Читать книгу Die vom Tod verschmähte Katze - Matthias M. Rauh - Страница 4
Kapitel 1 - Kleine Unannehmlichkeiten
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Die kleine goldene Uhr war ganz plötzlich stehengeblieben. Um genau acht Uhr dreißig und elf Sekunden hauchte sie ihr tickendes Leben aus. Plötzlich, aber nicht unerwartet.
Mit zufriedener Miene öffnete der Antiquitätenhändler die Schublade unter dem Ziffernblatt und zog einen winzigen Schlüssel heraus. Dann zählte er die Umdrehungen, die nötig waren, um das kleine Ding wieder in Betrieb zu setzen. Eins, zwei, drei, vier, fünf - und noch diese halbe, wahrhaft meisterliche Umdrehung, die es brauchte, bis eben dieses leise, kaum vernehmbare Klack! im Inneren des Uhrwerks zu hören war. Diesen einen, winzigen Punkt nicht zu verpassen, war eine hohe Kunst. Eine Kunst, die nur von einem Meister beherrscht wurde.
Als die Uhr wieder zu ticken begann, legte er den Schlüssel zurück in seine Schublade und verschloss sie sorgfältig. Dann überprüfte er nochmals die korrekte Position der Zeiger, denn ein Fehler wäre einem Weltuntergang gleichgekommen.
Dem plumpen Jungen auf der Leiter, dessen simple Aufgabe darin bestand, die vielen Bücher in den Regalen abzustauben, kam es nicht weiter verwunderlich vor, dass der Antiquitätenhändler schon vorher wusste, wann eine Uhr ihr Ende erreichte. Schließlich hatte er längst herausbekommen, dass der merkwürdige Herr Zacharias über seine tickenden Zeitgenossen genauestens Buch führte.
Das Chronographenkompendium lag kaum übersehbar auf dem Tisch neben der Registrierkasse - ein überdimensionales Werk mit edlem Ledereinband, welches als einziges in diesem Laden nicht abgestaubt werden musste. Dazu wurde es schließlich viel zu oft aufgeschlagen. In diesem Buch befanden sich unzählige Listen über unzählige Uhren. Man konnte hier nachsehen, woher die jeweilige Uhr stammte, wann genau sie bislang stehengeblieben und mit welcher Anzahl an Umdrehungen sie wieder in Gang zu setzen war. Wann dies zu geschehen hatte, war exakt berechnet worden, so dass der gewissenhafte Mann den Zeitpunkt eines Stillstands auf die Sekunde genau vorhersagen konnte. Die Uhr mit der tanzenden Ballerina würde morgen um elf Uhr dreiundvierzig und sechzehn Sekunden an der Reihe sein. Schlüssel unter dem Tanzboden, sechseindreiviertel Umdrehungen bis zum meisterlichen Klack.
Nun, da alles wieder seinen gewohnten Gang nahm, setzte sich der Alte wieder in seinen geliebten Ohrensessel und gönnte sich einen Blick in seine Tageszeitung. Was es wohl alles zu berichten gab, vor exakt 150 Jahren..?
Dem Jungen auf der Leiter stieg derweil eine Staubwolke zu Kopf.
"Haaah...tschiiie! Ups..."
Pikiert blickte Herr Zacharias zu seinem Angestellten hinüber - so derart pikiert, dass man direkt meinen konnte, er hätte dieses Wort erfunden. Dann schüttelte er den Kopf.
"Verzeihung", sagte der Junge und wunderte sich dabei über sich selbst. Was hatte er da eben von sich gegeben? Verzeihung?
An dieser Stelle darf nicht unerwähnt bleiben, dass besagter Junge gerade einmal 15 Jahre alt war und wie ein Fremdkörper im Arsenal der vielen Kostbarkeiten wirkte. Gewiss, er trug einen Anzug - noch dazu ein sehr altmodisches Modell. Aber das reichte eben nicht aus, um ihn zu einem geschätzten Teil dieses ehrwürdigen Ambientes zu machen. Dieser Anzug war kaum mehr als Faschingsmaskerade und half kein bisschen, seine in jeder einzelnen Bewegung manifestierte Unbeholfenheit zu verschleiern. Dreimal war er allein an diesem Morgen von der Leiter gefallen.
