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Kapitel 2 - ...und der Tod nahm Platz im Ohrensessel

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Der Junge rannte und rannte. Doch zu Valentins Unglück erwiesen sich die Krähen als äußerst hartnäckige Verfolger. Sie scheuchten ihn quer durch die Altstadt und hackten weiter auf ihn ein - sehr zur Belustigung einiger Passanten, die den Jungen in dem seltsamen Anzug offenbar für eine Touristenattraktion hielten. Irgendwann aber ließ die Vogelschar von ihm ab und verschwand so schnell, wie sie gekommen war.

Als der glücklose Tollpatsch schließlich völlig außer Atem zum Antiquitätengeschäft zurückkehrte, saßen seine gefiederten Feinde wieder ganz friedlich auf dem Dach des alten Stadthauses und zupften Kraut aus dem Kopf ihrer geliebten Vogelscheuche.

Die Tür des Ladens ließ sich nun wieder anstandslos öffnen - ein Zeichen, dass der verrückte Riese längst das Weite gesucht hatte. Valentin machte sich dennoch auf das Schlimmste gefasst.

Zu seiner Verwunderung befand sich das tickende Theater des peniblen Herrn Zacharias aber noch im selben Zustand wie vor dem Auftauchen des Landstreichers. Und wenn er erwartet hatte, einen zitternden oder gar toten Mann anzutreffen, lag er ebenfalls falsch. Was hatte ihm Herr Zacharias vorhin noch geraten? Haltung bewahren, in jeder Sekunde, so wie die Zeit...

Und genau das tat er. Mit ruhiger Hand, ganz so, als wäre nie etwas geschehen, zog er eine goldene Taschenuhr aus einer Kommode.

"Nun", sagte er, "Diese Uhr hier hat schon viel erlebt. Sie hat einmal meinem Großvater gehört, der sie beim Ausbruch des Krieges an meinen Vater weitergegeben hatte, mit der Bitte, sie stets im rechten Augenblick aufzuziehen. Er tat dies in weiser Voraussicht, für den Fall, dass er vielleicht stürbe, inmitten all der Wirren, die so ein Krieg eben mit sich bringt. Seitdem ist sie immer regelmäßig aufgezogen worden. Ich habe es kein einziges Mal vergessen..."

"Hä?", machte sein schwitzender Angestellter und stammelte schließlich, weil ihm sonst nichts einfiel: "Und...ist er denn gestorben?"

"Gewiss", sagte Herr Zacharias. "Der natürliche Lauf der Zeit ist in diesen Fragen immer unerbittlich. Haben Sie die Bücher schon alle sorgfältig abgestaubt, Herr...äh..?"

"Hä?"

"Sie schwitzen ja", stellte der Alte unvermittelt fest. "Ist es warm, draußen..?"

Es machte keinen Sinn, den Antiquitätenhändler nach dem Grund der Auseinandersetzung zu fragen. Dieser Mann wäre wohl tatsächlich eher gestorben, als zuzugeben, dass hier, in seinem so akribisch geordneten Reich etwas nicht stimmte. Und noch weit weniger Sinn hätte es gemacht, ihn nach dem Inhalt dieser geheimnisvollen Kammer zu fragen, welche der Landstreicher erwähnt hatte. Valentin wusste zwar, dass in diesem Laden sogar zwei Nebenzimmer existierten, die Herr Zacharias stets verschlossen hielt, aber er war sich sicher, dass sich jede Frage nach deren Inhalt erübrigte.

Zwei Tage lang ging das Spiel mit den nicht gestellten Fragen und den noch weniger gegebenen Antworten weiter. Zwei Tage, in denen der Alte so tat, als hätte die Auseinandersetzung mit dem aggressiven Widerling nie stattgefunden.

Valentin hatte inzwischen sämtliche Bücher abgestaubt und dabei keine einzige Papierkäferlarve gefunden. Dachte er zumindest. Seine neue Aufgabe bestand nämlich darin, die vielen Lücken in den Bücherregalen mit neuen, oder besser, neuen alten Büchern aufzufüllen. Und kaum hatte ihm der Alte den verdammten Staubwedel in die Hand gedrückt, da passierte etwas, das Valentin nie für möglich gehalten hätte. Seelenruhig ging Herr Zacharias zur riesigen Standuhr und zog einen überdimensionalen Schlüssel heraus. Dieser gehörte zu einer der beiden Kammern - aber es war ganz bestimmt nicht jene, die die Aufmerksamkeit des Landstreichers erregt hatte. Eine wenig meisterliche Schlüsselumdrehung später konnte Valentin sehen, dass er mit seiner Vermutung richtig lag: Diese Kammer war nur mit weiteren Büchern gefüllt - einem wahren Gebirge aus Büchern.

