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»Jetzt zeigen sie so ’nen Quatsch schon am Nachmittag«

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Vier Fragen nach dem Anschlag aufs World Trade Center

Erstens. Als meine 80jährige Mutter am Tag des Anschlags auf die amerikanischen Nationalsymbole beim nachmittäglichen Zappen ziemlich zeitnah mit den ersten Katastrophenbildern konfrontiert wurde, schaltete sie den Apparat erbost aus: »Jetzt zeigen sie so ’nen Quatsch schon am Nachmittag«, wetterte sie in der festen Überzeugung, an einen Science-fiction-Film geraten zu sein, und da sie derlei »absurde« Horrorszenarios nicht goutiert, war der Fernsehnachmittag gelaufen. – Auch ich dachte an jenem Dienstag, angesichts all der entsetzt gen Himmel staunenden Menschen in den Straßenschluchten von Manhattan (das World Trade Center stand zu diesem Zeitpunkt noch), an Science-fiction: an Roland Emmerichs 1996 gelaufnen Film »Independence Day«. Nur ist es darin kein normales Passagierflugzeug, sondern wenigstens ein riesiges UFO, das den Traum von der amerikanischen Unverwundbarkeit beendet. Allerdings nicht nur den! Ähnlich gigantische UFOs tauchen zeitgleich über London auf, über Paris, Berlin usw. – im Film, bloß im Film![43] Doch die Blicke der ungäubigen gen Himmel starrenden Menschen waren in realitas die gleichen. Nachdem sich die wirkliche Wirklichkeit angeschickt hat, die Visionen des Kinos einzuholen, bedarf es für künftige Schocker wahrscheinlich gar keiner UFOs mehr: Die nächste Welle an Hollywood-Produktionen wird uns präziser zeigen, wohin unser aller Horrortrip geht, als jeder Leitartikel, der zur Zeit geschrieben wird. Könnte’s sein, daß der Science-fiction-Film in puncto Welterkenntnis mittlerweile der Schulphilosophie und sogar der Talkshow den Rang abgelaufen hat?

Zweitens. Viel ist zur Zeit die Rede vom Ende des (seit Amtsantritt von Bush jr. im Januar 2001 wieder offen grassierenden) Antiamerikanismus, wie er insbesondre unter Intellektuellen angesagt gewesen und dem ich für meine Person nur entkommen war, indem ich seinen negativen Grundimpetus in einen positiven umzumünzen suchte: Bereits Ende der 90er fand ich’s erstrebenswert, eine neue Identität jenseits alter Nationalklischees zu gewinnen und mich als europäischer Schriftsteller zu begreifen, sprich, der amerikanischen Herausforderung auch im Bereich der Literatur mit einem dezidiert europäischen Gegenkonzept zur Seite zu treten.[44] Doch jetzt, wo mir’s selbst beim Dauerlauf rund um die Hamburger Alster die Kehle schnürt, nämlich dort, wo man an der blumengesäumten Absperrung des amerikanischen Konsulats vorbeiläuft,[45] jetzt ist auch einer wie ich gern bereit, sich probeweise als »Amerikaner« zu begreifen. Als Teil also der weltweit vernetzten westlichen Wertegemeinschaft, und tatsächlich verspüre ich sogar die Verlockung, die amerikanische Erschütterung als meine ureigne zu begreifen. Doch was wird auf diese große Sympathiewelle folgen, sobald Bush zum Gegenschlag ausgeholt hat? Wahrscheinlich zögert er nur deshalb noch, weil ihm partout kein passendes islamisches Symbol einfällt, das es im Gegenzug zu zerstören gälte – die einzig angemeßne Kaaba liegt nun mal nicht im Irak, sondern auf dem Territorium eines Bündnispartners. Womit sich der traditionelle Vorzug des amerikanischen Denkens, komplexe Probleme auf einfache reduzieren und ihnen ein Gesicht geben zu können, in einen strategischen Nachteil verwandelt hat: Die Hydrastruktur des aktuellen Gegners hat nun mal tausend Köpfe.[46] Steht damit aber nicht auch von vornherein fest, daß die USA – und die hektisch betriebene Beförderung Bin Ladens zum Märtyrer in spe wird ihre nächste Niederlage bewirken –, daß die USA, was immer sie auch zerbomben werden, in diesem Kampf der Symbole nicht gewinnen können?[47]