Nun mag man sich fragen, wie dieser Junge überhaupt den Weg in diesen Laden finden konnte - und was den gewissenhaften Mann nur bewogen hatte, dies auch noch zu dulden.
Der Zufall war es, der Valentin Kraus einst in das kleine Geschäft an der Ecke führte. Nichts als reiner Zufall. Denn eigentlich hätte er diesen Job gar nicht nötig gehabt, schließlich besaßen seine Eltern ja eine kleine Gärtnerei, wo immer eine Menge Arbeit anfiel. Doch das Schicksal hatte ihm, dem ewigen Verlierer, schon früh die Grenzen aufgezeigt. Valentin Kraus kämpfte nämlich nicht nur mit den Tücken der Schwerkraft, sondern litt obendrein auch noch unter einem äußerst hartnäckigen Heuschnupfen - ein Problem, welches ihm schon im sommerlichen Alltag zu schaffen machte.
Im Alter von fünf Jahren hatte er einmal Bekanntschaft mit indischen Lupinen gemacht, die wunderbar dufteten und ihm zeigten, was so ein schlechtes Karma alles anrichten kann. Er überlebte zwar, musste seither aber um alles, was nach Gärtnerei aussah, einen großen Bogen machen.
Der Heuschnupfen war auch der Grund, weswegen man ihm oft vorhielt, ein wenig zu blass um die Nase zu sein. Aber es gab einfach nichts, was er dagegen tun konnte. Der plumpe Junge auf der Leiter war wohl einfach kein Kind des Sommers, mehr gab es dazu nicht zu sagen.
Eine Anzeige in der Tageszeitung war es schließlich gewesen, die ihn in dieses seltsame Geschäft führen sollte: Antiquitätenhandel L. Zacharias - klein und unscheinbar, gedruckt in einer biederen Schriftart, mit wenigen Worten und einer Telefonnummer. Ein dunkler Ort, der wie geschaffen schien für das Blassgesicht.
Inzwischen wusste er, dass besagte Nummer ein stilvolles Telefon klingeln ließ, welches auf einem Tischchen mit Spitzendeckchen stand. Natürlich war es mit peinlichster Sorgfalt auf Hochglanz poliert worden. Und weil sich wirklich kein einziger Fingerabdruck darauf befand, ging Valentin davon aus, dass es vom Antiquitätenhändler tatsächlich nach jedem Telefonat neu aufpoliert wurde. Vielleicht benützte Herr Zacharias aber auch die weißen Stoffhandschuhe zum Telefonieren. Er trug sie bei besonderen Anlässen und sah damit aus wie ein englischer Butler. Ein Butler, der die Ruhe und Erhabenheit dieses Ladens zu schätzen wusste - genau wie das prunkvolle Telefon, welches es sich doch tunlichst verbat, von Anrufen jeder Art belästigt zu werden...
"Wenn Sie sich bitte die Hände waschen würden, bevor Sie mit dem Abstauben fortfahren, Herr...äh...", tadelte der Alte seinen Angestellten, wobei ihm dessen belangloser Nachname auch diesmal nicht einfallen wollte. Er konnte es wohl auch kaum verstehen, warum sein Gehilfe es einfach nicht schaffte, diese Frevelnase im Zaum zu halten. Dem Jungen mangelte es ganz offensichtlich an der nötigen Kontenance. Er war ganz und gar ungeeignet für diese Tätigkeit.
Dabei hatte Valentin nicht nur mit seiner Allergie und dem Bücherstaub zu kämpfen. Es lag natürlich auch an dem Temperaturschock, den man zwangsweise erlitt, wenn man den Laden des edlen Herrn Zacharias betrat. Es war schließlich ein heißer Morgen im August, und das Thermometer sollte laut Wetterbericht die 30-Grad-Marke noch vor zwölf Uhr überschreiten.
Doch die Hitze schien aus irgendeinem Grund einen Bogen um das kleine Geschäft zu machen. Kümmerliche 13 Grad zeigte das Quecksilber in dem liebevoll verzierten Wetterhäuschen an der Wand. Warum - das konnte Valentin zu diesem Zeitpunkt natürlich noch nicht wissen. Er vermutete, dass es einfach eine unerklärliche Eigenheit dieses Ladens war. Altes Gemäuer eben. Sehr altes Gemäuer...
