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Die Gänge der Uni waren wie ausgestorben, genauso wie der Hörsaal, in dem vor wenigen Minuten die Vorlesung Processing Numbers angefangen hatte, die Ksen und Antonia normalerweise besuchten. Ksen war nicht dort gewesen. Der Raum war ohnehin fast leer gewesen. Bei der heutigen Hitze hatte offensichtlich niemand Lust zu lernen.

Antonia eilte an einer endlosen Wand mit roten Schließfächern vorbei und ich folgte ihr schweigend. Je tiefer wir in das Gebäude kamen, umso dunkler wurde der Gang. In der hintersten Ecke blieb sie stehen und legte ihre Hand auf eine der kleinen quadratischen Türen. Nummer 39.

Sie steckte den Schlüssel ins Schloss, zog die Tür auf und bückte sich. Ich hockte mich neben sie und sah ebenfalls hinein: Das Fach war leer bis auf ein kurzes schwarzes Kabel.

»Sie hat es ausgeräumt, es sind ja auch fast Ferien.« Antonia zog das Kabel heraus und betrachtete die Enden.

»FireWire zu FireWire«, sagte sie, »für externe Festplatten oder um einen Laptop an einen PC anzuschließen.«

Sie gab mir das Kabel und strich mit ihrer rechten Hand über die Innenwände des Faches. »Moment! Hier ist noch etwas.«

Ich hörte das ratschende Geräusch von Tesafilm. Antonia zog ihre Hand heraus, zwischen Daumen und Zeigefinger hielt sie einen Brief. Der weiße Umschlag war sorgfältig zugeklebt, aber Adresse und Absender fehlten. Sie tastete ihn mit ihren Fingerspitzen ab.

»Etwas dünnes Rechteckiges mit Riffeln«, sagte sie. Sie griff nach meiner Hand und drückte sie auf den Umschlag. »Hier.« Sie zog meinen Zeigefinger ein paar Zentimeter in ihre Richtung.

»Ein altes Foto.« Ich flüsterte, obwohl das albern war.

»Aufmachen?« Antonia sah mich schuldbewusst an.

»Ich weiß nicht.« Ich stand auf und sah mich um.

Wir gingen den langen Gang zurück bis zu einem der großen Fenster im Eingangsbereich. Die Sonne knallte durch das mit Fingerabdrücken übersäte Glas. Mein Shirt klebte inzwischen nicht nur an meinem Rücken, sondern an meinem gesamten Oberkörper. Es waren mindestens 35 Grad im Schatten.

Ich nahm den Briefumschlag aus Antonias Hand und drückte ihn gegen die Scheibe. Im weißen Papier erschienen zwei matte dunkle Pupillen.

»Das Foto.« Antonia flüsterte jetzt ebenfalls. »Das Foto aus ihrem Zimmer! Und was ist das?« Sie zeigte auf eine Art Kalligrafie, die mitten über das Gesicht der Frau lief. Die Schnörkel formten unleserliche Wörter. In der unteren rechten Ecke standen noch mehr Buchstaben. Kleiner und eckiger, wie von einer Schreibmaschine, aber genauso wenig lesbar.

Antonia nahm mir den Brief aus der Hand, drehte ihn um und drückte ihn wieder gegen die Scheibe. Die Buchstaben waren jetzt etwas deutlicher, aber noch immer nicht zu entziffern.

»Sollen wir nicht doch nachsehen?« Sie sah mich unternehmungslustig an. Hinter uns lachten zwei Mädchen, ich drehte mich um. »Okay, aber nicht hier.«

Hinter dem Informatikgebäude setzten wir uns auf eine Holzbank unter einem dünnen Ahornbaum. Antonia zog eine braune Spange aus ihren Haaren und hielt sie mir hin.

»Mach du, dann bleibt es in der Familie.«

»Der Verrat?«

Sie zog ihre Schultern hoch.

Ich nahm die Spange und steckte sie vorsichtig unter die Klebelasche auf der Rückseite des Umschlags. Noch war alles relativ einfach zu erklären. Kurz in Ksens Handy zu sehen, war vielleicht nicht ganz okay gewesen, aber einen Brief aus ihrem Schließfach entwenden und heimlich öffnen?

Der Kleber löste sich einfacher als erwartet. Das Dreieck trennte sich langsam von der Rückseite, an zwei Stellen riss es etwas ein.

