Читать книгу Aufzucht- und Haltungsanleitung für Jungbullen - Max Busch - Страница 19
ОглавлениеJulia
Aus Schulzeiten hatte ich noch einen richtigen Freund, also das, was man unter wirklichem Freund versteht. Dieser Freund war weiblich und hieß Julia. Sie war groß, schlank, hatte schwarze, lockige Haare und strahlend blaue Augen. Dass sie sehr schön war, nahm ich nicht wahr. Zu Schulzeiten war Julia von 1978 bis 1979 ein Jahr in USA gewesen. Während dieser Zeit verunglückte ihr Freund Peter mit seinem Motorrad auf einer spiegelglatten Kreuzung in unserer Kleinstadt und starb. Peter, ein provokanter Typ, hatte mich in der Schulzeit bis aufs Blut gereizt, ständig einen dummen Spruch auf den Lippen. Als ich ihn eines Tages verdreschen wollte, war plötzlich alles anders. Wir wurden gute Freunde.
Den Tod Peters hatte Julia nach ihrer Rückkehr aus den Staaten immer noch nicht überwunden. Ich kümmerte mich viel um sie und wir bauten ein enges Vertrauensverhältnis auf. Auch erreichte sie in kurzer Zeit ihr Normalgewicht wieder. Nach der Nachricht von Peters Tod hatte sie sich in den USA voll gestopft und kehrte mit 20 kg Übergewicht zurück. An meinen freien Wochenenden waren wir fast immer zusammen und sprachen über Gott und die Welt. Wir machten Ausflüge mit dem Motorrad und anderen Freunden zur Ostsee oder saßen manchmal gemütlich, wie ein altes Ehepaar bei ihr oder mir und hörten Musik. Wir hatten keinerlei Geheimnisse voreinander, dachte ich damals. Während meiner Praktikumszeit hatte sich unsere Freundschaft noch intensiviert. Ich erzählte ihr fast alle meine Erlebnisse, auch die mit Ulrike, Sabrina, Patrizia und Bärbel. Sie verriet mir ihren Traum, irgendwann einen lieben Mann zu finden und dann eine Familie zu gründen.
Silvester hatte Julia mich und mehrere Freunde zu einer Party im Keller ihrer Eltern eingeladen.
„Wenn du im Moment eine Freundin hast, kannst du sie gern mitbringen“, teilte sie mir mit.
Ich brachte Bärbel mit.
Mit mehreren rollten wir nach der Party schließlich unsere Schlafsäcke aus und übernachteten im Keller. Ich wurde am nächsten Morgen wach, neben mir lag Bärbel und schnarchte leicht. Irgendwie war ich plötzlich von ihr und dem ausschließlichen Oralsex angewidert.
„Uärks!“ entfuhr es mir.
Dann sah ich, dass Julia wach war und mich grinsend ansah. Sie hatte meine Lautäußerung gehört. So schnell es möglich war, fuhr ich Bärbel heim. Sie war mir von einer auf die andere Sekunde über geworden. Im Auto, vor ihrer Haustür, beendete ich unser orales Verhältnis.
Meinen NSU hatte ich inzwischen bei einem Onkel von Julia schweißen lassen. Dann war die TÜV-Abnahme keine Hürde mehr. Die oberflächlichen Roststellen hatte ich großflächig mit rot-brauner Bleimennige übermalt. Jetzt sah das weiße Autochen wie eine norddeutsche Rotbunte aus. Ich schenkte Julia den NSU zu ihrem 18. Geburtstag, ich hatte ja noch meinen Opel Rekord, der für die weiten Touren deutlich bequemer war. Einen Führerschein hatte Julia schon. Sie hat sich riesig gefreut.
Als ich Freitagabend im März bei meinen Eltern, wo ich noch ein Zimmer hatte, vorfuhr, stand der NSU schon vor der Tür. Meine Eltern saßen mit Julia in der Küche und plauderten. Julia und ich gingen dann nach oben in mein Zimmer. Ich erzählte ihr die neusten Storys von Atze und was ich sonst so erlebt hatte, sie berichtete von der Schule und was die anderen so machten. Wir hockten auf dem Sofa nebeneinander und lauschten „Pink Floyd“ und „Supertramp“. Es wurde dunkler und ich zündete einige Kerzen an. Julia hatte Tee gekocht. Wir schlürften Tee und genossen schweigend die Musik. Dann legte sie mir plötzlich eine Hand auf die Schulter und zog mich zu sich. Ich war erstaunt und verwirrt. Julia umschlang mich mit den Armen und gab mir einen langen, intensiven Kuss. Danach lagen wir beide lange, eng umschlungen nebeneinander auf meinem Bett. Mir schossen die verschiedensten Gedanken durch den Kopf. Ich fühlte mich einerseits unglaublich wohl und hatte dabei doch Magendrücken. Ich wusste nicht, was ich denken sollte. Julia lächelte und hatte ihre Augen geschlossen. Irgendwie musste ich reden.
„Julia, hör mal“, setzte ich an.
