Читать книгу Cybionic – Der unabwendbare Anfang  - Meike Eggers - Страница 15

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Ich saß am Küchentisch von Ksens WG und wartete auf Schritte im Treppenhaus. »Zu viele Worte verloren.« Was hatte Frau Markovic damit gemeint?

Ksens Mitbewohner warfen mir nur noch mitleidige Blicke zu, wenn sie mir zufällig in der Wohnung begegneten. Karl hatte ich seit dem gemeinsamen Bier-Frühstück nicht mehr gesehen. Ksen war jetzt fünf Tage weg. Der seltsame Zufall, dass zwei junge Frauen aus diesem Haus spurlos verschwunden waren, zwang meine Gedanken in nur noch eine Richtung: Ellas Verschwinden hatte mit Ksens Verschwinden zu tun.

Tunnelblick, sagte ich mir, aber eine andere Spur gab es nicht, so sehr ich mich auch bemühte, sie zu finden.

»Fünfundsiebzig Jahre sind eine zu lange Zeit«, hatte die Polizistin mit den leuchtend rot geschminkten Lippen gesagt, als ich gestern Nachmittag auf der Polizeiwache gesessen und ihr von meinem Gespräch mit Frau Markovic erzählt hatte. »Es ist absolut unwahrscheinlich, dass diese beiden Vorfälle miteinander zu tun haben.«

Sie hatte ihre Mundwinkel weit nach unten gezogen, als ob sie extra für mich einen einfarbigen Mini-Regenbogen formen wollte.

Um kurz vor zwölf hörte ich endlich Schritte und Getapse im Treppenhaus. Ich griff nach dem Müllsack, den ich neben der Spüle bereitgestellt hatte, lief durch den Flur und öffnete die Wohnungstür. Der Dackel vor mir stieß ein schrilles Heulen aus und fixierte den Müllsack in meiner Hand.

»Guten Morgen«, sagte ich.

»Guten Mittag«, antwortete der Mann mit der Halbglatze, der hinter dem Dackel herlief.

Ein tiefes Knurren mischte sich in das Heulen. »Ruhig, Rübe! Wir gehen weiter.« Der Mann zog an der Leine. Rübe stemmte sich mit den Beinen dagegen und versuchte vergeblich, seine Krallen in die glatt geschliffenen Dielen zu bohren.

»Darf ich Sie kurz etwas fragen?«

Der Mann hörte auf, an der Leine zu zerren, und blieb regungslos stehen. Er machte den Eindruck, als ob er sich darauf einstellte, dass ihn im nächsten Moment ein paar Peitschenhiebe trafen.

»Meine Schwester will sich einen Hund anschaffen«, sagte ich schnell, »kann sie das einfach so machen oder muss sie um Zustimmung bei der Wohnungseigentümerversammlung bitten?«

Der Mann drehte sich langsam zu mir um und sah mich verwirrt an. »Es gibt zu diesem Thema Abschnitte in den Niederschriften der Eigentümerversammlung. Die kann Ihre Schwester einsehen. Ich habe das auch einmal getan. Es hat einige Wochen gedauert, bis ich die Unterlagen bekam, aber eine Mieterin hatte sich über Rübe beschwert, daher musste ich mich informieren. Hat Ihre Schwester denn schon mit ihrem Vermieter gesprochen?«

»Haben Sie die Unterlagen zufällig noch? Wäre nett, wenn wir die bei Ihnen einmal ausleihen dürften. Ich versuche ja schon die ganze Zeit, ihr diese Hunde-Idee auszureden.«

»Ja, die hab ich sicherlich noch«, sagte er zögerlich. »Ich werfe die Papiere nachher in den Briefkasten, dann geben Sie sie mir wieder zurück, wenn Sie alles gelesen haben. Ich wohne in der vierten Etage rechts, Herr Schmidt. Legen Sie die Blätter einfach auf die Fußmatte vor der Wohnungstür. In die vierte Etage kommt ja so gut wie niemand.«

Als die Haustür im Erdgeschoss zuknallte, sah ich auf den Müllsack in meiner Hand und ging ebenfalls die Treppe hinunter. Im Hof stopfte ich den Sack in den Müllcontainer zwischen einen alten Teppich und eine verdorrte Zimmerpalme.