"Ich habe diese Schriften vor einiger Zeit aus dem Nachlass einer alten Dame erstanden", erklärte Zacharias. "Sie müssen sie entstauben, nach Papierkäferlarven absuchen und dann in diese Regale hier einordnen. Natürlich in alphabetischer Reihenfolge, Herr...äh..."

"So viele?", stöhnte sein Gehilfe leise und ließ die Schultern hängen. "Super..."

In diesem Raum war es noch kälter als im übrigen Laden, so derart eisig, dass die Kälte hier schon förmlich über den Boden kroch. Eine gute Gelegenheit, dem Antiquitätenhändler eine nicht ganz unberechtigte Frage zu stellen: "Warum ist es in Ihrem Geschäft eigentlich immer so kalt?"

Herr Zacharias runzelte die Stirn. "Kalt, sagen Sie? Hier ist es doch nicht kalt, Herr...äh..."

"Na, dann sehen Sie doch mal auf das Wetterhäuschen dort, wir haben hier nur schlappe 13 Grad."

"Nein, nein, nein. Sie irren. Es sind 13, 2 Grad Celsius", verbesserte ihn der Alte.

"Aha. Und warum?"

"Weil dies eine angemessene Temperatur für all diese Gegenstände ist", erklärte sein Gegenüber. "Meine Aufzeichnungen über die Uhren beziehen sich nämlich grundsätzlich auf diese Temperatur. 13, 2 Grad Celsius, wobei die maximale Abweichung nicht mehr als ein halbes Grad betragen darf. Dies wäre nämlich eine Katastrophe."

"Aha."

"Sie müssen wissen, dass mechanische Uhrwerke sehr stark auf Temperaturschwankungen reagieren. Das Material verändert sich bei Wärme, so dass die Uhren dann meist ein wenig länger laufen. Das Chronographenkompendium aber ist auf exakt 13, 2 Grad geeicht. Außerdem ist diese Temperatur gut für das Papier der Bücher. Es altert langsamer. Und Schädlinge wie der Papierkäfer fühlen sich bei dieser Temperatur nicht besonders wohl."

"Aha. Sie benützen also eine Klimaanlage?"

"Wie bitte? Nein, etwas Derartiges habe ich noch nie gesehen."

"Wie schaffen Sie es denn dann, dass..."

"Vergessen Sie nicht, Herr...äh...", würgte der Mann die Frage einfach ab. "Sie müssen die Bücher sorgfältig entstauben und nach Papierkäferlarven absuchen, bevor Sie sie einordnen. Und äußerste Vorsicht bitte, einige dieser Werke sind noch handschriftlich verfasst."

"Ja, mach ich", stöhnte sein Gehilfe. Es wäre auch zu schön gewesen, wenn Herr Zacharias bei seinen Antworten ähnlich großen Wert auf Präzision gelegt hätte wie bei seinen Uhren.

So machte er sich wieder an seine Arbeit. Der Alte setzte sich in seinen Ohrensessel und nahm bei Zeiten einen Blick in das Chronographenkompendium, um zu sehen, welche seiner geliebten Schützlinge als nächste mit den Zeichen der Zeit haderten.

Und wie Valentin erneut die Zeit verstaubwedelte, da wurde ihm bewusst, dass Herr Zacharias längst zum Gefangenen seiner tickenden Gesellschaft geworden war. Stunde um Stunde verstrich in diesem Laden, während das wahre Leben draußen vor dem Schaufenster vorbeizog. Es würde sich an diesem Ort nichts, aber rein gar nichts ändern, selbst wenn er noch Jahrzehnte hier verbringen sollte. Er würde Bücher abstauben, nach Papierkäferlarven Ausschau halten, in Windeseile altern und auf die nächste Fuhre Bücher warten. Bis der Tod ihn schließlich, aus reiner Barmherzigkeit...

Der Junge schluckte. Schon wieder so ein Gedanke an den Sensenmann.

