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Prolog - Das geheime Buch des Todes

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Die kleine Katze bewegte sich nicht mehr. Sie war beim Überqueren der Straße ein wenig zu unvorsichtig gewesen und augenblicklich getötet worden. Nun lag sie da, verendet auf dem nackten Asphalt, leblos und still.

Der Tod hatte alles mitangesehen - mehr noch, er hatte ihr Ende soeben mutwillig herbeigeführt. Aus dem Leben gerissen, wie man sagt, einfach so, kommentarlos und ohne jegliche Gewissensbisse. Zufrieden senkte er seine blitzende Sense und betrachtete sein jüngstes Werk.

Dem Tod machte der Anblick des verendeten Tiers nichts aus. Er zuckte nicht einmal mit den Augenbrauen, was vor allem daran lag, dass er gar keine Augenbrauen besaß. Keine Träne war jemals über sein kahles Knochengesicht geronnen, kein noch so flüchtiger Gedanke an Mitleid je in ihm aufgekommen.

Warum auch? Es spielte einfach keine Rolle für ihn, denn er war ja schließlich der Tod. Mitleid und Trauer waren rein menschliche Gefühlsregungen, die ihm - einer dem irdischen Leben übergeordneten Persönlichkeit - nichts anhaben konnten.

Der Tod verschwendete keinen Gedanken an derartige Dinge, vielmehr noch: Er hatte noch nie in seinem Leben, Verzeihung, in seinem Dasein Bekanntschaft mit einem ominösen Etwas gemacht, das der Bezeichnung Gedanke auch nur annähernd entsprochen hätte. In seinem Schädel herrschte eher etwas, das man vielleicht besser mit dem Wort Instinkt umschreiben sollte. Wobei dieses geradezu erbärmliche Wort auch schon wieder viel zu irdisch war, um ihm, dem Endgültigen, auch nur annähernd gerecht zu werden.

Der Tod war nunmal kein Wesen, sondern eher wie eine seelenlose Maschine. Er führte Befehle aus, nichts weiter. Und wenn die Katze gedacht hatte, ihr stünden die sagenumwobenen Sieben Leben zur Verfügung, so hatte sie sich eben getäuscht.

Vor dem Tod sind alle gleich, pflegten die Menschen immer zu sagen - und das stimmte sogar, auch wenn sie mit ihren kümmerlichen Gehirnen sonst kaum erwähnenswerte Erkenntnisse zu Tage förderten. Aus ihrer Sicht schien der Tod die einzig gerechte Konstante im Universum zu sein. Niemand konnte ihm entkommen, und niemand konnte sich von ihm freikaufen. Er duldete nämlich keine Diskussionen über sein Handeln. Und wer seiner Sense zu nahe kam, der war des Diskutierens ohnehin schnell überdrüssig. Ausnahmen gab es nicht. Für niemanden. Schon gar nicht für eine ganz beliebige Katze, die noch nicht einmal die Spur eines schwarzen Fells besaß.

Sieben Leben haben nur deine schwarzen Artgenossen, verdammte Katze, versuchte der Tod seine Erbarmungslosigkeit zu unterstreichen. Er spielte dabei auf einen Irrglauben an, dem die Menschheit schon seit vielen Jahrhunderten erlegen war. Katze und Katze war eben doch nicht dasselbe.

Nur die schwarzen Katzen, mein Freund...

Doch wie er da am Wegesrand stand und sah, wie eines dieser seltsamen Wesen bedenkenlos von einer mannshohen Mauer sprang, da musste sich der Tod eingestehen, dass sein Handeln in Sachen Schwarze Katzen eigentlich nicht konsequent genug war, um dem Bild des Erbarmungslosen gerecht zu werden.

Es stimmte nämlich: Diese Biester genossen den unverschämten Luxus von sieben Leben. Sieben verdammte Katzenleben. Warum dies so war, das wusste der Tod selbst nicht. Er hatte einfach nie näher darüber nachgedacht. Aber je weiter er sich nun in die Niederungen menschlicher Gedankenspiele herabließ, desto mehr kam er zu dem Schluss, dass sieben Leben doch so etwas wie eine Ausnahme darstellten.

Wäre eine schwarze Katze über die Straße gelaufen, hätte er sie zunächst einmal verschont, so lautete eben der Befehl. Gehandelt hätte er erst, wenn er sich sicher gewesen wäre, dass ihr Konto mit den berühmten Sieben Leben auch wirklich überzogen war. Er hätte das überprüft - mit einem kurzen Blick in sein Notizbuch. Er musste dazu nur die Zeit anhalten und sie bei Bedarf zurückdrehen. Schließlich konnte dann noch immer vollstreckt werden, in aller Ruhe - ein wahrer Klacks, wenn man der Endgültige war.

Mit der Knochenhand griff der Tod in die Nebelschwaden seines Umhangs und fühlte den eiskalten Einband seines kleinen Geheimnisses. Dabei zog er dieses Buch nicht besonders gern aus seinem Umhang. Ja, er drehte sich dabei sogar immer um, obwohl er ja wusste, dass ihn niemand beobachten konnte. Aber ein Blick in dieses Notizbuch bedeutete nunmal, dass er sich unsicher war, dass er sich gar getäuscht haben konnte, ausgerechnet er, den man den Unfehlbaren nannte.

