Читать книгу Monolith - Max Kauer - Страница 15
12.
ОглавлениеAm nächsten Tag wurde ich nicht wieder vor fünf Uhr aus meinen Träumen gerissen. Nach dem Abend im Alt-Wien hatte ich den Schlaf auch dringend notwendig. Allerdings, bei den Träumen, die ich diese Nacht hatte, wäre ich gern früher aufgewacht. Ich wälzte mich nicht herum, sondern schlief tief und fest wie ein Stein. Und träumte, wie es mir danach vorkam, durchgehend. Aber kein verworrenes Zeug, sondern klare Bilder. Bilder mit Monstren, nackten Gottheiten, kopflosem Getier, das dem Meere entsteigt und namenloser Bedrohung. Ich stand vor einem in der Perspektive verzerrten, scheinbar kilometerhohen schwarzem Tor. Auf dem Tor pulsierten fremdartige Zeichen. Sie schienen mich zu rufen.
Mit einem Ruck wachte ich auf. Ich war nicht verwirrt, erschöpft oder müde. Ich war hellwach und vollkommen klar, als wäre ich nur von einer Dimension in die andere geschlüpft. Und ich zitterte. Bevor ich so abrupt aufwachte, war eine Veränderung mit dem Tor geschehen. Es ging einen Spalt weit auf.
Der Wecker läutete, worauf ich ihn gegen die Wand schleuderte. Ich habe so ein Modell, das man an die Wand schmeißen muss, damit es aufhört zu klingeln. Kann ich echt empfehlen, sehr befriedigend. Man muss nur aufpassen, wo man hin schießt. Ein paar Mal habe ich ihn schon aus dem Fenster geschossen.
„Geh! Das mach ich so gern!“ Lina rappelte sich ein wenig hoch und ließ sich dann wieder ermattet auf den Polster fallen. Sofort vergaß ich die Monstren in meinen Träumen. Lina sah aus wie ein Engel. Ihr Gesicht, das halb im Polster versunken war, wurde von feinen Haaren eingerahmt. Ich hatte mich ja nie wirklich als Glückspilz betrachtet. Gut, die Sache, wo mich eine Kugel in den Kopf getroffen hatte und mir derselbe nicht zerplatzt war wie eine Melone, das war wohl Glück. Schön, gebe ich zu. Obwohl sie ja noch drinnen ist, die Kugel. Aber das war eine andere Sorte Glück. Mehr die Sorte: Noch-mal-Schwein-gehabt. Dieses Mal aber hatte das Schicksal voll ins Schwarze getroffen. Lina ist alles, was ich mir immer von einer Frau erträumt hatte. Gut, da war diese Sache mit ihrem Lebenslauf, die ich einmal ansprechen musste, Gott steh mir bei! Widerwillig blinzelte Lina mit einem Auge in den neuen Tag. Sie ertappte mich dabei, als ich sie verträumt ansah. „Was is?“ Lina stemmte sich auf einen Ellenbogen. „Herrje, was ist denn mit dir, du bist ja ganz nass.“
Ich sah an mir hinunter. Ich saß immer noch kerzengerade im Bett, so wie ich aufgewacht war. Mein T-Shirt klebte mir an der Brust. „Blöde Träume. Und zu lange im Alt-Wien.“
„Hopp unter die Dusche!“ Lina rümpfte die Nase und ließ den Kopf wieder auf den Polster fallen.
