Читать книгу Cybionic – Der unabwendbare Anfang  - Meike Eggers - Страница 10

4

Оглавление

Am nächsten Morgen um Punkt neun klingelte mein Handy. Ksen war noch immer nicht erreichbar und Antonia schlug vor, zusammen zu frühstücken. Dass ich die Nacht in Ksens Zimmer geschlafen hatte, verschwieg ich ihr. Stattdessen bot ich ihr an, sie um zehn zu Hause abzuholen. Antonia wohnte ebenfalls im Prenzlauer Berg, nur ein paar Straßen von Ksen entfernt.

Eine Stunde später saßen wir auf der Terrasse eines Cafés in der Oderberger Straße. Zwischen unseren Stühlen sprangen ein paar Spatzen herum und stritten um Brotkrümel. Ich wusste wieder einmal nicht, was ich zu ihr sagen sollte.

»Habe ich eigentlich schon einmal erwähnt, dass du die Lippen einer griechischen Statue hast, Salavdi Khalid Tassujev?« Antonia griff nach der Getränkekarte und sah mich amüsiert an.

Mein Magen krampfte sich zusammen. Seit mein Vater weg war, hatte mich niemand bei meinem vollen Namen genannt, nicht einmal Ksen.

Antonia musterte mich noch immer grinsend in ihrer überlegenen Art, die sie von ihren wohlhabenden Hippieeltern geerbt haben musste. Obwohl sie die beste Freundin meiner Schwester war, fühlte ich mich in ihrer Gegenwart regelmäßig wie erstarrt. Hin und wieder gingen wir zu dritt in irgendwelche Clubs in Friedrichshain oder Kreuzberg. Aber während Ksen und Antonia sich dann im Zentrum der Tanzfläche amüsierten, endete ich meistens in einer der schlecht beleuchteten Ecken und hörte mir Monologe von betrunkenen Freizeitphilosophen an.

Widerwillig wischte ich über meine Bartstoppeln und sah so unauffällig wie möglich zur Seite, um zu checken, ob mich vielleicht irgendjemand für einen verkappten Terroristen hielt. Ein blondes Mädchen am Nachbartisch sah zu uns herüber; als sich unsere Blicke trafen, lächelte sie.

Die Bedienung kam, wir bestellten einen Milchkaffee und einen Espresso.

»Um elf beginnt die Vorlesung, zu der Ksen garantiert kommt«, sagte Antonia. »Gehst du mit?«

»Und wenn sie nicht da ist?«, fragte ich.

Antonia atmete tief ein.

»Dann starten wir Plan B. Wir sehen nach, ob Ksen etwas Wichtiges in ihrem Schließfach aufbewahrt, dessen Schlüssel sie am Freitag so fieberhaft gesucht hat. Vielleicht finden wir dort einen Hinweis, wo sie hin ist.«

»Ich weiß nicht, ich habe schon ihr Handy durchsucht.«

»Dann kommt es auf das Fach auch nicht mehr an. Außerdem wird es sicherlich nicht so weit kommen. Ich wette mit dir, dass Ksen in der Uni ist. Also, kommst du mit?«

Widerwillig nickte ich. Ein Kellner brachte unsere Bestellung und Antonia trank ihren Espresso in einem Schluck aus.

»Gut!«, sagte sie und stand energisch auf. »Ich bezahle und gehe kurz nach Hause, um meinen Unikram einzusammeln. In der Zwischenzeit trinkst du in Ruhe deinen Kaffee und danach holst du den Schließfachschlüssel aus Ksens Zimmer. Ihren Haustürschlüssel hast du sicherlich mitgenommen, oder?«

Noch einmal nickte ich. Antonia drehte sich um und verschwand mit selbstsicheren Schritten im Café. Etwas in mir lähmte mich wieder einmal. Und diese Blockierung endete meistens erst, wenn eine andere Person mich anwies, in welche Richtung ich gehen oder denken sollte.

Dabei war mein Leben inzwischen in fast allen Aspekten kontrolliert und geordnet. Ich sprach akzentfrei Deutsch, studierte im siebten Semester Architektur. Zwei Tage in der Woche jobbte ich als CAD-Zeichner in einem kleinen Architekturbüro. Genau genommen hatte ich gejobbt, bis vor zwei Wochen, als mein Chef mir mitgeteilt hatte, dass sein Büro pleite war. Meine letzten beiden Monatsgehälter waren bis heute nicht auf meinem Konto eingegangen und ich hatte ihn noch nicht einmal darauf angesprochen.

Jetzt waren fast Ferien und ich würde mir für den Sommer einen anderen Job suchen müssen. Am liebsten in einer Bar oder einem Restaurant. Irgendetwas, das nichts mit meinem Studium zu tun hatte. Eigentlich wusste ich, dass ich kein Architekt war und auch niemals einer werden würde. Ich trug keine Welt in mir und darum konnte ich auch keine Welt entstehen lassen.

Ksen war in allem das genaue Gegenteil. Diese Tatsache widerlegte auch die Theorie des Bonner Sozialarbeiters, der bei mir ein frühkindliches Trauma diagnostiziert hatte.

Krieg, Flucht, Integrationsprobleme. All das hatte Ksen auch erlebt. Sie war sogar noch ein Jahr jünger als ich. Aber im Gegensatz zu mir besaß Ksen ein inneres Leitsystem, das sie durch das Leben lotste. Auch durch die grauesten und muffigsten Gebäude wie den Betonklotz unserer ehemaligen Schule in Bonn, in dem es zwei Physiklehrer gegeben hatte, die ich damals für typische Physiklehrer hielt, da mir noch nicht bewusst gewesen war, dass alles, was existierte, grundsätzlich in endlosen Variationen vorkam. Der eine trug jeden Tag denselben beigefarbenen Leinenanzug und stopfte sich im Sommer hellblaue Löschpapierblätter unter seine Achseln. Er war zwar nicht ganz so eigenartig wie sein Kollege, aber seltsam genug, um ihn, selbst wenn man ihm wohlgesonnen war, als eindeutig freaky zu bezeichnen. Er hatte einen sarkastischen, unterschwelligen Humor, den neunundzwanzig der dreißig Schüler in unserer Klasse nicht verstanden. Wenn ich nach einem seiner subtilen Witze innerlich lächeln musste, hatte er sich zu mir umgedreht und kaum wahrnehmbar gezwinkert.

Bei dem anderen Physiklehrer erinnerte ich mich nur noch an ein fragmentarisches Bild. Eine großporige und knollenförmige Nase, die sich ruckartig durch den Raum bewegt hatte. Alle hofften, dass die Knolle nicht vor ihnen anhielt. Auf jeden Fall hoffte ich das.

»Sala! Was haben sich deine Eltern nur bei diesem Namen gedacht?«, schnaufte er regelmäßig im Vorübergehen. Bevor ich ihm die Herkunft meines Namens erklären konnte, bevor ich überhaupt irgendetwas hatte erklären können, war er wieder weg gewesen.

Cybionic – Der unabwendbare Anfang 

Подняться наверх