Drittens. Noch vor wenigen Jahren herrschte auf der Welt das Gleichgewicht des Schreckens, kein Mensch konnte sich vorstellen, daß ein Riesenreich wie die UdSSR einmal auf vergleichsweise friedliche Weise implodieren und die USA als alleinige Supermacht übrigbleiben würden. Seither kann (und will) sich niemand vorstellen, daß den USA ein ähnliches Schicksal bevorstehen könnte, unter den neuesten Auspizien freilich eher als unfriedliche Explosion. – Die neue Verwundbarkeit macht die USA zwar wieder sympathisch, doch eben auch besiegbar;[48] wäre sie’s nicht, könnte sie’s sich ja leisten, den Tag des Terroranschlags zum Nationaltrauertag zu erklären und die Welt zu verblüffen: indem sie auf Gegenterror verzichtet. Und statt dessen alle islamischen bzw. islamistischen Führer zum Gespräch nach Ground Zero einlädt – auf ebenjenen Schuttberg, der einmal World Trade Center hieß. Aber die USA haben ihre einstige Handlungssouveränität schlagartig eingebüßt, und indem sie jetzt so übereifrig das zentralasiatische Machtvakuum für sich entdecken wollen, zeigen sie vor allem, daß sie bereits während der kurzenPhase des selbstgewählten Isolationismus unter Bush von der Supermacht zur Großmacht geschrumpft sind. Wenn aber das 20. Jahrhundert zu Recht das amerikanische genannt wird: Könnte der Sieger des neuen »grauen« Krieges, in dem sich islamische und westliche Welt zermürben werden, könnte der »lachende Dritte« nicht ebenfalls schon feststehen – und haben wir also vor wenigen Tagen zwar noch nicht den Anbruch, aber immerhin das Präludium des chinesischen Jahrhunderts erlebt?[49]

Viertens. Oder hat die alte Weltordnung doch noch eine Chance? Kriege, die im Namen Christi geführt wurden, sind durch den Verlauf der europäischen Moderne ad absurdum geführt geworden – welch ein Segen für die gesamte Menschheit, daß wir sukzessive »abgefallen sind vom rechten Glauben«, daß wir Ungläubige geworden sind, die sich trotzdem einen Minimalkonsens übers Miteinander-in-Frieden-Leben bewahrt haben! Wie, wenn wir das heilsame Gift der Aufklärung in die islamische und, leider sieht’s in gewissen Teilen der israelischen Bevölkerung ja nicht minder orthodox aus, in die jüdische Glaubenswelt hineinzuträufeln suchten, allerdings ex negativo: Höchste Zeit auch dort für einen Gottesstaat! Vergleichbar unserm Kirchenstaat und auch entsprechend winzig dimensioniert, zwecks Kanalisierung überschüssiger Glaubensenergien, die damit vom restlichen vorder- bzw. mittelasiatischen Raum abgezogen würden – das Konzept hat bei uns ja schließlich schon mal funktioniert! Aber kann man ein Erfolgsrezept überhaupt wiederholen – die Deklaration Gesamt-Jerusalems zur hochheiligen Zone, zur Schutzzone gewissermaßen für Fundamentalisten jeder Religion, bei gleichzeitiger Säkularisierung der restlichen Welt, die derzeit noch unter dem Syndrom antiquierter Glaubensdoktrin leidet? Ach, wahrscheinlich ist das nur ein unfrommer Wunsch in entsetzlich fromm anbrechenden Zeiten,[50] eine Frage mehr an den letzten Ausläufer einer Epoche, die unter der Last ihrer Antworten bald beendet sein wird.

(2001)

Vom Verschwinden der Dinge in der Zukunft

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