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Dick & durstig oder Wisch & weg?

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Wie aus der SPD die »SPD« wurde und warum die nächste Wahl immer die schlimmste ist

»Ich bin bereit«, verkündete – einen Tag nach der gewonnenen Niedersachsenwahl[67] – eine ganzseitige Anzeige in der überregionalen Presse; und der, der dazu seinen Schröder-Schädel in erschreckend übermenschlichen Dimensionen zur Schau stellte, ließ seine Betrachter keine Sekunde im Zweifel, wozu er bereit war: zu allem.

Ein Bild verrät bekanntlich mehr als tausend Worte, insbesondre solche, die über Politikerlippen gleiten; und dieses Schwarzweißphoto mit all seiner I’ve-got-the-look-Pose und der bewährten Schlagschattenästhetik, die jede harmlose Hautfalte als Signum männlicher Entschlossenheit inszeniert, verriet vor allen Dingen eins: Für Gerhard Schröder geht es am 27. September nicht so sehr um den Sieg seiner Partei, sondern um einen höchstpersönlichen Triumph.[68] Einen Moment lang vergaß er sich, der ansonsten ja mit dem beharrlichen Grinsen eines Pferdeflüsterers zu punkten weiß und überhaupt drauf & dran ist, als Sexsymbol für Rentnerinnen das Rennen zu machen –, vergaß sich einen einzigen Moment lang und zeigte sein wahres Gesicht: das des zukünftigen Machers, der als erstes »den Dicken«[69] mit links wegwischen und sich dann auch den Rest seiner Amtszeit nicht damit begnügen würde, rohe Kartoffeln oder Meerschweinchen mit der bloßen Faust zu zerquetschen.

Selbstverständlich verschwand dies verräterische Schröder-Photo samt seiner verräterischen Willensbekundung umgehend aus der Werbekampagne der SPD, selbstverständlich heißt deren Slogan seitdem wieder »Wir sind bereit«, und der ästhetische Vorschein einer neuen Brutalität, der eine Anzeige lang das besserwisserische Gutmenschentum der restlichen Genossen als bloßes Hofnarrengedöns am künftigen Herrscherhof enttarnte, ist dem gewohnten Bild gewichen: Zwar werden die Paladine der Schröder-Partei nicht müde zu betonen, auch sie seien bereit; aber weil sie ihre Kampagne diesmal nach amerikanischer Wahlkampfstrategie führen: als Nullbotschaft, die durch keinerlei konkrete Ideen, gar Konzepte, gar Versprechungen von ihrer Generalentschlossenheit ablenken soll, und weil sie sich in einer Mischung aus Zeitgeist-Opportunismus und Größenwahn von ihren Stammwählern verabschiedet und als »SPD light« an eine ominöse Neue Mitte angewanzt haben:[70] deshalb ist auch bei ihnen kein Zweifel möglich, wozu sie bereit sind – zu nichts.

Zu nichts anderem nämlich als zu dem, was die CDU ohnehin seit Jahr & Tag betreibt: rhetorisch kaschierte Abwicklung des tagespolitisch Nicht-länger-Aufschiebbaren, vulgo Weiterwursteln.[71] Woraus der Schluß zu ziehen wäre, auf der SPD stehe zwar noch immer SPD drauf, sei aber längst nicht mehr SPD drin, im Gegenteil: Ihr Vorsitzender verabredet sich ungeniert mit – nun? – Herrn Stoiber, obendrein zum – ja? –, zum Golfen; und sein Gefolge, jahrzehntelang ein Sammelbecken für Toleranzlobbyisten und Betroffenheitsverwalter, geriert sich derweil als schnelle Nichteingreiftruppe, als Vorhut einer endlich anbrechenden – na? – »Moderne«. Unsre ehemaligen Volksparteien, inzwischen kann man sie allenfalls noch an den Etiketten und den aufgedruckten Verfallsdaten auseinanderhalten; und weil sie das im Grunde selber wissen, die eine aber weiterhin dort bleiben möchte, wohin die andre erst noch will, deshalb stürzen sie sich mit Eifer auf das einzige, das sie tatsächlich noch trennt: »Keep Kohl« – über dies postmodern kalauernde Rudimentärbekenntnis definiert sich der offizielle Teil der CDU; »der Dicke muß weg!« – darüber definiert sich ihr inoffizieller Teil, der noch immer der Moderne zustrebt und deshalb ganz offiziell SPD heißt.