Der Tod rechtfertigte den Gebrauch dieses Buchs immer mit der Tatsache, dass es sich dabei ja um kein von Menschenhand geschaffenes Werk handelte. Sich einem menschlichen Gegenstand zu unterwerfen, hätte seine Autorität in jeder Hinsicht untergraben. Das Buch mit den Leben aller schwarzen Katzen aber war überirdisch, ganz und gar unmenschlich und für Sterbliche außerdem unsichtbar. Es existierte nicht einmal für sie. Und wie bitteschön konnte es eine Schande sein, sich einem Gegenstand anzuvertrauen, der nicht existierte?


Heimlich zog er es aus den Schleiern seines unergründlichen Umhangs. Da war das geheimnisvolle Ding - tiefschwarz und eiskalt, so kalt, dass selbst das Weltall in seiner Gegenwart erfroren wäre. Und wenn man es öffnete, dann stieß es einen derart furchteinflößenden Katzenschrei aus, dass sogar der Tod hätte erzittern müssen, wenn er sich denn jemals einer derart jämmerlichen Gefühlsregung...

Na ja, lassen wir das besser.

Jedenfalls bestanden die Seiten dieses Buchs nicht einfach aus Papier, sondern aus handgeschöpftem Nebel. Und selbstverständlich waren sie nicht mit Tinte, sondern mit einem merkwürdigen Etwas beschrieben, das besonders dumme Menschen vielleicht mit dem Wort Gedanke bezeichnet hätten. Zudem war es klein und handlich, gleichzeitig aber auch unendlich groß. Je länger man nämlich darin blätterte, desto mehr schien dieses Büchlein seinen Leser mit Haut und Haar verschlingen zu wollen. Es besaß einfach kein Ende und verlor sich dort, wo das Ende eigentlich hätte sein müssen, in einem flüchtigen, raumlosen Nichts. Dem Tod konnte diese verheerende Eigenheit jedoch nichts anhaben, da er ja bekanntlich weder Haut noch Haar besaß.

Wäre aber einer dieser armseligen Menschen der Versuchung erlegen, dieses unfassbare Schriftwerk an sich zu nehmen, dann wäre er auf der Stelle kollabiert und von dem raumlosen Nichts verschluckt worden - mit einem lauten und überaus genussvollen Schmatzen. Der Sensenmann war sich sicher, dass dies dann geschehen würde. Und es hätte ihm sogar ein leichtes Lächeln abgerungen. Der Tod zu sein, muss ja nicht gleich zwangsweise bedeuten, einer gewissen Art von Humor gänzlich abzuschwören - auch wenn man nichts fühlt.

Aber all den Platz brauchte es, waren in diesem Buch doch die Lebenskonten sämtlicher schwarzer Katzen verzeichnet. Viele davon hatten das Gröbste schon lange hinter sich - sie waren tot und fristeten ihr Dasein in den Tiefen seines Umhangs. Andere dagegen hatten noch etwas Zeit, eine Galgenfrist sozusagen. Ihre Uhr tickte aber dennoch unausweichlich dem Ende entgegen, Sekunde um Sekunde, Stunde um Stunde, Katzenleben für Katzenleben.

Es waren ganze sieben Leben, um genauer zu sein, und damit genoss die schwarze Katze ein besonderes Privileg, welches sie von allen anderen Lebewesen unterschied. Warum diese Besonderheit existierte, darauf konnte sich der Tod nun wirklich keinen Reim machen. Und wie er da auf dem Gehsteig stand, da ertappte er sich dabei, dass sich seine Hand gerade unbewusst in die Richtung seines Schädels bewegt hatte. Sofort hielt er inne und erschauderte vor sich selbst. Der Endgültige wäre beinahe tatsächlich der Unsitte verfallen, sich am Kopf zu kratzen. Was allerdings eine zutiefst menschliche Regung gewesen wäre.

Verdammte Katzen.

Hastig steckte er das Buch zurück in seinen Umhang und überließ die tote Kreatur dem natürlichen Lauf der Zeit. Niemand hatte etwas von seinem kurzen Moment des Nachdenkens bemerkt. Und niemand sollte jemals etwas von seinem Geheimnis erfahren.

Zumindest niemand, der sterblich war.

So nahm er seine Sense und überprüfte sein nicht vorhandenes Spiegelbild. Schließlich wischte er die sommerliche Szenerie durch einen flüchtigen Wink seiner Knochenhand davon.

Er konnte das, denn er war der Tod. Und wie viele Leben schwarze Katzen auch haben mochten - der Tod beschloss, nicht weiter darüber nachzudenken. Er hatte seine Befehle und führte sie aus. Der Rest war ihm schlicht und einfach egal.

Aber seltsam war das trotzdem. Oder?

Die vom Tod verschmähte Katze

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