Читать книгу Die vom Tod verschmähte Katze - Matthias M. Rauh - Страница 24
Kapitel 21 - Narbenbetrachtung
ОглавлениеEs dauerte bis spät in die Nacht hinein, ehe Valentin auch nur annähernd begriff, was sich in den letzten Stunden alles zugetragen hatte. Immer und immer wieder starrte er dabei in den donnergrollenden Hexenhimmel und stellte sich vor, dass er es gewesen war, der den entarteten Fleck einst heraufbeschworen hatte. Er und kein anderer.
Ein alter Stadtplan brachte ihn schnell an die Grenzen seines Verstandes, denn eine Eulengasse existierte nämlich nicht. Nicht in dieser Stadt und wohl auch nicht in dieser Welt. Die Eulengasse war nichts als Phantasie, das Hirngespinst eines Verrückten. Als er aber seinen Geisteszustand ernsthaft in Frage stellte, zog er auch schon die Relikte des Wahnsinns aus seiner Tasche. Ein zerstörtes Mobiltelefon und eine zersprungene Nickelbrille.
Wie er es auch drehte und wendete, es bestand kein Zweifel mehr: Er hatte einen ganzen Nachmittag an einem Ort verbracht, der nicht existierte. Und ob er nun verrückt war oder nicht - es fühlte sich großartig an.
Die Euphorie sollte jedoch schnell verfliegen, als er am nächsten Morgen wieder in die Fänge des grauen Schulalltags geriet. Doch aus irgendeinem Grund fühlte sich der dumme Junge an diesem Tag unantastbar. Sollten sie doch quatschen, was sie wollten. Es gefiel ihm einfach, dass er jetzt jemanden kannte, der sie alle fertigmachen konnte.
"Denkst du gerade an den Tod?", fragte ihn das Mädchen namens Grabstein, als er geistesabwesend in den Schulhof starrte.
"Nein", sagte er. "Es hat nur wieder einmal Krach gegeben, aber das juckt mich nicht."
"Wieso? Was ist denn passiert?"
"Mein Schulheft wurde gestern ruiniert. Ich habe mir in der Nacht extra noch die ganze Arbeit gemacht, es abzuschreiben und es dann auf dem Schreibtisch vergessen. Und warum habe ich es vergessen? Weil ich wegen der ganzen Arbeit natürlich verschlafen musste. Der Glatzkopf ist jedenfalls total ausgerastet. Am liebsten hätte ich ihm den Hals umgedreht."
"Kann ich verstehen", sagte Luiza. "Es gibt wohl eine ganze Reihe von Leuten, die heimlich Mordgelüste gegen ihn hegen."
"Du auch?"
"Nein", sagte sie. "Ich habe ja meine Bücher."
"Bücher?"
"Ja", meinte sie allen Ernstes. "Wer Bücher hat, dem können solche Gestalten nichts anhaben."
In diesem Moment ließen sich die Krähen im Geäst einer mächtigen Birke nieder - jenem Baum, der von Frühling bis Sommer dafür sorgte, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil der Schüler unter einem fürchterlichen Schnupfen litt. Valentin blieb wundersamerweise davon verschont. Die Birke war nämlich eine der wenigen Pflanzen, auf welche er nicht allergisch reagierte.
"Ist schon seltsam, oder?", bemerkte Luiza.
"Was?"
Sie stellte ihm keine Frage, sondern zeigte nur mit dem Finger in die Richtung seiner gefiederten Begleiter.
"Oh nein, nicht schon wieder", versuchte er sich um eine Erklärung zu drücken. "Das ist eine längere Geschichte. Und die erzähle ich nicht, weil sie mir ja sowieso kein normaler Mensch glauben würde."
"Sehe ich etwa aus wie ein normaler Mensch?"
Und so blieb ihm nichts anderes übrig, als dem schwarzhaarigen Mädchen die unglaubwürdigste und verrückteste Räuberpistole aufzubinden, die je auf einem Schulhof erzählt wurde. Als er mit seinen Ausführungen fertig war, wunderte er sich, dass Luiza noch immer neben ihm saß.
"Was soll daran so kompliziert sein?", fragte sie ihn völlig unbeeindruckt.
"Wie bitte?", fuhr er sie völlig entgeistert an. "Heißt das, du glaubst mir? Das hört sich doch alles an wie totaler Schwachsinn."
"Kann natürlich sein", meinte sie. "Aber die Krähen sind ja nunmal hier. Und die Vorstellung mit dem Pickelgesicht und seinem Diener beim Rendezvous mit der Gewitterwolke hätte ich gerne gesehen."