Ein wenig später saßen wir beim Frühstück. Semmel, Palatschinke, Marmelade, Nutella, Gugelhupf für mich. Omelette mit Speck und Champignons für Lina. Kaffee für uns beide. Wir waren beide etwas übernächtigt. Ich war mit Phillip noch länger im Alt-Wien gesessen, Lina war erst nach Hause gekommen, als ich schon schlief. In letzter Zeit hatte sie nicht oft bei mir übernachtet. Überhaupt hatte sie sich etwas rar gemacht. Weder sie noch ich wollten - Gott bewahre! - so eine eheähnliche Zwangsgemeinschaft. Lina machte ihre Sachen, ich machte meine und wir freuten uns, wenn wir uns sahen. Lina hatte ihr Blumengeschäft-Café am Vorgartenmarkt, direkt vor meiner Haustüre, das passte also auch perfekt. In letzter Zeit hatte sie die Betreuung des Geschäfts aber öfter einem, mittlerweile guten, Freund überlassen: Tschernov. Der machte auch ihre Buchhaltung und konnte nebenbei schreiben. Er war Journalist und Autor. Wenn Tschernov nicht konnte, sprang meist eine Freundin von Lina ein. Und ein russischer Musiker, Vladimir Zibrov, sorgte immer für Stimmung rund um das Geschäft. Dass er sich für die Reinkarnation des berühmten Vladimir Vyssotski hielt, störte niemanden, der Vorname passte ja. Ihm war es nicht zuletzt zu verdanken, dass sich rund um Linas Blumengeschäft eine kleine Künstler-Szene angesiedelt hatte. Immer öfter drifteten Hippster aus dem Karmeliterviertel in das noch nicht so hippe Stuwerviertel herüber und machten bei Lina Party. War nur eine Frage der Zeit, bis jemand davon Wind kriegen würde, dass sie gar keine Kaffeehauskonzession oder so etwas Ähnliches hatte. Aber auch mit den Blumen machte sie gutes Geschäft. Die Gentrifizierung des Viertels schien voranzugehen, in dem Marktstand neben Lina hatte sich ein „Tonstudio zum Selbermachen“ eingemietet. Dort konnte man Kaffee trinken und unter fachgerechter Anleitung seine hippen Sounds mixen. Der Besitzer wollte Lina zwar ständig zum Anlegen einer Hanfplantage überreden, war aber sonst ein netter Kerl.
Obwohl Linas Geschäft brummte, ging sie oft anderen Dingen nach. Wenn ich sie nebenbei darauf ansprach, antwortete sie ausweichend oder gar nicht. Das konnte sie sehr gut und ich wollte ja auch nicht schnüffeln. Kurz gesagt, ich hatte keine Ahnung, was sie sonst noch so trieb. Und da war eben noch diese Sache mit Linas besonderem Talent. Ich wollte nicht schnüffeln, aber Phillip hatte Recht. Ich denke, ich sollte es wissen, wenn Lina nebenbei Tresore knackt. Ich wollte es nicht wissen, aber ich sollte wohl. Gott verdammt! Da hat man einmal Glück, und zwar nicht von der Sorte Noch-mal-Schwein-gehabt, sondern von der Sorte Das-ist-die-Frau-meines-Lebens-jetzt-wird-alles-gut-und-vielleicht-macht-man-ja-doch-einmal-auf-eheähnliche-Zwangsgemeinschaft-und-wer-weiss-auch-Kinder-was-weiss-man-schon-nicht-dass-ich-mich-das-laut-zu-sagen-trauen-würde, und dann riskiert man das alles wegen dümmlicher moralischer Bedenken. Verdammt!
„Wie meinen?“, fragte Lina.
„Äh – Verdammt ... siehst du heute gut aus!“
„Lügner.“, log Lina. Es stimmt, sie sah nicht gut aus, in dem Sinn, dass sie so, wie sie am Tisch saß, zum Opernball gehen konnte. Aber auch ganz ohne Frisur und nur mit einem meiner T-Shirts bekleidet, sah sie um Klassen besser aus, als alle, die jemals am Opernball waren. Aber sie hatte natürlich nicht das gemeint, sondern durchschaut, dass ich etwas anderes am Herzen hatte. Das tat sie immer und mit einer großen Leichtigkeit, das Mich-Durchschauen. Ich beschloss also, mich langsam an das heikle Thema heranzutasten:
„Lina, bist du eine Einbrecherin?“, fragte ich und machte mir eine mentale Notiz, dass ich das langsame Herantasten vielleicht noch ein wenig üben sollte.
Lina steckte sich genüsslich ein Stück Omelette in den Mund. Sie sah mich aus Katzenaugen an. „Wie lange kennen wir uns jetzt?“
Ich schluckte. Kopfrechnen unter Stressbedingungen war noch nie meine Stärke gewesen. „Ja, äh, vielleicht so zirka, fast ... ein halbes Jahr vielleicht?“
Lina nickte. „Genau. Wir kennen uns seit einem halben Jahr. Und seit einem halben Jahr willst du mich diese Frage fragen, traust dich aber nicht.“
Ich nahm vorsichtig einen Schluck Melange und wartete auf den Ausbruch des Vesuv.