Eine gewisse Aloisia Krah war im September 1907 auf ein Pensionat zur Erziehung frommer Mädchen geschickt worden - das war die einzige Erkenntnis, zu welcher er beim Einordnen der Bücher kommen sollte. Frau Aloisia Krah - das war wohl der Name der alten Dame, aus deren Nachlass all die Bücher stammten. Und sie war offenbar tatsächlich wohlerzogen worden, schließlich hatte sie sich die Mühe gemacht, in jedes einzelne Buch ihren Namen zu schreiben - mit Feder und Tinte, in einer äußerst penibel ausgeführten Handschrift.

Doch das nützte ihr nichts mehr. Sie war tot und die Bücher wohl das Einzige, was daran erinnerte, dass sie überhaupt jemals existiert hatte. Gelangweilt ordnete er ihren Nachlass in die Regale ein. Am Ende des Tages war die bemitleidenswerte Dame in insgesamt sieben Bücherregale verteilt worden, wie ein Gespenst, dessen Schicksal es war, die Ewigkeit zeigerweise ertragen zu müssen. Sekunde für Sekunde, Woche für Woche, Jahr für Jahr, tickend, bis ans Ende aller Tage.

Als er am nächsten Tag in das Antiquitätengeschäft zurückkehrte, gab sich Herr Zacharias äußerst wortkarg. Er gab seinem Angestellten eine Aufgabe (Bücher abstauben und nach Papierkäferlarven Ausschau halten) und setzte sich in seinen geliebten Ohrensessel, um zu sehen, was die Tageszeitung vom 28. August 1864 so alles zu berichten wusste. In der Regel dauerte diese Schmökerstunde von Punkt acht bis Punkt neun, mit der kleinen Ausnahme, dass eine Uhr, die in diesem Zeitraum aufgezogen werden musste, natürlich Vorrang hatte.

Diesmal aber legte der Antiquitätenhändler das vergilbte Stück Zeitgeschichte schon nach fünf Minuten zur Seite und stellte sich anschließend an verschiedene Orte seines Ladens. Irgendetwas schien ihn zu stören. Er schien jedoch nicht darauf zu kommen, blätterte mit ernstem Blick im Chronographenkompendium und wiederholte dann seinen Kontrollgang durch alle nur erdenklichen Winkel seines tickenden Gruselkabinetts. "Seltsam", meinte er schließlich.

"Was?", fragte Valentin.

"Hören Sie das nicht, Herr...äh..?"

Er hatte nicht die geringste Ahnung, was der Alte meinte.

"Na, die Uhren", erklärte Herr Zacharias. "Hören Sie das nicht? Sie ticken heute anders."

Sein Angestellter verkniff sich ein Kopfschütteln. Und er war überzeugt, dass es ganz sicher nicht die Uhren waren, die hier nicht richtig tickten. Aber was kümmerte es ihn? Der Alte würde sich schon wieder beruhigen. Dachte er...

"Das ist doch...potztausend!"

Wie von einer Natter gebissen, hechtete Herr Zacharias zu einer Kommode, stürzte sich auf einen kleinen Wecker und starrte dann wie vom Donner gerührt auf dessen Ziffernblatt.

"Stehengeblieben! Stehengeblieben!", zeterte er.

Valentin zuckte gleichgültig mit den Schultern.

Plötzlich stürzte der Alte zum Tisch der Registrierkasse, wo das Chronographenkompendium lag. Schnell, ja geradezu panisch blätterte er es durch und schimpfte dabei leise vor sich hin. "Das darf doch nicht...das kann doch nicht...so eine Nachlässigkeit...das ist unverzeihlich..."

Das Buch hatte offenbar keine passende Antwort für ihn parat. Völlig verwirrt schlug er es wieder zu, kratzte sich am Kopf und starrte den stillen Wecker erneut mit weit aufgerissenen Augen an.

"Hat man dafür noch Worte? Fälligkeit am 1. September, 17 Uhr 33 und 19 Sekunden!"

Er eilte zum Wandkalender, dann zur Standuhr und rief aufgebracht: "Heute ist der 28. August, acht Uhr 26 und 27 Sekunden!" Und schon hechtete er zurück zum Corpus delicti und kontrollierte zum dritten Mal dessen Zeigerstellung.

"Zwölf Uhr vier und 16 Sekunden! Stehengeblieben um exakt zwölf Uhr vier und 16 Sekunden!"

"Wird halt einfach so stehengeblieben sein...", bemerkte Valentin etwas genervt. Wie konnte man nur einen derartigen Aufstand machen wegen einem dämlichen Wecker?