"Das war wie im Kino", strahlte er. "Augustinus brauchte nicht einmal mit dem Finger zu schnippen. Das war die schlimmste Abreibung, die sie je erlebt haben. Hier..." Er zog die Nickelbrille aus seiner Jackentasche. "Die lag vor der Ladentür. Engels hat es richtig zerlegt."
"Wie schade", amüsierte sich Luiza. "Jetzt kann er ja gar keine Anordnungen mehr befolgen, so ganz ohne Durchblick."
"Stimmt", sagte Valentin. "Und das ist noch nicht alles." Er kramte erneut in seiner Jacke und zog Pappkes zerrupftes Handy heraus.
"Oh", freute sich Luiza. "Da leidet jetzt wohl jemand unter ganz schlimmen Entzugserscheinungen. Dabei wusste ich gar nicht, dass sich der Pappheini ohne das Ding überhaupt bewegen kann. Ich dachte wirklich, das wäre sein Gehirn."
In diesem Augenblick ertönte der Schulgong für das Ende der Pause. Während sich nun riesige Scharen von Schülern in die Richtung der Aula bewegten, fragte ihn Luiza doch allen Ernstes: "Kann ich das Bootshaus sehen?"
"Bist du wahnsinnig?", fuhr er entsetzt herum. "Das ist saugefährlich. Und außerdem hat mir Herr Augustinus verboten, mich der Bruchbude nochmal zu nähern."
"Wer hat denn gesagt, dass du dich ihr nähern sollst? Ich will nur ein bisschen..."
"Aber das geht nicht. Und normale Menschen können diese Art von Gewitter gar nicht wahrnehmen."
"Hervorragend", freute sich Luiza. "Dann werden wir wenigstens nicht gestört."
"Nein. Ich meine ja nur, dass..."
"Also, wo wohnst du?", unterbrach sie ihn unbeeindruckt. Und einen Moment später hatte sich das schwarzhaarige Mädchen den Zettel mit seiner Adresse auch schon in die Manteltasche gesteckt.
Als Valentin am Nachmittag wieder in die Einfahrt der kleinen Gärtnerei lief, war er sich sicher, dass sich Grabstein nur ein wenig über ihn lustig machen wollte. Doch er sollte sich getäuscht haben.
"Dort ist sie also, die Gewitterbude..."
Beinahe wäre er zu Tode erschrocken. Eine Hand hatte ihn von hinten an der Schulter gepackt. Eine sehr kalte Hand.
"Was machst du denn hier?", platzte es aus ihm heraus.
Luiza grinste. "Ich hab dir doch gesagt, dass ich vorbeikomme. Oder glaubst du, ich würde mir so etwas entgehen lassen?" Sie machte ein unmissverständliches Augenzwinkern in die Richtung des Gewitters. Valentin konnte es nicht fassen.
"Soll das etwa heißen, du kannst das Unwetter sehen?", fuhr er sie aufgeregt an.
"Natürlich", antwortete sie schroff. "Ist ja auch äußerst unauffällig, so ein halber Weltuntergang."
Sie kramte in ihrer Manteltasche und holte eine kleine silberne Kamera heraus. "Aber du hast Recht. Ich habe mich gleich gefragt, wieso hier kein riesiger Presseauflauf herrscht. Ein Unwetter bei strahlendem Sonnenschein, das wäre doch eine tolle Titelstory. Aber es gibt eine ganz einfache Erklärung, warum sich kein Mensch darum kümmert: Normale Menschen können es weder sehen noch hören. Und auch keine Kamera. Schau, was ich vorhin fotografiert habe." Luiza hielt ihm den kleinen Bildschirm vors Gesicht. Er zeigte ein Foto vom Wald. Ein strahlend blauer Himmel zierte den Schnappschuss.
"Und jetzt kommt das Allerbeste", sagte sie und präsentierte ihm das nächste Bild. Es zeigte eine alte Holzbaracke, deren Dach an vielen Stellen aufgespalten war. Aber es fehlte das gespenstische Gewächs, welches all die Narben und Zerstörungen hervorgerufen hatte. Die Kamera war tatsächlich nicht in der Lage, es abzubilden. Valentin blieb die Spucke weg.
"Du warst am See?", stammelte er entsetzt.
Sie richtete die Kamera auf den Boden und löste aus. Der Bildschirm zeigte ihm nun ein paar schwarze Schuhe, die Bekanntschaft mit jeder Menge Matsch und Dreck gemacht hatten - Luizas Schuhe. Fassungslos blickte er auf den Boden und überzeugte sich vom Zustand der Originale.