„Du bist so - süüüüß!“ kicherte Lina. „Ich könnte dich fressen! Legst dich Tag für Tag mit den schwersten Jungs an, aber fürchtest dich vor mir. Hihihi.“
„Ähem.“ Ich wurde rot. „Zu meiner Rechtfertigung: du hast damals gesagt: das willst du gar nicht wissen.“
„Und willst du?“
„Eigentlich nicht.“
„Also bitte!“ Lina nahm noch einen Schluck Kaffee und stand auf, um ihre Sachen in die Küche zu tragen. „Dringende Geschäfte rufen!“ An der Tür drehte sie sich noch einmal um: „Vielleicht - verbotene - Geschäfte.“ Sie warf mir einen verschwörerischen Augenaufschlag zu und ging mit betontem Hüftschwung in die Küche.
Ich seufzte. Eigentlich wollte ich es ja wirklich nicht wissen. Sie hatte Recht. Ich biss in ein Stück Gugelhupf und kaute gedankenverloren lächelnd. Was für ein Augenaufschlag! Was für ein Hüftschwung! Was für ein ... verdammt! Sie hatte es schon wieder getan, ich hatte noch immer keine Antwort. Früher hätte man sie sicher als Hexe verbrannt.
„Verdammt!“ Ich lief aus dem Wohnzimmer. Lina war jetzt im Badezimmer. Sie steckte sich gerade die Haare hoch. Und sie war vollkommen nackt. Wie man es eben ist, wenn man gerade ein Dusche nehmen will, nichts weiter dabei. Sie drehte sich mit einer anmutigen Bewegung voller gespielter Unschuld zu mir: „Ja bitte!“
Das Bild ihres Körpers brannte sich in meine Netzhaut und unternahm von da Ausflüge in verschiedene Bereiche meines Gehirns, die, nachdem das Bild vorüber gerauscht war, alle verträumt lächelten bzw. mehrdeutige Handlungsanweisungen verschickten und aufgeregt durcheinander liefen. Die höheren Denkzentren, die ich dringend brauchte, um Lina zur Rede zu stellen, oder auch nur ein vernünftiges Wort herauszubekommen, wurden mit zotigen Bemerkungen beiseite geschubst und mit einer Portion Prügel bedroht, sollten sie nicht ihre Streberfresse halten.
„Äh“, sagte ich.
Nein, so konnte das nicht weitergehen. Ich schloss die Augen, zählte bis zehn, nahm ein Handtuch und hängte es mir über den Kopf: „Lina, so geht das nicht!“, sagte ich streng unter meinem Handtuch hervor.
„Du bist so süß!“, kicherte Lina und stieg in die Wanne.
„Ja, du auch. Also bist du oder bist du nicht?“
„Was denn bitte?“
„Fang nicht wieder an! Ich werde nicht locker lassen!“
„Du kannst ja hier herein kommen und ein wenig zupacken!“
Ich stand schweigend mit dem Handtuch auf dem Kopf im Badezimmer und zählte. Nach 25 Sekunden sagte ich: „Scheiß drauf“, nahm das Handtuch vom Kopf und packte zu. Sie hatte es schon wieder geschafft.
Wenig später, als wir uns an der Wohnungstür verabschiedeten, wurde Lina ernst. Sie sah mir in die Augen: „Wenn ich dir etwas sagen will, dann tue ich es, nach meinem Zeitplan. OK?“
„Ist wohl die einzige Möglichkeit.“, seufzte ich.
„OK?“, wiederholte sie.
„OK!“, resignierte ich.
„Was auch immer passiert, du musst mir vertrauen. OK?“
Ich sah sie an.
„OK?“, wiederholte sie eindringlich.
„OK!“, sagte ich.
Dann küssten wir uns und sie ging Richtung Markt. Nach ein paar Schritten wirkte ihr Gang wieder beschwingt, wie üblich. Sie blickte sich im Gehen noch einmal um und lächelte mir zu. Ich lächelte zurück. Trotz der festen Absätze ihrer Stiefeletten konnte man ihre Schritte nicht hören. Wie eine Katze.
„OK!“, dachte ich.