„Hmm, was denn, mein Schatz?“ murmelte sie.
Schlagartig hatte sich unsere ganze Situation verändert. Jetzt waren wir keine besten Freunde mehr, schoss es mir durch den Kopf. Das betrübte mich plötzlich sehr.
„Meinst du, dass das so für uns richtig ist?“ setzte ich erneut an. „Hmm, sehr richtig, sehr schön…“ bekräftigte Julia mit Schlafzimmerstimme.
Ich setzte mich abrupt auf.
„Julia, jetzt mal im Ernst! Das jetzt wird doch alles zwischen uns verändern. Wenn wir ein Paar sind, sind wir keine besten Freunde mehr. Das würde mich sehr traurig machen. Ich weiß wirklich nicht, ob ich das will. Ich will das wahrscheinlich nicht. Hast Du da keine Angst vor?“ sprudelte es aus mir heraus.
Sie schlug langsam ihre großen blauen Augen auf und blickte mich ernst an.
„Nein, das glaube ich nicht! Warum sollte sich etwas verändern? Meinst Du, ich würde Dir nicht mehr alles erzählen wollen? Oder hast Du Angst davor, mir plötzlich etwas verschweigen zu müssen?“
Sie hatte den Nagel auf den Kopf getroffen, durchfuhr es mich wie ein Blitz. Ab jetzt keine Patrizias mehr auf dem Rücksitz! Konnte ich das versprechen? Eins wollte ich auf keinen Fall: Julia verletzen! Sie war zum wichtigsten Menschen in meinem Leben geworden.
„Bitte Julia, gib mir ein paar Tage Zeit, darüber nachzudenken, ok?“ versuchte ich es noch mal.
„Vielleicht brauchst du auch Zeit darüber nachzudenken“, sagte ich.
„Ich habe schon lange nachgedacht. Du bist der Mann, den ich liebe. Ich muss nicht mehr nachdenken. Wenn du Bedenkzeit brauchst, sollst du sie haben. Sag mir einfach nächstes Wochenende, wenn du wieder hier bist, Bescheid. Ich gehe jetzt. Bis demnächst, ich liebe Dich“, sagte sie sanft mit einem traurigen Unterton in der Stimme und gab mir einen Kuss.
Dann verabschiedete sie sich von meinen Eltern und fuhr davon.
Ich weiß nicht mehr, wie lange ich in meinem Zimmer saß und die Wand anstarrte. Schließlich angelte ich mir eine Flasche Ballantines aus dem Bettkasten und goss mir ein Wasserglas randvoll. Langsam schlürfte ich das Glas leer, um dann noch ein zweites und drittes zu trinken. Nachts um vier erwachte ich mit einem Brummschädel und konnte nicht mehr einschlafen. Ich kam einfach nicht zur Ruhe. In meinem Kopf drehte sich alles. Gedanken, Gefühle, Logik, alles durcheinander. So kannte ich mich nicht. Das hatte ich so noch nie erlebt. Als ich Sonntag nacht wieder zurückfuhr, ging alles automatisch. Ich bemerkte gar nicht, wo ich lang fuhr und was ich sah. Plötzlich rammte der LKW vor mir ein Reh, das auf die Straße gesprungen war, und schleuderte es in meine Richtung. Schlagartig war ich voll da und brachte den Opel mit einer Vollbremsung zum Stehen. Neben meiner Tür lag das verendete Reh. Jetzt war ich hellwach. Mein Kopf funktionierte wieder.
Die nächsten zwei Tage hatte ich tagsüber genug zu tun, um nicht in Gedanken zu versinken. Wir spielten Demonstration. Ich meldete mich freiwillig als „Störer“. Bewaffnet mit Tennisbällen sollten wir Steine werfende Demonstranten darstellen. Zwei Züge der Hundertschaft mit Unterstützung eines Wasserwerfers gegen zwei Züge in Zivil mit jeweils einem Sack Tennisbälle. Kurze Zeit später tobte eine regelrechte Schlacht. Als dann noch das Kommando „Schlagstock frei!“ kam, gingen auf beiden Seiten einige Polizeischüler zu Boden. Schließlich griff der stellvertretende Hundertschaftsführer zum Megaphon und befahl „Time-out“. Wir „Störer“ wurden aufgefordert, weniger Widerstand zu leisten und uns festnehmen zu lassen.
Mittwoch hielt ich es nicht länger aus. Ich rannte in der Mittagspause zum einzigen Münzfernsprecher neben der Unterkunftswache und rief Julia an:
„Hi Julia, ich komme heute Abend nach Hause“, begrüßte ich sie. „Das ist schön, ich freu mich. Komm bitte zu mir“, sagte sie und legte auf.
Als ich bei ihren Eltern klingelte, öffnete ihr Vater.
„Hallo Max, Julia ist oben in ihrem Zimmer, geh man hoch“, begrüßte er mich.