Was für ein dummer und überaus unbeholfener Junge, dachte Herr Zacharias, während sein Gehilfe auf seine Leiter stieg, um einige Schriften mit dem Titel Die Zeichen der Zeit abzustauben.
"Äußerste Vorsicht bitte im Umgang mit diesen Büchern", ermahnte ihn der Alte sogleich. "Diese Werke sind genau 242 Jahre alt, vom Dichter noch handschriftlich verfasst worden und demnach unersetzlich. Äußerste Achtsamkeit, bitte..."
"H-hmmm", machte Valentin und verbeugte sich sogar dabei. "Sehr wohl."
Da betrat plötzlich eine ältere Frau den Laden, die viel besser zum Stil des Inventars passte als der schniefende Kobold auf seiner ewig wackelnden Leiter. Sie trug einen weißen Sommerhut, eine dazu passende Handtasche und hatte auffallend rot lackierte Fingernägel. Es war unübersehbar: Die Dame hatte Stil - auch wenn ihr Gesicht ein wenig unnatürlich aussah, etwas überschminkt und der vielen Schönheitskuren überdrüssig. Sie interessierte sich für eine Uhr im Schaufenster.
"Eine Uhr?", fuhr der Antiquitätenhändler aufgebracht herum.
"Ja, diese in Gold gefasste Uhr dort", sagte die Frau und rieb sich wegen der Kälte sogleich die Arme. "Das ist doch echtes Gold, oder?"
"Aber selbstverständlich, gnädige Frau", sprudelte es aus dem Verfechter der ganz alten Schule nur so heraus. "Das ist allerfeinste Kunst aus einer Mailänder Manufaktur. 1837 hergestellt, hat dieses Stück einst zum Besitz einer hiesigen Gräfin gehört. Hervorragender Adel, versichere ich Ihnen."
"Ich kaufe sie."
Herr Zacharias starrte ihr ungläubig ins Gesicht. "Nein, nein, gnädige Frau, das ist unmöglich. Haben Sie eine Vorstellung, wie teuer dieses Stück ist?"
Unverzüglich zückte die Frau ihre goldene Kreditkarte. "Ach, ich bitte Sie. In meinen Kreisen spielt das doch nun wirklich keine Rolle."
Herr Zacharias wirkte nun geradezu verzweifelt. "Nein..."
"Wie bitte?"
"Äh, ich meine...oh, oooh! Ich sehe gerade...welch ein Ärgernis! Ich bin untröstlich, gnädige Frau. Doch zu meinem Bedauern kann ich Ihnen diese Uhr nicht verkaufen."
"Warum nicht?", fragte sie.
"Weil diese Uhr...weil diese eine Uhr...äh...bereits verkauft ist. Ich bitte Sie vielmals um Verzeihung, dass mir dies nicht schon vorher aufgefallen ist."
Valentin hatte bereits geahnt, dass es der Antiquitätenhändler hasste, wenn ein Kunde die Absicht äußerte, eine seiner Uhren zu kaufen. Es sprudelte zwar nur so aus ihm heraus, wenn ihn jemand nach dem geschichtlichen Hintergrund oder einer besonderen Eigenheit einer Uhr fragte, aber er benahm sich dabei eher wie ein Sammler, der stolz über seine neuesten Errungenschaften philosophiert.
Nein, Herr Zacharias mochte vielleicht Kommoden, Grammophone oder Vasen verkaufen - doch so, wie er sich anstellte, wenn es um einen seiner tickenden Zeitgenossen ging, konnte man direkt meinen, er hätte noch nie im Leben eine Uhr an irgendjemanden veräußert. Dafür waren sie ihm viel zu sehr ans Herz gewachsen. Und im Chronographenkompendium war hinter keinem einzigen seiner Schätze jemals das Wort verkauft vermerkt worden. Herr Zacharias kaufte Uhren - aber er verkaufte sie nicht. Niemals.
"Verkauft?", hakte die Frau nach. "Aber wie kann das denn sein? Sie steht doch hier im Schaufenster."