"Bist du verrückt? Das kann tödlich enden!", wies er das finstere Mädchen zurecht. "Herr Augustinus hat mir strikt verboten, mich dem alten Bootshaus noch einmal zu nähern. Das Ding kann einen umbringen!"
"Und da hat er Recht", stimmte sie ihm zu. "Die Gewitterbude ist wirklich nicht von schlechten Eltern. Aber wir hatten eine gute Zeit dort unten am See, die Hexe und ich. Sie scheint sich übrigens einen Riesenspaß daraus zu machen, mit Glasscherben zu schießen. Und falls du es noch nicht bemerkt haben solltest: Da ist irgendwas drin, das sonderbare Geräusche von sich gibt. Hörte sich fast an wie eine Katze."
"Eine Katze?", stöhnte Valentin entsetzt. "Oh, nein!"
"Wieso? Was ist denn damit?"
"Das ist...ähm, ach vergiss es."
"Übrigens: Das Bootshaus schien meine Anwesenheit auf irgendeine Weise gespürt zu haben", erzählte Luiza. "Denn zuvor hat es dort hinten nur geregnet. Als ich aber ein paar Schritte in die Richtung des Sees gemacht habe, fing plötzlich das Gewitter an."
"Ist mir ebenfalls passiert", meinte Valentin. "Vor ein paar Tagen war die ganze Landschaft dort hinten in einen gespenstischen Nebelschleier gehüllt. Gespenstisch, aber ruhig. Bis ich den See erreichte. Es besteht kein Zweifel: Die verwünschte Bruchbude denkt."
"Und das ist alles nur geschehen, weil du diese komische Kiste dort geöffnet hast?"
"Sieht so aus."
"Ich muss zugeben, dass du tatsächlich ein ziemlich schräger Vogel bist", stellte Luiza fest. "Kann es sein, dass da jemand einen gewissen Hang zum Unglück entwickelt hat?"
"Das Unglück sucht sich seinen Raben, nicht umgekehrt."
"Cooler Spruch."
"Hat Herr Augustinus gesagt."
Es war natürlich keine Überraschung, dass sie von dem Thema fasziniert war. Und so kam es, wie es kommen musste. Luiza stellte ihm eine Frage - und zwar genau jene, vor welcher er sich am meisten fürchtete: "Was hältst du davon? Wir könnten deinem Herrn Augustinus ja morgen nach der Schule einmal einen Besuch abstatten."
Da hatte er den Salat.
"Ich weiß nicht", stammelte er. "Ob ich die seltsame Gasse überhaupt wiederfinde? Und ich glaube nicht, dass er begeistert sein wird, wenn ich jemanden mitbringe. Eigentlich weiß ich ja noch nicht einmal, ob ich ihn überhaupt besuchen darf. Er kann nunmal..."
Er zögerte kurz, dann zog er Engels´ zerbröselte Brille hervor und hielt sie Luiza wie ein Mahnmal vor die Nase. "Na ja, er kann auf eine ganz spezielle Weise sehr abweisend sein."
"Ach was", erwiderte sie unbeeindruckt. "Die beiden Pfeifen haben es ja auch verdient gehabt. Aber mich wird er schon nicht gleich umbringen."
"Ich weiß nicht", wiederholte er und suchte nach der nächsten Ausrede. "Oh, da fällt mir ein, das geht ja gar nicht. Ich muss ja den Bus erwischen. Der fährt nicht so oft in meine Richtung, weißt du?"
"Ach, das ist doch egal", erstickte Luiza jegliche Bedenken. "Wir fahren sowieso mit dem Roller."
Plötzlich bekam Valentin ganz große Augen. "Wie? Mit dem Roller?"
Wieder antwortete sie nicht, sondern fotografierte mit ihrer Kamera blindlings über ihre Schulter. Der kleine Monitor zeigte ihm nun ein Bild von einem ziemlich betagten Motorroller. Stumpfer, himmelblauer Lack, Beulen und Rost. Vor lauter Krähengeflatter war ihm das Gefährt gar nicht aufgefallen, als er den Hof der Gärtnerei betreten hatte. Er konnte es nicht fassen. "Was, du fährst Motorroller?"
Sie nickte.
"Ach", stammelte er unbeholfen. "Deswegen sind deine Hände immer so kalt..."
"Also, wir treffen uns morgen nach der Schule. Auf dem Parkplatz. Mach ja keinen Rückzieher."
Und bevor Valentin auch nur ein Hauch einer weiteren Ausrede einfiel, hatte sie schon auf besagtem Roller Platz genommen und brauste mit einer blauen Zweitakt-Abgaswolke davon. Ein kurzes Winken noch, dann war sein Schicksal besiegelt.
Mädchen, eben.