Читать книгу Cybionic – Der unabwendbare Anfang  - Meike Eggers - Страница 20

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Die Tür, hinter der Herr Schmidt wohnte, sah genauso aus wie Ksens Wohnungstür. Weiß lackiertes Holz, ein schnörkeliger kupferfarbener Türgriff. Neben der Klingel klebte ein weißes Stück Plastik, auf dem in schwarzen eckigen Buchstaben S. Schmidt stand.

Der einzige Unterschied zwischen der dritten und der vierten Etage war eine weitere Tür zwischen Schmidts Wohnungstür und der Treppe, die hinaufführte zum fünften Stock. Auf keiner der unteren Etagen gab es an dieser Stelle eine Tür. Auch Frau Markovic hatte von nur einer Wohnung auf der rechten Seite im vierten Stock gesprochen. Die ehemalige Wohnung der Familie Wiese, in der jetzt Herr Schmidt mit seinem Dackel wohnte. Die dritte Tür sah zwar ebenfalls alt aus, aber nicht so alt wie die anderen. Sie war aus hellbraunem Holz ohne irgendwelche Verzierungen, nicht einmal lackiert. Ganz sicher hatte sie nicht zur Erstausstattung dieses Hauses gehört. Ein Namensschild gab es nicht. Wahrscheinlich war die Tür zu einem Zeitpunkt, als Frau Markovic nicht mehr in die vierte Etage kam, eingebaut worden.

Im Erdgeschoss schlug die Haustür zu und kurz darauf erklang Gewinsel und Getapse im Treppenhaus. Eine Sekunde lang blieb ich regungslos stehen und überlegte, ob ich loslaufen sollte. Würde ich es noch schaffen, ungesehen in Ksens Wohnung zu verschwinden?

Ich unterdrückte meinen Fluchtreflex und zwang mich, die Treppe im normalen Tempo hinunterzugehen. Mein Herz schlug bei jeder Stufe gegen meine Rippen. Ich benahm mich wie ein illegaler Eindringling. Als ich den Schlüssel in Ksens Wohnungstür umdrehte, hörte ich das Schnaufen von Herrn Schmidt hinter mir. Ich blickte so normal wie möglich über meine Schulter.

»Ah, guten Tag, Herr Schmidt.«

Rübe kläffte und Schmidt sah irritiert auf die Socken an meinen Füßen.

»Haben Sie die Unterlagen inzwischen durchgeschaut? Genug Zeit hatten Sie ja für die paar Seiten.«

»Ja, sehr interessant«, log ich und ärgerte mich, dass ich die Papiere nicht richtig gelesen hatte. Jetzt fiel mir keine sinnvolle Frage ein.

»Und hat Ihre Schwester sich entschieden, ob sie sich einen Hund anschaffen will?«

»Ihr Vermieter findet es doch keine so gute Idee.«

»Das dachte ich mir. Kann ich meine Unterlagen dann wieder mitnehmen?«

»Natürlich. Ich bringe sie Ihnen gleich nach oben.«

»Gut, aber beeilen Sie sich, ich habe nicht viel Zeit.«

Schmidt stieg die Treppe hoch und ich holte die Kopien aus Ksens Zimmer. Was sollte ich sagen? Mein Blick fiel auf meine Schuhe, die unter der Garderobe im Flur standen. Ich setzte mich auf den Fußboden und zog sie an. Ich wollte Schmidt nicht noch misstrauischer machen.

Ein paar Minuten später reichte ich ihm die Kopien über die Türschwelle und versuchte, in die Wohnung zu spähen, aber er versperrte mir mit seinem Köper die Sicht. Auf dem Boden lag ein Siebziger-Jahre-Teppich mit goldbraunem Prilblumen-Muster. Früher war der Teppich vermutlich mehr golden als braun gewesen, jetzt war es andersrum.

»Cooler Teppich«, sagte ich, um zu verhindern, dass er mir die Tür vor der Nase zudrückte.

»Den wollte ich immer austauschen, aber ich bin noch nicht dazu gekommen.«

»Wohnen Sie denn noch nicht so lange hier?«

Schmidt lehnte sich mit der rechten Schulter gegen den Türpfosten. »Eine Weile. Als ich hier einzog, war ich so in Ihrem Alter. Jetzt will ich die Wohnung verkaufen. Mir ist das hier alles viel zu viel Trubel.«

»Verkaufen? Tatsächlich! Ich denke darüber nach, eine Wohnung zu kaufen. Kann ich mir Ihre einmal ansehen?«

Schmidt kniff seinen Mund zusammen, ging einen Schritt zurück und schloss die Tür bis auf einen kleinen Spalt. »Jetzt passt mir das nicht, ich habe wenig Zeit und es ist nicht aufgeräumt.«

»Ich räume auch nicht so oft auf«, versuchte ich es noch einmal, »nur schnell reingucken würde mir reichen für den ersten Eindruck.«

Schmidt machte noch einen Schritt zurück und musterte mich fast verängstigt durch den Spalt. Wer glaubte schon, dass ein Student wie ich eine Altbauwohnung mitten in Berlin bezahlen konnte?