Ich lief die Treppe hoch und stürzte in ihr Zimmer. Wir fielen uns wortlos in die Arme. Ohne weitere Worte war alles zwischen uns geklärte. Wir vereinbarten, das kommende Wochenende nach Dänemark zum Zelten zu fahren. Das Wetter gab es eigentlich nicht her, aber wir freuten uns beide darauf.
Die nächste Zeit verging wie im Flug. Julia und ich waren jetzt ein Paar, was unsere Freunde nicht weiter verwunderte.
Mitte April, an einem Freitagnachmittag holte Julia mich ab. Wir parkten den NSU auf dem Polizeiparkplatz und luden unsere Sachen in den Opel. Dann ging es weiter Richtung Norden. Ohne an der Grenze kontrolliert zu werden, erreichten wir am frühen Abend einen netten Campingplatz an der Ostsee, der fast komplett leer war. Julia hatte für Essen und Trinken gesorgt. Schnell war das Zelt aufgebaut, da fing es auch schon zu regnen an. Sturm kam auf. Wir machten es uns im Zelt gemütlich und heizten mit dem Gaskocher. Als ich eine Flasche Rotwein öffnen wollten, stellten wir fest, dass wir keinen Korkenzieher hatten. Also drückte ich den Korken langsam herein, bis eine Fontaine aus dem Flaschenhals spritzte und Julias T-Shirt durchnässte. Kurzerhand zog sie es aus und warf es vor das Zelt in den Regen. Nun saß sie, wie selbstverständlich, in ihrem schmalen BH vor mir. Mir wurde plötzlich richtig warm und das lag nicht am Gaskocher. Jetzt war es irgendwie anders. Noch vor kurzer Zeit hatten wir und auch unsere Freunde zusammen nackt gebadet und am Strand gelegen. Da hatte sich nichts geregt. Aber jetzt! Wir tranken und unterhielten uns wie immer. Nach der ersten folgte eine zweite Flasche, diesmal ohne zu kleckern. Wir hatten zwei Schlafsäcke dabei und eine große Luftmatratze.
„Lass uns mal probieren, ob wir aus den beiden Schlafsäcken nicht einen machen können“, schlug Julia vor.
Es klappte und wir entledigten uns unserer Klamotten. Dann schlüpften wir in den Schlafsack und schliefen miteinander. Für Julia war es das erste Mal, das hatte sie mir vorher nicht erzählt. Leicht idiotisch fragte hinterher, ob ich ihr denn wehgetan hatte. Sie lächelte mich nur an und schüttelte den Kopf.
Mein alter Rekord hatte auf der Rückfahrt den Geist aufgegeben. Also fuhren wir im NSU weiter. Ich meldete mich für ein paar Tage krank und nutzte den Montag, um mir ein Auto zu kaufen. Diesmal sollte es etwas Neues sein. Ich hatte die Nase voll von alten Kisten. Beim örtlichen Opel-Händler kaufte ich einen nagelneuen Opel Ascona B in Rot für 14.000 DM, finanziert auf vier Jahre, als Beamter bekam ich den Kredit ruckzuck.
In den Sommerferien führte uns unsere erste gemeinsame Urlaubstour über den Großglockner bis nach Italien. Wir suchten uns an der Süd-West-Seite des Gardasees einen schönen Campingplatz auf einer Halbinsel. Nach diesem Urlaub zogen Julia und ich zusammen. Unsere Wohnung bestand aus einer Wohn-Wasch-Küche und einem unbeheizten Schlafzimmer in einem alten Bauernhaus, zusammen vielleicht 20 m². Das Haus gehörte einer Tante von Julia und wir mussten nur 100 DM Miete zahlen. Auf der anderen Seite der riesigen Diele befand sich unser Plumps-Klo mit Eimer. Schnell hatten wir die Vereinbarung geschlossen, dass Julia den Abwasch machen würde und ich dafür regelmäßig den Eimer entleere. Das Zusammenziehen war durch meine Eltern forciert worden. Als Julia und ich nach unserem Urlaub wiederkamen, waren meine Eltern verreist. Also baute ich mein schmales Bett auseinander und stellte es auf den Dachboden. Wir nähten dann sechs der dreiteiligen Matratzen zusammen. Was für ein schön großes Bett! Wir hatten eine schöne Kuschelecke, die auch später so bleiben sollte. Wir genossen die Zeit sehr. Irgendwann kamen meine Eltern zurück. Mein Vater befahl, das Matratzenlager abzubauen und alles wieder in den Ursprungszustand zu versetzen. Ich widersprach. Ein Wort gab das andere. Schließlich, der entscheidende Satz:
„Solange Du in meinem Haus wohnst, machst du, was ich will!“ Meine Antwort war entsprechend:
„Ok, dann gehe ich.“
Ich stand auf und fuhr zu Julia. Gemeinsam mit ihren Eltern wurde die Lage sondiert. Ihre Mutter telefonierte mit ihrer Schwester und schon hatten wir eine Wohnung. Als ich abends meinen Eltern triumphierend den Schlüssel zeigte, heulte meine Mutter:
„So war es doch gar nicht gemeint, bleib doch hier!“