"Nun, äh...dafür gibt es ganz gewiss einen plausiblen Grund, gnädige Frau. Ich nehme an, mein glückloser Angestellter hier hat sie noch nicht..."
Mit einem strengen, ja geradezu bösen Blick musterte die Frau den plumpen Jungen, der auf seiner Leiter stand und gerade am Kragen seines Anzugs herumzupfte.
"...er hat sie noch nicht ausgeliefert", vollendete der Alte seinen Satz.
"Soso", meinte die Frau, wobei ihr Blick nur noch herablassender wurde. "Nun ja. Gutes Personal ist heutzutage eben nur noch sehr schwer zu finden."
"Sie sagen es, Sie sagen es, verehrte Dame", stimmte ihr der Antiquitätenhändler erleichtert zu. "Kann ich Ihnen sonst noch irgendwie behilflich sein?"
"Nein, nein", erwiderte sie und reichte ihm ihre Karte. "Wenn Sie noch einmal eine derartige Uhr...nun, Sie wissen schon. Rufen Sie mich einfach an."
"Selbstverständlich, gnädige Frau, selbstverständlich", sagte Herr Zacharias, verbeugte sich höflich und öffnete ihr die Tür. Als sie den Laden verlassen hatte, warf er die Karte in den Abfalleimer.
"Sie verkaufen Ihre Uhren wohl nicht besonders gern", erlaubte sich sein Gehilfe eine vorlaute Bemerkung.
"Pass du lieber auf, deinen Hemdkragen in Ordnung zu bringen!", tadelte ihn Herr Zacharias sogleich und wirkte dabei plötzlich seltsam menschlich. Er hatte seinen Angestellten soeben tatsächlich geduzt. Ein kleiner Fauxpas und ein Zeichen, dass er schnell die Beherrschung verlieren konnte, wenn es um seine geliebten Uhren ging.
"Aber Sie haben Recht, Herr...äh...", stimmte er ihm zu. "Ich verkaufe keine Uhren. Niemals."
"Aber warum stellen Sie sie dann überhaupt hier im Laden aus?"
Herr Zacharias bekam ganz leuchtende Augen. "Weil ich sie um mich haben muss, immerzu. Ich kann keine einzige jemals aus den Augen lassen. Die Zeit ist es, die mich fasziniert, verstehen Sie? Diese Stücke könnten alle ein Lied von der Zeit singen. Sie haben Dutzende von Generationen überdauert, sind Sekunde um Sekunde an ihren ursprünglichen Besitzern vorbeigezogen. Menschen kommen und gehen, aber diese Gegenstände hier haben alle etwas Dauerhaftes, Beständiges. Sie sind meine ganz persönliche Art, die Zeit einzufrieren."
"Aha", sagte sein Gehilfe.
"Wo war ich stehengeblieben?", dachte Herr Zacharias laut nach. "Ach, ja! Die Zeit. Die Zeit ist die Straße der Welt, die einzige Konstante im Universum. Sie ist durch nichts aufzuhalten, eine nicht zu bändigende Macht. Zeit kann nicht repariert werden. Wenn es zu spät ist, bleibt es zu spät. Es ist niemals wieder gutzumachen, ganz egal, was man auch unternimmt. Keine Sekunde hat sich jemals wiederholt, kein Wimpernschlag ist je zurückgekehrt. Die Zeit ist wie eine niemals endende Sinfonie. Sie unterliegt einer strikten Ordnung und kennt keinerlei Nachlässigkeiten. Präzision ist ihr oberstes Gebot."
Es mag ein Zufall gewesen sein, dass ausgerechnet in diesem Augenblick das allstündliche Uhrenkonzert seine Runde machte. Obwohl ein Zufall in der geordneten Welt dieses merkwürdigen Eigenbrötlers eigentlich gar nicht existieren konnte.
"Da hören Sie es", frohlockte er stolz. "Keine dieser Uhren hat auch nur den Bruchteil einer Sekunde zu früh mit dem Läuten begonnen. Das ist wie Musik in meinen Ohren."
"Aha. Aber wieso warten Sie dann trotzdem immer, bis die Uhren zum Stillstand gekommen sind? Sie können sie doch schon vorher wieder aufziehen."