»Auf Wiedersehen«, sagte er und drückte die Tür zu.

Am nächsten Morgen um kurz nach zehn hörte ich, wie Schmidt und Rübe die Treppe nach unten gingen. Ich schlich wieder hoch in den vierten Stock und betrachtete die Tür neben Schmidts Wohnung, die mir die ganze Nacht keine Ruhe gelassen hatte. Ich hatte geträumt, dass ich durch das Schlüsselloch sah und die Umrisse von Ksens grünen Stiefeln erkannte. Als ich am Morgen ihren Schrank durchsucht hatte, standen die Stiefel auf dem untersten Brett. Meine Träume machten mich verrückt, am besten ging es mir, wenn ich gar nicht schlief.

Gestern Abend um kurz vor elf hatte Antonia mich endlich zurückgerufen. Auch sie war davon überzeugt, dass das Foto von ihr auf dem umgeknickten Stoppschild das letzte Bild in Ksens Handy gewesen war. Ich hatte ihr vorgeschlagen, zu ihr zu kommen, aber sie hatte gesagt, dass sie bereits eine Verabredung hätte.

Die zusätzliche Tür auf der vierten Etage ähnelte einer altmodischen Bürotür, sie war komplett neutral. Es gab keine Hinweise darauf, wer oder was sich dahinter verbarg. Das Schloss war groß und klobig, beinahe brutal. Vielleicht fiel es an der ansonsten kahlen Tür auch nur besonders auf. Einen seltsamen Umstand hatte ich gestern gar nicht bemerkt: Nicht nur das Namensschild fehlte, noch ein weiteres Detail, das man bei einer normalen Wohnung erwarten konnte, gab es bei dieser nicht: eine Klingel. Entweder legte der Bewohner keinen großen Wert auf Besuch, oder, und davon ging ich inzwischen aus, es befand sich gar keine Wohnung hinter dieser Tür.

Wenn einer wusste, was es mit dieser Tür auf sich hatte, dann war das Herr Schmidt. Nur konnte ich bei dem nicht schon wieder mit irgendwelchen zwielichtigen Geschichten ankommen. Außerdem hatte Schmidt das Haus gerade verlassen und kam wahrscheinlich erst abends nach seiner Arbeit wieder zurück.

Eine andere Möglichkeit war der Hausmeister, der im Erdgeschoss wohnte. Ich hatte ihn einmal vorher gesehen, als ich nach einem Konzert bei Ksen übernachtet hatte. Als wir im Morgengrauen die Treppe hochgestiegen waren, hatten wir beinahe die Leiter umgestoßen, mit der der Hausmeister eine neue Birne in schwindelerregender Höhe eindrehte.

Entschlossen lief ich hinunter bis ins Erdgeschoss und klingelte an der Tür der Hausmeisterwohnung. Uwe und Lorelei Kleppner prangte in geschwungenen Buchstaben auf einem kupfernen Klingelschild.

Uwe Kleppner öffnete die Tür und sah mich aus von Lachfalten umrahmten Augen an.

»Guten Morgen. Ich habe eine kurze Frage«, sagte ich.

»Das ist aber mal ein außergewöhnlicher Anlass, um bei mir zu klingeln. Normalerweise klingeln hier nur Leute, die irgendwelche Klagen oder Probleme haben. Was gibt es denn?« Der Hausmeister musterte mich neugierig.

»Ich bin der Bruder von Ksenija Tassujev aus der dritten Etage. Sie wohnt hier seit ein paar Monaten.«

Der Hausmeister nickte. »Aber sicher, das Fräulein Tassujev kenne ich. Geht es ihr gut? Ich habe sie schon eine Weile nicht mehr gesehen.«

»Ich kann sie seit ein paar Tagen nicht mehr erreichen. Darum klingle ich gerade überall, um zu fragen, ob sie jemandem erzählt hat, dass sie vielleicht verreisen wollte oder so.«

Der Hausmeister sah mich erschrocken an. »Nein, ich habe Ihre Schwester wie gesagt schon ein paar Tage nicht mehr getroffen. Sie hat auch nichts über eine Reise erzählt, als ich sie zum letzten Mal sah. Das war vorletzte Woche, wenn ich mich richtig erinnere. Ja, an einem Freitagmorgen. Haben Sie schon alle Nachbarn gesprochen?«

»Einige, aber die konnten mir nicht weiterhelfen. In der vierten Etage gibt es eine Wohnung ohne Namensschild, die ist sicherlich nicht vermietet, oder?«

»Sie meinen die Wohnung von Ferdinand Wiese.«

Der Name durchfuhr mich wie ein Stromschlag.

