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Der Sensus communis – ein Hauptorgan zur Vereinigung der Objekte in der Wahrnehmung

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Der Sensus communis wird, so scheint es, für die Erklärung benötigt, wie die Wahrnehmung gemeinsamer Objekte durch die Wahrnehmung (sinnes)eigentümlicher Objekte möglich ist (man könnte keine Form sehen, ohne nicht auch Farbe sehen zu können) und wie jene als einheitliche Attribute wahrgenommen werden können. Denn obwohl wir beispielsweise die Form durch Sehen und Ertasten zugleich wahrnehmen, sind Sehen und Ertasten je eigene Weisen, dasselbe Attribut zu erkennen: die Form nämlich (denn wir nehmen nicht sozusagen zwei verschiedene Attribute wahr, visuelle Form und taktile Form). Außerdem ist es so, dass, obwohl wir, wenn wir wahrnehmen – eine Rose beispielsweise –, mit unseren verschiedenen Sinnesorganen und ihren korrespondierenden Fähigkeiten verschiedene (sinnes)eigentümliche Merkmale wahrnehmen, diese als vereinigte Qualitäten eines einzelnen Objekts wahrnehmen.12 Dies ist laut Aristoteles ein weiterer Grund für die Vermutung, es gebe ein ‚einzelnes Sinnesvermögen‘ und ein Hauptorgan – das Herz. (Hier haben wir es wohl mit einer Vorwegnahme der gegenwärtigen neurowissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem sogenannten Bindungsproblem zu tun, jedoch ohne die cartesianische und lockesche Konfusion, die üblicherweise mit ihr einhergeht und in der Annahme zum Ausdruck kommt, das Sensorium müsse ein inneres Bild oder eine interne Repräsentation hervorbringen.13) Im Folgenden werden andere Gründe aufgeführt, weshalb der Sensus communis als unverzichtbar erachtet wurde:

(i) Wir können nicht sehen, dass wir sehen, bzw. nicht hören, dass wir hören. Nichtsdestotrotz, behauptet Aristoteles, nehmen wir wahr, dass wir sehen oder hören – und das sei eine der Funktionen des Gemeinsinns.14 (Einige Neurowissenschaftler und Neuropsychologen, die mit der Untersuchung des ‚Blindsehens‘ [Rindenblindheit] befasst sind, messen manchem Gehirnbereich die Arbeitsweise eines sich selbst kontrollierenden Apparats bei und behaupten, dass er eben diese Funktion erfüllt.15) Die Überlegung ist allerdings falsch, denn wir nehmen nicht wahr, dass wir sehen oder hören; wir können vielmehr sagen, wenn wir sehen oder hören, dass wir dies tun – aber nicht, weil wir in irgendeinem Sinn wahrnehmen würden, dass wir dies tun. Diese Form der Selbstwahrnehmung muss erläutert werden, allerdings nicht auf diesem Wege (siehe Kapitel 12).

(ii) Mittels der Sehkraft unterscheiden wir Weiß von Rot, und mittels des Geschmackssinns differenzieren wir zwischen süß und sauer. Aber wir unterscheiden auch, wie Aristoteles seltsamerweise beobachtet, Weiß von süß und Rot von sauer – und das weder durch die Sehkraft noch durch den Geschmackssinn.16 Und so folgert er, dass es irgendein Hauptvermögen der Wahrnehmung geben muss, das dieser Funktion nachkommt (DA 426b).

(iii) Weil sich der Schlaf auf alle Sinnesvermögen auswirkt (d.h., wir sehen, hören, schmecken, riechen oder fühlen nicht, während wir schlafen), muss es sich bei Wachsein und Schlafen um die Auswirkungen eines einzelnen einheitlichen Sinnesvermögens und kontrollierenden Sinnesorgans handeln.17

Schließlich ordnete Aristoteles dem Sensus communis die Funktionen (a) des Zeitverständnisses, (b) der Bilderzeugung durch die Vorstellungskraft oder die fantasia, (c) des Gedächtnisses (welche aus seiner Sicht sowohl (a) als auch (b) voraussetzt) und (d) des Träumens zu.18 Die Funktionen (b)–(d) setzen eine vorhergehende Wahrnehmung voraus, jedoch keinen aktuellen Gebrauch eines Wahrnehmungsorgans. Es handelt sich bei ihnen um Prozesse, die sozusagen eine ‚veraltete Wahrnehmung‘ (oder, wie man auch sagen könnte, ‚Gehirnspuren‘ oder ‚Engramme‘) einbegreifen.

Sowohl in diesen frühen Reflexionen über die menschliche Vermögen und die für deren Beschreibung notwendigen Begriffsstrukturen als auch in diesen Argumenten zugunsten eines Sensus communis lassen sich die Anfänge systematischen wissenschaftlichen Nachdenkens über die Integrationstätigkeit des Nervensystems erkennen.

An dieser Stelle seien noch zwei weitere Punkte abgehandelt, bevor wir Aristoteles verlassen:

Die philosophischen Grundlagen der Neurowissenschaften

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