"Nein, nein, nein! Das geht auf keinen Fall", belehrte ihn Herr Zacharias. "Das wäre unpräzise, ja geradezu töricht. Denn dann wäre es unmöglich, den genauen Zeitpunkt des nächsten Stillstandes vorherzusagen. Es würde also ein Fehler entstehen, der sich nur immer weiter ausbreiten würde. Und stellen Sie sich mal vor, was dann geschähe: Jede Uhr könnte dann einfach im nächsten Augenblick stehenbleiben, aber auch mitten in der Nacht. Man würde es vielleicht tagelang nicht bemerken. Wenn ich aber weiß, wann sie ihr Ende erreicht, kann ich sofort eingreifen und ihr neues Leben einhauchen. Und außerdem ist es ein Moment der absoluten Macht, der einem die Fähigkeit verleiht, der Zeit auf eine gewisse Art und Weise ein Schnippchen zu schlagen, wenn auch nur symbolisch. Ein kleines symbolisches Schnippchen eben, wenn Sie verstehen, Herr...äh..."
Valentin schüttelte den Kopf.
"Ich brauche dann nur am Zeiger zu drehen, schon ist die verlorene Zeit wieder aufgeholt. Verstehen Sie? So kann man sie überlisten, wie gesagt, im übertragenen Sinne zumindest. In diesem Augenblick habe ich sozusagen die Macht über sie. Macht über etwas, das nicht zu bändigen ist. Das ist bei der Zeit so ähnlich wie mit dem Tod. Jeder weiß, dass er unerbittlich ist und in keinster Weise mit sich handeln lässt. Man kann ihm einfach nicht entkommen. Aber wie wäre es, wenn man ihn, statt ängstlich auf seine Ankunft zu warten, bestellt wie einen billigen Laufburschen und ihm befiehlt, seine Sense gefälligst dann zu schwingen, wenn es einem selbst am besten...oh, Verzeihung."
Der Junge verzog das Gesicht, während sich der Alte kurz räusperte. Er konnte wohl, wenn man ein Gespräch über die Zeit mit ihm führte, selbige ganz schnell vergessen. Valentin nahm sich vor, das Thema in Zukunft zu vermeiden. Der Mann war zweifellos verrückt.
"Oh", fasste sich Herr Zacharias wieder. "Ich hoffe, ich habe Sie mit meinen Gedanken über den Tod nicht zu sehr verängstigt, Herr...äh..."
"Nein, nein", ächzte Valentin.
Wieder zerrte er am lästigen Kragen seines dunkelgrünen Anzugs, der zum Thema Zeit sicher auch einiges beizutragen gehabt hätte: Von Urgroßmutter einst noch liebevoll aufgebügelt, anschließend siebzig Jahre aufbewahrt - post mortem sozusagen - und konserviert durch nichts als Dunkelheit und Mottenkugeln. Das Ding kratzte an allen nur erdenklichen Stellen! Aber der Antiquitätenhändler bestand darauf, dass sein Angestellter dem übrigen Interieur entsprechend gekleidet war. Die lächerliche Ruderclub-Krawatte mit den cremefarbenen Rauten machte es nur noch schlimmer. Kein Wunder, dass die Leiter Mordgelüste gegen ihn hegte!
"Haltung bewahren, das ist es, worauf es im Leben ankommt", begann Herr Zacharias von Neuem. "Haltung, in jeder Sekunde, unaufhörlich, so wie die Zeit. Das ist der Schlüssel zu allem Erstrebenswerten. Und äußerste Vorsicht bitte. Diese Werke dort oben sind noch handschriftlich verfasst."
"Sehr wohl", ächzte Valentin.
So machte er sich wieder an seine Arbeit - Bücher abstauben und nach Papierkäferlarven Ausschau halten (wobei er nicht die geringste Ahnung hatte, woran man die überhaupt erkennen konnte). Diese Tätigkeit war sterbenslangweilig. Doch zumindest glaubte Valentin, dass die unsichtbare Mauer, die zwischen ihm und dem Antiquitätenhändler stand, gerade ein wenig an Höhe verloren hatte. Der Alte war ziemlich verschroben, aber das war wohl völlig normal, wenn man sein ganzes Leben in einer derart traurigen Umgebung fristen musste.
