur von der Nickelbrille kannte.

"Gut", sagte Herr Augustinus. "Dann wäre ja alles geregelt. Du kannst jetzt gehen. Aber denk daran: Das Bootshaus und der See sind tabu. Man wird ein Auge auf dich haben."

Er blickte zum Fenster hinaus, wo sich die Krähenschar gerade in die Lüfte erhob. Einen Augenblick später landeten die geheimnisvollen Tiere auch schon vor dem Schaufenster und der Ladentür - als hätten sie das Gespräch von eben verfolgt.

"Alles klar", sagte Valentin.

"Ach so, ehe ich es vergesse", bemerkte Augustinus und deutete auf das zerborstene Element des Schaufensters. "Sag dem verkommenen Mondgesicht und seinem Diener, dass das nächste Unwetter alle beide durch sämtliche Rohre der Kanalisation spülen wird, wenn sie sich noch einmal hier in der Gegend herumtreiben sollten. Und diese Warnung sollten die beiden mehr als ernst nehmen. Meine Augen..."

Er zeigte auf das Fenster mit den Krähen und begann zu grinsen.

"...sind nämlich überall."

Nun begann auch Valentin zu grinsen. So gingen sie zur Tür. Als sie an den vielen Regalen und Schränken vorbeikamen, konnte er sich aber eine Frage nicht verkneifen:"Was ist das eigentlich für ein komisches Geschäft?"

"Komisch? Was meinst du damit?", gab Herr Augustinus die Frage zurück.

"Na ja, verkaufen Sie das alles?"

Der Alte sah ihn mit einer Miene an, als hätte er diese Frage in einer ihm völlig unbekannten Sprache gestellt. "Verkaufen? Wie kommst du denn darauf?"

Valentin gab auf. Ladenbesitzer, die nichts verkaufen wollen, waren für ihn schließlich nichts Neues. "Nur so...", verwarf er seine dumme Frage.

"Na gut", meinte Augustinus schroff. "Dann geh jetzt."

"Ähm, der Ausgang ist aber verschlossen. Können Sie ihn aufsperren?"

"Du wirst doch in der Lage sein, eine gewöhnliche Tür zu öffnen", lautete die unerwartete Antwort.

So drückte Valentin die Klinke abermals herunter. Und er konnte es nicht fassen. Die Tür, welche ihm kurz zuvor die Flucht verweigert und anschließend dem verzweifelten Engels den Zutritt verwehrt hatte, ließ sich nun ohne die geringste Anstrengung öffnen.

"Auf Wiedersehen", sagte der Alte, hob den Krähenspäher von seiner Schulter und warf ihn in die Luft. Das geheimnisvolle Tier begann augenblicklich zu flattern, worauf sich auch die übrige Krähenschar in die Lüfte erhob. "Und denk daran: Keine Dummheiten mehr."

"Ja", antwortete Valentin. "Auf Wiederseh..."

Aber da war die Tür hinter seinem Rücken bereits zurück ins Schloss gefallen. Er drehte sich um und drückte die Klinke abermals herunter. Unfassbar, jetzt war sie wieder fest verschlossen. Der Regen legte nun deutlich zu, und aus irgendeinem Grund war sich Valentin sicher, dass auch dies kein Zufall sein konnte. Er sollte diese seltsame Gasse jetzt verlassen und den Krähen folgen. Nach ein paar Schritten jedoch stockte er. Da lag sein Mathematikheft auf dem Kopfsteinpflaster. Engels hatte es vorhin beim Wühlen weggeworfen. Nun war es völlig durchnässt."So ein Mist", stöhnte er und schüttelte es aus.

Aber da lagen noch weitere Utensilien im Regen: Ein zersprungenes Mobiltelefon, dem das Wasser noch weit weniger gut bekommen war und eine Nickelbrille mit zersplittertem Glas. Dazu eine abgetragene Aktentasche sowie ein völlig durchnässter Schuh, in welchem sogar noch eine Socke steckte. Dieser Anblick tröstete Valentin über den Verlust seines Schulhefts hinweg.

Wo gehobelt wird, fallen eben Späne, dachte er sich. Und diese Lektion war offenbar sehr gründlich gelernt worden. Er steckte das Heft ein. Dann beschloss er, auch die Nickelbrille und das zerstörte Handy mitzunehmen, als eine Art Trophäe. Die Aktentasche und den Schuh ließ er jedoch zurück. Was sollte er auch mit all den verstreuten Stücken von Engels anfangen?

Der Krähenspäher krächzte und zog ungeduldige Kreise unter dem Wolkenturm. So machte sich Valentin auf den Weg. Er blickte auf das verbeulte Eisenschild, welches an einer alten Straßenlaterne befestigt war und im Wind zitterte. "Eulengasse", flüsterte er. Da vernahm er plötzlich ein leises Hecheln, ja ein fast winselndes Hecheln. Und ein Geräusch, welches sich anhörte, als liefe jemand barfüßig und triefend vor Nässe über das nackte Kopfsteinpflaster.

Wiwiff...bwww! Wiwiff...bwww!

Patsch! Patsch! Patsch!

Blitzschnell drehte er sich um. Aber es war zu spät. Nichts regte sich in dieser Gasse, nichts außer dem fallenden Regen. Dafür hatten sich Engels´ verlorener Schuh und die Aktentasche auf höchst geheimnisvolle Art und Weise in Luft aufgelöst. Da machte ihn eine ungeduldige Krähe darauf aufmerksam, dass es nun wirklich Zeit war, zu gehen.

Die vom Tod verschmähte Katze

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