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1 Die Anfänge neurowissenschaftlicher Erkenntnis: Die Integrationstätigkeit des Nervensystems

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Den Begriffsrahmen für die ersten Untersuchungen der biologischen Grundlagen der auf die Wahrnehmung, den Willen und den Geist bezogenen Fähigkeiten des Menschen legte Aristoteles in seinen Schriften über die psychē fest. Das Streben nach neurowissenschaftlichen Erkenntnissen wurde anfangs von der Frage dominiert, wie die mit der willkürlichen Bewegung der Glieder verbundene Muskelkontraktion hervorgerufen wird. Aristoteles’ eigene rudimentäre Untersuchungen, die ihn glauben ließen, dass die Blutgefäße die Muskelkontraktion bewirken, waren allerdings ein Fehlstart. Galens viel spätere Entdeckungen hinsichtlich der vom Rückenmark ausgehenden nervlichen Innervierung der Muskeln machten schließlich deutlich, dass die Nerven diese Funktion ausüben. Galens Werk steht am Beginn einer 2000-jährigen Forschungsgeschichte zu der Frage, in welchem Zusammenhang Rückenmark und Gehirn mit den Willensbewegungen und der Reflexhaftigkeit mancher Bewegungen stehen. Ob es darum ging, die motorischen und die sensorischen Spinalnerven zu identifizieren, sich der Frage zuzuwenden, welche Rolle das Rückenmark bei Reflexbewegungen spielt oder zu erkunden, wie aus Gehirntätigkeit und Rückenmarksaktivität Willens- und Reflexbewegungen hervorgehen, stets rührten die Erkenntnisgewinne von Experimenten her. Die einschlägigen Beobachtungen der Muskeln und Glieder bezogen Läsionen in verschiedenen Teilen des Nervensystems mit ein. Auf diese Weise bildete sich eine Konzeption über den Integrationszusammenhang heraus, in dem Gehirn, Rückenmark und Nerven stehen müssen, um die finale motorische Handlung hervorzubringen.

Der Begriffsrahmen, innerhalb dessen die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse anwuchsen, entstammt dem Denken Aristoteles’, später veränderte er sich allerdings im Zusammenhang mit der cartesianischen Revolution im 17. Jahrhundert. In diesem Kapitel werden wir skizzieren, wie sich die Vorstellungen, die man sich über die neuralen Grundlagen der Lebensfunktionen machte, entwickelt haben und uns zunehmend darauf konzentrieren, was Sherrington, der größte unter den Neurowissenschaftlern, ‚die Integrationstätigkeit des Nervensystems‘ nannte, und zwar im Hinblick auf die Bewegung. Dieser Abriss der Geschichte des langsamen Wissenszuwachses hinsichtlich des Nervensystems und seiner Operationen wird einige der begrifflichen Schwierigkeiten zutage treten lassen, die den Naturphilosophen, die sich mit den Fragen nach den biologischen Grundlagen der charakteristischen Vermögen lebender Wesen im Allgemeinen und von Menschen im Besonderen auseinandersetzten, im Laufe der Jahrhunderte begegneten. Es wird sich herausstellen, dass die Wurzeln der gegenwärtigen Begriffsprobleme der kognitiven Neurowissenschaften weit in die Vergangenheit zurückreichen. Je besser wir unser geistiges und wissenschaftliches Erbe kennen und je mehr wir es begreifen, desto schärfer treten die Begriffsprobleme der Gegenwart hervor. Und um diese werden wir uns in erster Linie kümmern.

Jemand könnte die Frage aufwerfen, warum wir uns in unserem historischen Abriss der Integrationstätigkeit des Nervensystems nicht stärker auf die großartigen Sinnessysteme konzentrieren, auf das Sehen beispielsweise. Das liegt daran, dass die frühen Neurowissenschaftler sich zunächst herausgefordert fühlten, das motorische System zu verstehen, weil dieses ihnen die Durchführung von Experimenten gestattete, um ihre Vorstellungen anhand der damals zur Verfügung stehenden Verfahren zu überprüfen. Eine solche Möglichkeit bot das sensorische System nicht. Diesen Pionieren ging es darum, ihr Verständnis des sensorischen Systems in das Wissen über Muskelkontraktion und -bewegung, das sich zunehmend entfaltete, einfließen zu lassen. Und so spekulierten sie darüber, wie das Sehen und die Motorik zusammenhängen könnten. Allerdings trugen diese Überlegungen nicht viel zum Verständnis des Phänomens bei – die Frage, wie das Sehen sich vollzieht, blieb unbeantwortet und musste auf Verfahren warten, die erst im 19. und insbesondere im 20. Jahrhundert zur Verfügung standen.

Die philosophischen Grundlagen der Neurowissenschaften

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