Mein Magen knurrte, gestern Abend hatte ich eine trockene Scheibe Brot heruntergewürgt, heute Morgen noch gar nichts. In meiner Hosentasche klimperte etwas Kleingeld. Ich ging auf die Straße und sah mich um. Die Sonne schien, die Cafés waren voll mit Männern in kurzen Hosen und Frauen in Sommerkleidern. Ich hatte seit Tagen dieselbe Kleidung an und fühlte mich wie ein Alien, das aus einer Lichtjahre entfernten Grotte gezerrt worden war. Schnell strich ich mir die Haare aus dem Gesicht und lief die Oderberger Straße hinunter bis zum Bäcker am Mauerpark.

Das Eibrötchen, das ich normalerweise gekauft hätte, kam mir heute wie ein getrockneter Küchenlappen vor. Das Käsebrötchen hatte einen Grünstich, der Kümmel sah aus wie kleine Tiere. Ich wollte gerade wieder gehen, als jemand auf meine rechte Schulter tippte.

»Guten Morgen.« Antonia stand neben mir. »Gibt es was Neues?«

Die Verkäuferin hinter dem Tresen räusperte sich ungeduldig. »Was darf es denn nun sein?«

»Lass uns frühstücken gehen«, sagte Antonia und ließ ihr Portemonnaie demonstrativ in die Handtasche plumpsen. »Du bist eingeladen.«

»Ich habe gestern eine alte Nachbarin aus Ksens Haus gesprochen«, sagte ich, als wir auf der Straße standen. »Sie kannte die Frau auf dem Foto.«

»Wieso hast du mich nicht sofort angerufen?«

»Ich habe dir eine Nachricht geschickt.«

»Gestern?« Sie holte ihr iPhone aus der Handtasche und öffnete WhatsApp. Ihre rosa Sandalen klackten auf den Pflastersteinen. »Bist du sicher?«

»Ja, gestern Morgen, bevor ich zur Uni gefahren bin. Also vormittags war das eher.«

»Ich habe keine Nachricht bekommen.« Sie zwinkerte mit dem rechten Auge. »Vielleicht hast du das nur geträumt?«

Ich zog mein Galaxy aus der Hosentasche und öffnete ebenfalls WhatsApp. Tatsächlich hatte ich Antonia keine Nachricht geschickt. Dabei war ich mir ganz sicher, dass ich den Text getippt hatte. Wahrscheinlich hatte ich einfach vergessen, ihn abzuschicken. Ich war gestern übermüdet gewesen. Von der Vorlesung hatte ich auch nichts mitbekommen.

Wir setzten uns an einen kleinen runden Tisch. Spatzen sprangen unter den Stühlen hindurch, hockten auf den Rückenlehnen oder steckten ihre Köpfe in halbleere Müslischalen. Antonia bestellte zwei französische Frühstücke, dann sah sie mich vorwurfsvoll an.

»Also, erzähl! Und nächstes Mal rufst du mich an.«

»Ksen war mit dem Foto bei einer alten Nachbarin. Frau Markovic. Mein Gespräch mit ihr verlief ziemlich seltsam. Erst war sie total freundlich und dann auf einmal nur noch wirr. Auf jeden Fall war die Frau auf dem Foto ihre beste Jugendfreundin gewesen. Sie hieß Ella Wiese.« Ich machte eine kurze Pause und sah mich um. Wir saßen fast alleine auf der Terrasse. »Ella ist spurlos verschwunden«, fuhr ich fort. »Vor ungefähr fünfundsiebzig Jahren.«

»Was?« Antonia ließ ihr Croissant auf den Teller fallen. »Und das erzählst du mir so nebenbei?«

»Als ich der Nachbarin erzählt habe, dass Ksen auch weg ist, meinte sie, sie habe immer geahnt, dass Ellas Schicksal irgendwann zu ihr zurückkehren würde.«

»Zurückkehren? Was soll das heißen?«

»Ja, zurückkehren, genau so hat sie es gesagt. Danach hat sie nur noch wirres Zeug geredet und alle Fragen abgeblockt. Sie sagte, sie habe schon zu viele Worte verloren.«