Was, außer dem Namen, hat diese SPD eigentlich noch gemein mit derjenigen, die vor 30 Jahren, unter Willy Brandt, beherzt zur Weltveränderung antrat? Für diese SPD hätte ich gern meine Stimme gegeben – leider aber war ich erst vierzehn. Ein paar Jahre später durfte ich dann; zwar konnte ich »nur« noch für Helmut Schmidt votieren, aber auch der erschien mir als eine integre und jedenfalls absolut wählbare Persönlichkeit: »Was waren das für Zeiten!«

Und seither? Gehe ich, linksliberal aufgewachsen zwischen Kohls Kriegsgeneration, zu der auch mein Vater zählte, und Schröders 68er-Generation, brav zu jeder Wahl – ich kann nichts dafür, ich bin so erzogen! –, und von Mal zu Mal wird es schlimmer: Vogel, Rau, Lafontaine, Scharping … was ist das andres als eine exponentielle Zunahme an Mediokrität?[72] In ebenjener Partei, die einst die bundesdeutschen Bildungseliten für sich zu begeistern wußte – ein Gartenzwergszenario aus allen deutschen Untugenden, absolut unwählbar. Kann es denn überhaupt noch schlimmer kommen?

Es kann; und folglich muß ich – ich will ja nicht! – am 27. September zur bislang schlimmsten Wahl meines Lebens. Zwei naturidentische Gallionsfiguren zweier naturidentischer »Volksparteien«, in gleichem naturidentischen Maße klug, skrupulös, ideenreich, brillant, sympathisch, der eine im siebten, der andre im zwölften Frühling, mit einem Wort: zwei Auslaufmodelle der alten Bundesrepublik buhlen um meine Stimme – Dick & durstig gegen Wisch & weg.

Aber halt, obwohl sie beide gleich alt aussehen in ihrer pseudojovial bemäntelten Visionslosigkeit, ist der eine eben schon im zwölften, der andre hingegen erst im siebten Frühling. Woraus letzterer – Herr Schröder bzw. der »amerikanische« Wahlkampfstratege seiner Partei – dreist folgert, seinen ganz persönlichen Egotrip, seinen ganz persönlichen Marsch durch die Institutionen, sein ganz persönliches Coming-out als »Kohl light« zu einem personenübergreifenden, zu einem längst überfälligen, zu unser aller jahrzehntelang erhofften Generationenwechsel aufbauschen zu dürfen.

Holla, welcher Generationenwechsel? ist da zu fragen: etwa der von unsern physischen zu unsern geistigen Vätern? Nein, danke, dafür sind wir nicht 40 geworden, als daß das jetzt auch die nächsten 40 Jahre so weitergehen könnte. Gespräche mit meinen Generationsgenossen, den 78ern – gerade weil sie qua Geburtsdatum keiner der beiden Kernwählergruppen angehören, weder den Siebzigjährigen, für die ein Kohl steht bzw. sitzt, noch den Mittfünfzigern oder eigentlich Fast-schon-Sechzigern, die ein Schröder repräsentiert – Gespräche mit den 78ern, die im kommenden September die entscheidenden Wechselwählerstimmen abgeben werden, bestätigen, daß es ihnen, daß es uns allen so geht: Die nächste Wahl wird die schlimmste unsres Lebens.

Wo ist denn der niedersächsische Clinton, lamentieren wir unisono, wo der pfälzische Tony Blair, den man aus freien Stücken wählen könnte,[73] wo wenigstens ein oberbayrischer Viktor Orban, dessen ungarisches Original vor wenigen Wochen, 35jährig, von seinen Landsleuten zum Ministerpräsidenten bestimmt wurde? Ja, erfolgreiche Autoren, Musiker, Journalisten, Verleger … erfolgreiche Unternehmer haben die Babyboomer[74] zuhauf hervorgebracht, allen voran Bill Gates, auch einen Jost »Quereinsteiger« Stollmann.[75] Aber Berufspolitiker von Rang, jenseits der Musterschülerei eines Westerwelle, haben wir nicht vorzuweisen. Und weil wir folglich in den Plenarsälen oder an den Präsidiumstischen der Parteitage gar nicht vorkommen,[76] steht – egal, ob Kohl, ob Schröder das große Septemberrennen machen wird – schon der Verlierer dieser Wahl fest: Das sind in jedem Falle wir.