»Na ja, was heißt Wohnung«, fuhr der Hausmeister fort. »Herr Wiese wohnt da nicht, er lebt schon seit Jahrzehnten in Kanada. Er ist direkt nach dem Krieg nach Toronto ausgewandert. Noch bevor die Mauer gebaut wurde und die Grenzen dicht waren. Er hat mir das alles mal erzählt, als er nach dem Mauerfall zum ersten Mal wieder in Berlin war. Seine Eltern hat er nie wiedergesehen, die sind beide recht früh verstorben. Nachdem die Eltern tot waren, ist eine Tante eingezogen. Die gute Dame ist steinalt geworden. Sie hat den Mauerfall noch erlebt und hat Herrn Wiese sogar noch einige Male getroffen. Nach der Wende war er regelmäßig hier. Mit seinen Kindern, später mit den Enkeln. Dann ist die Tante verstorben und die Besuche wurden seltener. Jetzt war er schon einige Jahre nicht mehr hier. Ich denke, dass er nicht mehr ganz gesund ist. Er ist inzwischen ein alter Mann.«

»Wieso behält die Familie die Wohnung, wenn niemand mehr nach Berlin kommt?«

»Ja, das müssen Sie mich nicht fragen. Die Tante hat die Wohnung in den Neunzigern gekauft und in zwei Wohnungen aufteilen lassen, in eine große und eine kleine. In der großen hat sie selbst gewohnt, in der kleinen hat sie Sachen für Herrn Wiese untergestellt. Als sie ein paar Jahre später starb, hat Ferdinand Wiese alles geerbt. Die große Wohnung hat Herr Wiese direkt verkauft, an Herrn Schmidt, und die Kleine hat er behalten.«

»War Ferdinand Wiese denn das einzige Kind? Gibt es sonst gar keine Familie mehr in Berlin?«

»Soweit ich weiß, war er ein Einzelkind. Jedenfalls hat er nie irgendwelche Geschwister erwähnt. Die Tante hatte auf jeden Fall auch keine Kinder, und ob es noch mehr Familienangehörige gab? Ich denke nicht. Herr Wiese hat immer nur von seiner Familie in Kanada geredet. Er war ein gesprächiger Mann.«

Und Ella? Was ist mit Ella?

Der Hausmeister sah mich geduldig an.

»Sieht denn niemand in der Wohnung mal nach dem Rechten?«

»Oh, doch, ein Bekannter der Familie hat einen Schlüssel, der kommt hin und wieder, um zu sehen, ob alles in Ordnung ist. Richtig gut ist das natürlich nicht, so eine leerstehende Wohnung. Einmal gab es einen Wasserschaden, das war vielleicht eine Schweinerei. Das Wasser lief bis in die dritte Etage. Damals musste ich die Tür von einem Schlüsseldienst öffnen lassen und ich habe ein wenig aufgeräumt. Einige Sachen zum Trocknen ausgelegt. Die Zimmer stehen voll mit altem Krempel, was man so aufbewahrt.«

»Alte Möbel, meinen Sie?«

»Unter anderem. Und viele Umzugskartons mit Unterlagen. Mir gefällt das ja eigentlich nicht. Das ganze alte Papier da oben! Wenn da mal ein Funke reinfliegt, dann brennt das besser als ein Maifeuer. Aber die Leute können in ihren Wohnungen machen, was sie wollen. Na ja, nicht alles natürlich, aber fast.« Er schüttelte den Kopf.

Ich bedankte mich und stieg langsam die Treppe hoch. Ich konnte versuchen, Kontakt mit Ferdinand Wiese aufzunehmen, und ihn fragen, warum er seine Schwester verschwieg. Aber vielleicht war der alte Mann krank. Ich konnte ihn, wenn überhaupt, nur telefonisch erreichen. Vermutlich hatte er auch E-Mail, aber das alles war viel zu kompliziert. Es hätte viel zu lange gedauert. Was, wenn Ksen hinter der hellbraunen Tür war? Sollte ich nicht doch zur Polizei gehen? Aber ich wusste immer noch nichts Konkretes. Es gab noch immer keinen Hinweis auf eine Straftat. Die Polizei würde die Wohnung niemals öffnen.

Cybionic – Der unabwendbare Anfang 

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