"Einfach so?", fuhr ihn der Alte an. "Einfach so? Du törichter Junge! Keine Uhr der Welt bleibt einfach so stehen. Schon gar nicht..."

"Dann ziehen Sie sie halt wieder auf", schlug Valentin vor.

"Aufziehen? Bist du des Wahnsinns? Das ist unmöglich. Der natürliche Lauf ist unterbrochen worden! Diese Uhr hat vor weitaus mehr als acht Stunden den abzuleistenden Dienst verweigert. Man kann sie nicht mehr aufziehen! Das ist...das wäre der reinste Frevel an meinen Aufzeichnungen! Ich kann die Uhr nicht mehr aufziehen. Der vorherbestimmte Zeitpunkt des folgenden Stillstands..."

Er hastete zurück zum Kompendium und blätterte es erneut panisch durch.

"9. September um exakt 16 Uhr 53 und 27 Sekunden! Wie ich es dir gesagt habe: Verlorene Zeit ist nicht wieder aufzuholen! Wenn ich die Uhr jetzt aufzöge, würde sie nicht am 9. September um exakt 16 Uhr..."

"Dann ziehen Sie sie halt ein bisschen weniger auf. Sie können der Zeit doch ein Schnippchen schlagen."

Nun rastete der kontrollversessene Mann völlig aus. Wutentbrannt packte er das Kompendium und schlug es vor sich auf den Tisch, mit einer derartigen Wucht, dass selbst das edle Telefon erzitterte.

"Ein bisschen weniger?!", brüllte er und raufte sich vor Wut die Haare. "Ein bisschen weniger ist keine exakte Angabe. Ein bisschen weniger ist der ungehobelte Frevel eines törichten Dummkopfs. Ein bisschen weniger! Das wäre ja, wie wenn plötzlich der Tod durch diese Tür käme, unangemeldet, im falschen Augenblick!"

Du meine Güte, dachte sich Valentin und schüttelte den Kopf. Der spinnt ja wirklich. Oh, da ist Krähenkacke am Fenster. Glück gehabt...

So verließ er den Laden. Von draußen beobachtete er ihn noch eine Weile, wie er immer und immer wieder das Chronographenkompendium durchblätterte und sich die grauen Haare raufte. Herr Zacharias war offenbar gerade dabei, vollends den Verstand zu verlieren. Unter unzähligen Krähenaugen riss sich Valentin die Krawatte vom Hals und ging ein wenig spazieren - etwas Zeit totschlagen, bis sich der alte Mann wieder beruhigt hatte.

Als er nach einer Weile zurückkehrte, war es in dem Geschäft ganz still geworden. Herr Zacharias saß in seinem Ohrensessel und war ganz friedlich eingeschlafen. Noch immer hielt er den kleinen Frevelwecker in seiner Hand, der zu seiner Verwunderung wieder Geräusche von sich gab.

Krrrrrrx...krrrrrrx...krrrrrrx...

Man konnte dieses unverschämt schäbige Rasseln besonders gut hören, denn es war inzwischen tatsächlich sehr still geworden in dem beschaulichen Laden.

Zu still. Erst jetzt bemerkte Valentin, dass alle anderen Uhren stehengeblieben waren. Nie im Leben hätte sich Herr Zacharias in einem derartigen Augenblick ein Mittagsschläfchen gegönnt. Und je mehr der plumpe Junge darüber nachdachte, desto mehr wurde ihm klar, dass sich der kontrollversessene Mann während seiner Anwesenheit noch nie ein Mittagsschläfchen gegönnt hatte. Entsetzt machte er einige Schritte zurück, bis er mit dem Rücken an die Ladentür stieß.

Herr Zacharias war tot, lebte nicht mehr, war für immer eingeschlafen. Eine Leiche saß da in dem Ohrensessel. Der Antiquitätenhändler hatte sich über den störrischen Wecker offenbar so derart geärgert, dass er vor Wut wohl alle Uhren angehalten hatte und am Ende selbst einen Herzinfarkt bekam.

Es war ein sehr stilvoller Tod gewesen, im Ohrensessel, aufrecht sitzend - genauso, wie Herr Zacharias Gevatter Tod seine ganz persönliche Art zu sterben befohlen hätte.

"Wenn Sie bitte warten würden, bis ich...Herr...äh..."

Er hatte sogar die weißen Stoffhandschuhe angezogen.

Die vom Tod verschmähte Katze

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