Das Abstauben der Bücherregale war jedoch nicht Valentins einzige Aufgabe. Er hatte natürlich auch jene Tätigkeiten zu erledigen, die die Würde des vornehmen Herrn Zacharias untergraben hätten. Da gab es den Eingang, der stets gefegt werden musste und den Fußabstreifer, den er täglich auszuklopfen hatte. Und da war noch etwas, eine kleine Unannehmlichkeit, wie es der Antiquitätenhändler zu umschreiben pflegte. Und diese Unannehmlichkeit fiel aus heiterem Himmel herab, immerzu und sehr zum Ärger des peniblen Geschäftsführers.
Es waren die Hinterlassenschaften der Krähen, die unentwegt vor dem Schaufenster herabfielen - eine weitere unerklärliche Eigenheit dieses Ladens. Denn das Dach des altehrwürdigen Stadthauses war, warum auch immer, über und über von Rabenkrähen bevölkert.
Diese Tiere waren eine echte Plage, tummelten sie sich doch ausschließlich auf dem Dach dieses Hauses. Den Grund für dieses absonderliche Verhalten konnte sich Valentin nicht erklären. Es gab hier nichts zu fressen und auch keine Bäume, in denen sie Nester bauen konnten. Es existierte an diesem Ort rein gar nichts, was ihm aus Krähensicht attraktiv erschien - und trotzdem waren sie allgegenwärtig, eine echte Plage eben.
Herr Zacharias hatte vor wenigen Tagen sogar einen Fachmann für Ungeziefer-Vernichtung beauftragt, sich des lästigen Problems anzunehmen (wie er es formulierte). Doch die seltsamen Tiere besaßen offenbar so etwas wie ein Gespür für heraufziehende Gefahren. Der Mann kam, inspizierte das Dach und musste unverrichteter Dinge wieder abziehen. Kein einziger Vogel hatte sich während seiner Gegenwart mehr blicken lassen.
Doch kurz nachdem er gegangen war, ging das Gekrächze in luftiger Höhe von Neuem los, worauf sich Herr Zacharias gezwungen sah, abermals zum Hörer des würdevollen Telefons zu greifen.
Da hilft kein Giftköder, lautete der Kommentar des leicht genervten Experten, da die Tiere seiner Einschätzung nach gut organisiert wären und einen Vorkoster in ihren Reihen hätten. Diesen würde man sicher erledigen können, aber das wäre es dann auch schon gewesen. Der Mann meinte, dass man Krähen nicht umsonst die Fähigkeit nachsagte, Schlussfolgerungen zu ziehen...
Anschließend war er auf das Dach gestiegen, um dort eine wahrhaft furchteinflößende Vogelscheuche zu errichten. Das wird die Viecher vertreiben, hatte er prophezeit und dem Antiquitätenhändler eine gesalzene Rechnung geschrieben.
Nun gilt es als höchst ungewöhnliche Maßnahme, Vogelscheuchen auf Dächern zu beherbergen, aber Valentin fand, dass das Ding sehr gut zu dem alten Stadthaus passte. Es war ein schäbiges, in Lumpen gekleidetes Holzgerippe mit einem vertrockneten Kürbiskopf, welches der Mann einfach an die Dachantenne gebunden hatte. Es baumelte dort wie an einem Galgen, und wenn man genauer hinsah, dann konnte man sogar erkennen, dass irgendein seltsames Kraut aus seinem fratzenartigen Kopf wucherte. Bei einem Gewitter musste der Anblick wahrhaft furchteinflößend gewesen sein, da es schon bei jedem noch so schwachen Windstoß zu wackeln begann. Irgendwie schien es dem bizarren Strangulienchen dort oben so richtig zu gefallen. Wahrscheinlich vertrieb es sich die Zeit damit, Blitze einzufangen und sich über die vorbeiziehenden Passanten lustig zu machen.
Hätte Herr Zacharias nur einen einzigen Blick auf das Dach seines Hauses geworfen, wäre er sicher sehr empört gewesen. Aber der Alte ahnte offenbar nichts von besagter Maßnahme, sondern kümmerte sich lieber um seine geliebten Uhren. Valentin war sich jedoch sicher, dass es bald Ärger mit dem Ordnungsamt geben würde, schließlich haben Vogelscheuchen nunmal rein gar nichts auf Stadthausdächern verloren. Und dieses Gerippe trug zweifellos das Potenzial in sich, bei einem Sturm ungefragt den Standort zu wechseln...