Vielleicht ist das politische Hofschranzentum aber auch gar nicht die Rolle, in die wir rechtzeitig hätten hineinaltern sollen; vielleicht hat es durchaus seine Richtigkeit, daß wir, die habituellen Sich-aus-allem-Raushalter, bis auf den heutigen Tag (fast) ohne Sitz und Stimme sind im Parlament: weil wir im Kritisieren aus der Distanz viel besser sind als im engangierten Für-eine-Sache-Einstehen, gar für ein parteipolitisches Programm. Dann aber sollten wir diese Rolle, die wir in unsern privaten Besserwisserzirkeln seit je spielen, auch endlich öffentlich wahrnehmen: die Rolle einer ehemals linksliberalen, inzwischen freischwebenden APO-Intelligenzija, die sich überall dort zu Wort meldet, wo uns vom Chor der Berufspolitiker bloß kleine und große Terzen vorgesungen werden.

In dieser neuen Rolle der 78er kann’s mit ironischer Kommentierung freilich nicht mehr getan sein. Nein, die »Partei der Nichtwähler« zu wählen, wird man sich dann verkneifen müssen, das Kokettieren mit einer »Anarchistischen Pogo-Partei Deutschlands« (»Arbeit ist Scheiße!«) ohnehin.[77] Nein, »Guildo for President!« oder die stammtischmäßig betriebne Suche nach einer deutschen Cicciolina (Verona F.?), der man mit aller angestauten Wut auf die »etablierten« Parteien seine Stimme geben könnte,[78] das alles reicht dann nicht mehr, wenn man die Partitur unsrer Bonner Seifenoper durch öffentliches Dazwischentönen mitschreiben und dadurch tatsächlich einmal etwas verändern will.[79] Reicht fürs erste vielleicht ein zerknirschtes: »Also gut, wir wählen Schröder, weil wir Kohls Gesicht nicht mehr ertragen – aber nur, wenn wir damit auch gleichzeitig das Superweib, Claudia Nolte, den Kaiser und den Bundesberti, Uli Wickert, Rita Süßmuth, Lea Rosh, DJ Bobo, Waldemar Hartmann und Sabine Töpperwien und …«? Nein, das reicht längst nicht mehr, wir sind umzingelt von Gesichtern, die wir viel zu lange ertragen haben, als daß wir sie jetzt, mit einem einzigen Kreuz gegen Kohl, alle auf einmal entsorgen könnten.

Da müßte sich schon etwas Grundsätzliches ändern, und wir selbst sind es, die damit anzufangen hätten. Unsre jahrzehntelang kultivierte Kunst der Zurückhaltung wird dabei nur bedingt helfen; für die allfällige Entsorgung nämlich dürfte man sich nicht länger zu fein sein, die entsprechenden Tonnen auch aufzustellen – das haben wir während unsrer grünen Inkubationszeit doch eigentlich gelernt! – und erst mal Prügel zu kassieren von denen, die entsorgt werden sollen. Z.B. für die These, daß die Abschaffung des bayrischen Senats,[80] die Halbierung von aller Art Abgeordnetensitzen,[81] die Berufung von Quereinsteigern in die Bonner Weiterwurstelmaschinerie, daß das alles nichts als kosmetische Korrekturen sind; daß »draußen im Lande« längst unser komplettes politisches System zur Debatte steht und daß diese Debatte auch endlich öffentlich geführt werden müßte. »Das alte bundesrepublikanische Demokratiemodell hat ausgedient«, so hört man’s allerorten munkeln; um dessen Kerngedanken gegen den bevorstehenden Spartakusaufstand der Arbeitslosen, Autonomen und rechten Glatzen zu schützen – und welcher 78er wollte das nicht! –, dafür müßten dringend die nichtdemokratischen Elemente unsrer Demokratie gestärkt werden. Zum Beispiel Institutionen, die nicht erst durch Volkes Wille legitimiert sind – so munkelt’s –, sondern bereits durch den Willen einer kompetenten Minderheit.[82] Ein riskantes Gedankenspiel, sicher; und derjenige, der es mißverstehen will, tut gut daran, sofort die politisch korrekt justierte Protesthaltung einzunehmen. Eines jedoch habe ich endlich begriffen – anläßlich einer Volkspartei, die es nur noch auf dem Papier ist, und eines Spitzenkandidaten, der von ihr auf »demokratische« Weise Besitz ergriffen hat, um seinen Willen zur Macht auszuleben: daß ich nicht länger bereit bin, das lediglich mit einem resignierten Kreuzchen »fürs kleinere Übel« zu quittieren.

(1998)

Vom Verschwinden der Dinge in der Zukunft

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