»Was für wirres Zeug genau?«

»Dass es keine Zufälle gibt, dass wir gelenkt werden, so was.«

Antonia sah mich mit zusammengezogenen Augenbrauen an. Auf einmal hatte ich ein seltsames Gefühl. Ich drehte meinen Kopf erst nach rechts, dann nach links. Auf einem breiten Blumenkasten aus altem Treibholz stand ein dickbäuchiger Fernseher, das Antennenkabel hing sinnlos in einem Bambusstrauch. Auf dem Tisch lag Antonias iPhone, das Display reflektierte das Sonnenlicht.

»Wie alt war diese Ella, als sie verschwand?«, fragte Antonia.

»Das habe ich nicht gefragt. Es war irgendwann im Krieg. Anfang zwanzig, schätze ich.«

»Kann es nicht sein, dass sie im Krieg gestorben ist? Gibt es keine Familie mehr von dieser Ella? Oder Bekannte, irgendwelche neutralen Informationsquellen? Vielleicht ist die alte Frau leicht dement?«

»Heute Morgen habe ich mit dem Typen gesprochen, der jetzt in der ehemaligen Wohnung von Ellas Familie lebt. Ich hoffe, dass ich bald noch etwas ausführlicher mit ihm reden kann. Vielleicht weiß er, was mit Ellas Familie passiert ist.«

»Wann triffst du ihn?«

»Er scheint ziemlich misstrauisch, ich überlege gerade, wie ich ihn in ein Gespräch verwickeln kann.«

»Warum erzählst du ihm nicht einfach, dass Ksen weg ist und du seine Hilfe brauchst?«

»Der denkt doch, ich spinne, wenn ich ihm diese Geschichte erzähle.«

Antonia sah auf ihr Handy. »Vielleicht. Oder auch nicht. Du kannst es probieren.«

»Ich weiß nicht. Warum hat Ksen die Fotos abgenommen, wenn wir bei ihr zu Besuch waren? Warum hat sie nie etwas von dem Foto und der Adresse auf der Rückseite erzählt? Oder wie sie an das Zimmer in der Oderberger Straße gekommen ist? Vielleicht müssen wir vorsichtig sein.«

»Bei wem?«

»Ksen hat etwas verheimlicht! Genau wie die alte Frau. Weißt du, was ich inzwischen denke?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ksen hat ein Doppelleben geführt.«

Antonia lachte laut. »Ach komm, das ist doch totaler Quatsch.«

»Es ist auf jeden Fall eine Möglichkeit!«

»Hockst du noch immer Tag und Nacht in ihrem Zimmer? Du bekommst langsam Ähnlichkeit mit einem Zombie. Du musst unbedingt mal raus. Du steigerst dich in irgendwelche Hirngespinste rein. Ich fahre morgen früh nach Zehlendorf, die Katzen füttern. Meine Eltern sind im Urlaub. Heute Abend gehe ich auf die Geburtstagsfeier einer Schulfreundin und fahre danach mit der U-Bahn hin. Kommst du mit? Wir können bei Sonnenaufgang im See schwimmen, das ist gut für die Seele und fürs Gehirn.«

»Ich weiß nicht.« Ich hatte keine Lust, Antonia zu erzählen, dass ich nicht besonders gut schwimmen konnte. Eigentlich gar nicht, höchstens mit großer Anstrengung an der Wasseroberfläche treiben, ohne sofort zu ertrinken. Ich kam mir inzwischen vor wie der perfekte Loser.

»Wir können auch später fahren. Sonnenuntergang ist auch nett. Dann hau ich mich davor erst noch eine Runde aufs Ohr. Die Katzen fallen nicht gleich tot um, wenn sie nicht pünktlich ihr Frühstück bekommen.« Antonia zwinkerte mir zu.

»Die Zeit ist okay.«

»Dann treffen wir uns um sechs an der U-Bahn-Station Bernauer Straße. Wenn du nicht da bist, komm ich dich holen!«

Cybionic – Der unabwendbare Anfang 

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