Im Kampf gegen die verhassten Krähen erwies sich die Vogelscheuche übrigens als völlig unbrauchbar, da die Tiere den zerfledderten Gast schnell in ihr geheimnisvolles Krähenherz geschlossen hatten. Und so fiel eben weiter munter Vogeldreck vom Dach.
Als wieder einmal ein besonders üppiger Klatscher das Schaufenster besudelte, legte der Alte seine Zeitung beiseite und machte seinen Angestellten darauf aufmerksam: "Wenn Sie bitte diese Unannehmlichkeit beseitigen würden, Herr...äh..."
Kurz darauf stand sein Gehilfe bei brütender Hitze vor dem Schaufenster und versuchte, das Ärgernis von der Scheibe zu wischen. Dies war widerlich und hochriskant, da man dabei natürlich Gefahr lief, von weiteren Unannehmlichkeiten getroffen zu werden. Und so kam es, wie es kommen musste - nur weitaus perfider als gedacht...
"He, du!", rief da plötzlich eine Stimme. "He du, mit dem blassen Gesicht..!"
Das Unglück sollte nun über den plumpen Jungen hereinbrechen, ganz leise, aus dem Hinterhalt, und es hatte sich dabei noch eine recht hübsche Verpackung ausgewählt: Mädchen.
Sie kamen einfach wie aus dem Nichts dahergelaufen, so als hätten sie ihr ganzes Leben nur auf diesen einen Moment gewartet. Es waren keine gewöhnlichen Mädchen, sondern zwei wahrhaft umwerfend aussehende Exemplare vom Typ Mitten-in-den-Sommerferien, die einem im wahrsten Sinne des Wortes die Kinnlade herabfallen lassen konnten - mit langen Haaren, sonnengebräunter Haut, in engen Bauchfrei-T-Shirts, mit Sonnenbrillen, die sie in ihre Frisuren gesteckt hatten, Eiscreme und den natürlich obligatorischen Smartphones in den Händen. Zwei Mädchen, die offenbar gerade eine gute Zeit hatten. Und zwei Mädchen, die einen Jungen in einem höchst lächerlichen Aufzug sahen...
"Heee, duuu!!!", rief eine der beiden Schönheiten erneut. Im Spiegelbild der Fensterscheibe konnte Valentin erkennen, dass sie ein Schmetterlings-Tattoo am linken Oberarm trug.
"Ich?", stammelte er unbeholfen und wünschte sich ganz schnell in das Gewächshaus mit den indischen Lupinen zurück.
"Ja, dich meine ich! Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du wie ein gebügelter Clown aussiehst?"
"Häää?", fuhr er aus allen Wolken, während die Mädchen in wildes Gelächter ausbrachen. Entsetzt blickte er auf seinen antiquierten Sonntagsanzug herab. Dunkelgrüüün...
"Ähm, ich...Verzeihung!"
Worauf die beiden Blondinen erst richtig losprusteten: "Verzeihung! Pahahaha..!"
"Jetzt verrate mir mal eines", rief das Mädchen mit dem Tattoo, dem der Lachanfall nun schon die Tränen in die Augen trieb. "Was in aller Welt bewegt einen Menschen nur dazu, einen so derart lächerlichen Fetzen anzuziehen? Jobbst du etwa als Couchgarnitur?"
Wieder bogen sich die beiden vor Lachen.
"Und was wischst du denn da für ein komisches Zeug vom Fenster?", rief ihre Freundin.
Platsch! Volltreffer!
"Vogelkacke", gab Valentin niedergeschmettert zu und ließ die Schultern hängen. Die Mädchen fielen vor Lachen fast um.
"Steht dir gut!", quietschte das Mädchen mit dem Tattoo vergnügt. "Und noch viel Spaß mit deiner...Vogelkacke. Pahahaaa!"
Dann nahmen sie ihre Sonnenbrillen aus den vom Sommerwind umgarnten Haaren, wie in einem Werbespot, setzten sie auf und zogen kichernd weiter.