Ich zog das alte Foto heraus.

Die junge Frau sah total unscheinbar aus. Kein bisschen mysteriös, noch nicht einmal besonders hübsch. Ihre Pupillen hatten ein mattes Grau. Die Lippen waren blass und schmal.

»Anders«, sagte Antonia. »Schon wieder anders! Dreh mal um.«

Auf der Rückseite stand der schnörkelige Text, den wir am Fenster gesehen hatten. Drei Zeilen in einer sorgfältigen Handschrift.

»Steht da Lenin?« Antonia nahm mir das Foto aus der Hand.

»Eher Lnwlin«, sagte ich.

»Das ist Altdeutsch. Das Foto ist uralt! So schreibt heute niemand mehr!«

»Am Ende der zweiten Zeile steht auf jeden Fall eine 33 und am Ende der dritten eine Jahreszahl, 1938.«

»Moment, den Rest haben wir auch gleich.«

Antonia kramte in ihrer Handtasche und zog ihr iPhone heraus. Sie tippte, dann vergrößerte sie eine Seite mit Daumen und Zeigefinger und lehnte sich zu mir rüber. Ihr Zopf fiel gegen meine Schulter.

»Hier. Sütterlin heißt die Schrift. Sie wurde 1941 von den Nazis verboten.«

Antonia zählte leise bis fünf und sagte: »B und E.« Dann beugte sie sich wieder über das Foto, verglich die schnörkeligen Buchstaben mit denen in ihrem Handy und ermittelte die Position im Alphabet.

»R und L, danach ein I.«

»Berlin«, sagte ich.

»O und D, ein E, R«, fuhr Antonia fort und sah wieder auf die vergilbte Rückseite des Fotos. »B, E, R.«

»Oderberger Straße 33.« Meine Stimme kam mir eigenartig vor.

»Da steht Ksens Adresse.« Antonia sprach so leise, dass ich sie kaum verstand. »E, L, L und ein A. Ella. 1938.«

»Das in der Ecke sieht aus wie ein Stempel.« Ich drehte das Bild vorsichtig hin und her; in der Pappe waren verblichene Vertiefungen zu erkennen.

Antonia lehnte sich an meine Schulter. »Institute for … Der Rest fehlt. Darunter ein P oder ein B? Auf jeden Fall ist es Englisch.«

»Ksen war im Januar und Februar in Amerika«, sagte ich.

»Sie war im Silicon Valley, dort sammeln die doch keine alten Fotos.«

»Auf dem Rückweg hat sie auch noch ein paar Archive besucht. In der Nähe von New York.«

»Institute for … Sie hat das Foto aus dem Archiv irgendeines Institutes mitgehen lassen.«

Ich steckte das Bild wieder in den Umschlag. »Das kann nicht sein, Antonia.«

»Was kann nicht sein?« Antonia sah mich mit zusammengezogenen Augenbrauen an.

»Ihre Adresse steht auf der Rückseite! In altdeutscher Schrift! Das Foto wurde 1938 aufgenommen.«

»Ja und? Vielleicht hat sie das Foto ja deshalb mitgenommen? Das hätte ich auch gemacht, wenn ich auf einmal meine eigene Adresse auf so einem uralten Archivfoto irgendwo in Amerika entdeckt hätte. Sie hat das Foto einfach stibitzt und später ein schlechtes Gewissen bekommen und es darum in ihrem Schließfach versteckt.«

»Ksen ist aber erst Ende Februar in die Oderberger Straße gezogen«, sagte ich und versuchte zu verstehen, was das bedeutete.

»Stimmt! Sie hat also erst das Foto gefunden und ist danach umgezogen?« Antonia sah mich ungläubig an.

Ich konnte nur den Kopf schütteln. Das hätte Ksen mir erzählt. Wenn sie ein Foto in Amerika gefunden hätte, mit einer Berliner Adresse in altdeutscher Schrift auf der Rückseite, und dann ein paar Wochen später zufällig in dasselbe Gebäude gezogen wäre, das hätte sie mir auf jeden Fall erzählt.

Wenn ich mich richtig erinnerte, hatte sie mit keinem Wort erwähnt, wie sie an das Zimmer in der Oderberger Straße gekommen war.

Cybionic – Der unabwendbare Anfang 

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