"Das war jetzt mal ein richtiger Trottel!"
"Ja, der war wirklich völlig bescheuert. Käffchen, Sweety?"
"Käffchen..."
Der plumpe Junge in dem besudelten Anzug blickte auf den Lappen, mit welchem er eben das Fenster abgewischt hatte und fühlte sich einfach nur erbärmlich. Zur falschen Zeit am falschen Ort - was für ein peinlicher Moment. Und wie ein Echo hämmerten nun die Worte des alten Antiquitätenhändlers durch seinen Kopf: Die Zeit ist durch nichts aufzuhalten, eine nicht zu bändigende Macht. Zeit kann nicht repariert werden. Wenn es zu spät ist, bleibt es zu spät. Es ist niemals wieder gutzumachen...
Und er hatte vor Aufregung tatsächlich Verzeihung gesagt...
Niedergeschlagen trottete er zurück zur Eingangstür und wischte sich den Dreck von seiner Schulter. Doch er sollte keine Gelegenheit bekommen, sich weiter über sein Unglück zu ärgern. Als er die Tür des Ladens öffnen wollte, packte ihn nämlich urplötzlich jemand am Arm und schob ihn rücksichtslos zur Seite.
"Aus dem Weg!", herrschte ihn eine finstere Gestalt an und stapfte in wahrhaft unverschämter Art und Weise in Herrn Zacharias´ Laden hinein. Es war ein Landstreicher, der einen löchrigen Mantel trug und sich mit einem krummen Gehstock vorwärts hangelte. Die vermeintliche Behinderung schien ihn jedoch kaum zu beeinträchtigen, so schnell, wie er sich damit bewegen konnte. Sofort legte sich eine Schnapswolke in die Luft. Als ihm Valentin folgen wollte, drehte er sich um und donnerte: "Draußen bleiben, Freundchen!"
Dann schlug ihm der Mann die Tür vor der Nase zu.
"Danke, sehr nett", ärgerte er sich und rüttelte an der Klinke. Doch die Tür ließ sich nicht mehr öffnen, obwohl sie der Widerling nicht abgesperrt haben konnte. So sehr Valentin auch daran zerrte, sie war keinen Millimeter mehr zu bewegen.
Da begann im Inneren des Ladens ein wilder Tumult.
"Nun, Lester Zacharias, du weißt, weswegen ich gekommen bin. Rück sie raus, sofort!" brüllte der Riese.
"Niemals!", schrie der Antiquitätenhändler. "Verlassen Sie sofort meinen Laden! Ich rufe die Polizei!"
"Das wird dir nichts nützen..."
So ungehobelt, wie sich der grobschlächtige Mann benahm, stand zu befürchten, dass er nicht lange fackeln und seinen Gegenüber schon im nächsten Augenblick umbringen würde. Valentin ließ von der Tür ab und versuchte, durchs Schaufenster zu erspähen, was im Laden vor sich ging. Der Ganove hatte den Antiquitätenhändler am Kragen gepackt und gegen eines der Bücherregale gedrückt.
"Ich weiß, dass du sie in der Kammer dort versteckt hältst!", brüllte er. "Also, her mit dem Schlüssel!"
Doch auf einmal drehte er sich um. Er schien gespürt zu haben, dass er beobachtet wurde. Sofort ging Valentin in Deckung, stolperte dabei und hoffte, dass ihn der Mann nicht gesehen hatte.
"Wo ist der Schlüssel?", donnerte dieser abermals. Und als Valentin den nächsten Blick riskierte, geschah Ungeheuerliches: Ein Flattern legte sich ganz plötzlich über seinen Kopf - ein Geräusch, wie es nur tausend Flügel erzeugen konnten. Es waren die Krähen.
Ja, die ganze Schar fiel in diesem Augenblick über ihn her, ganz so, als wäre sie von dem Widerling auf irgendeine geheimnisvolle Art und Weise befehligt worden. Ein riesiger Schwarm Rabenkrähen. Sie stürzten wie die Fallschirmjäger herab und hackten auf ihn ein. Das war zu viel. Entsetzt sprang er auf und ergriff schreiend die Flucht.