Читать книгу Cybionic – Der unabwendbare Anfang - Meike Eggers - Страница 8
2
ОглавлениеIch betrat Ksens Zimmer und versuchte, nicht zu denken. Ein Gefühl, das sich noch nicht in Worten verfestigt hat, ist so vergänglich wie Wasserdampf. Gedanken jedoch hinterlassen Abdrücke. Gedanken besitzen eine unkontrollierbare Macht.
Der Drehstuhl knarrte, als ich mich setzte. Ksens Schreibtisch sah aus wie immer. Der staubige Bildschirm thronte auf der linken Seite, rechts daneben die Webcam. Auf der Tastatur lag ein Bierdeckel, auf dem ein kurzer handgeschriebener Text stand: Wirklichkeit ist nur eine Möglichkeit.
Während ich über den Satz nachdachte, drängte sich ein leises, hohl klingendes Kratzen in mein Bewusstsein. Ich sah mich im Zimmer um. Das Fenster stand einen Spalt offen. Die schmutzigen Scheiben verwandelten das harte Morgenlicht in diffuse Strahlen.
Auf dem Bett lag eine grün-orange karierte Wolldecke. Neben dem Schrank türmte sich Kleidung zu einem Haufen. Noch einmal sah ich auf den Bierdeckel. Ksen war schon immer in allem schneller gewesen – das war mir zum ersten Mal bewusst geworden, als wir vor sechzehn Jahren in Bonn eintrafen. Nach fünf Monaten konnte sie beinahe akzentfrei Deutsch sprechen, nach einem weiteren Jahr war sie Klassenbeste, während ich meinen Schul- und Landeswechsel nicht so fließend überstanden hatte und die dritte Klasse wiederholen musste. Von da an war ich im selben Jahrgang wie meine fünfzehn Monate jüngere Schwester. Alle hielten mich für ihren kleinen Bruder, und eigentlich war ich das auch. Ksen lenkte meine Augen, belebte meine Gedanken, sorgte dafür, dass ich überhaupt noch etwas wahrnahm. Durch sie hatte sich das Chaos der Außenwelt geordnet, das regelmäßig über meinem Kopf zusammenschwappt war.
Ich stand auf und ging zum Fenster. An der Wand hinter dem Schreibtisch, vom Bildschirm halb verdeckt, hingen drei bedruckte A4-Blätter, die ich hier bisher noch nicht gesehen hatte. Auf allen war dasselbe schwarz-weiße Porträtfoto einer jungen Frau abgebildet. Die oberen Ecken waren mit dünnen Tesafilmstreifen an der Mauer befestigt, an denen unzählige weiße Farbreste und kleine Fusseln klebten. Durch die Zugluft bewegten sich die Unterseiten der Papiere leicht über den Putz.
Die Frau trug eine helle Bluse mit altmodischen Bügelfalten und einem hochstehenden Kragen. Ihr Kopf war ebenmäßig und rundlich. Die Nase wirkte etwas zu klein für ihr Gesicht, ihre Augen hingegen waren groß und oval. Das Grau der Iris sah weder hell noch dunkel aus, sondern harmonisch mittelgrau. Vermutlich waren ihre Augen braun, genau wie ihr Haar, das in einer weichen Welle über den Kopf gekämmt und am Hinterkopf zusammengesteckt war. Ihr Mund zeigte keine Gefühlsregung, aber in ihren Augen lag ein schüchternes Lächeln. Der Schwung ihres Halses und die Haltung ihrer Schulter strahlten eine subtile Eleganz und erhabene Ruhe aus. Auf den zweiten Blick wirkte sie viel jugendlicher. Sie war auf jeden Fall jünger als ich, höchstens zwanzig. Das Bild musste aus der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts stammen.
Langsam ging ich durch den Flur und sah in der Küche aus dem Fenster. Obwohl es erst Anfang Juni war, walzte der Sommer mit tropischen Temperaturen über Berlin hinweg. Es hatte seit Wochen nicht geregnet. Die Blätter des alten Kastanienbaums hingen schlaff auf das Dach des Nachbarhauses. In der WG war es still. Auf der Bernauer Straße fuhren ein paar Autos, der Mauerpark schien menschenleer. Um mich abzulenken, zählte ich die Neubauten auf dem ehemaligen Todesstreifen, deren Fenster das grellgelbe Licht der aufgehenden Sonne reflektierten. Bei zwölf gab ich auf. Angst drückte gegen meine Magenwand. Ich musste etwas tun, aber ich wusste nicht, was.
Seit ich neun Jahre alt war, geißelte die Tradition des Verschwindens mein Leben. Alles hatte im Winter des Jahres 2000 begonnen, als unsere Familie aus dem verwüsteten Grosny flüchtete. Ich klammerte mich orientierungslos an die Hand meines Vaters, der Sturm schlug mir harte Schneeflocken ins Gesicht. Meine Omas und Opas, Tanten, Cousins und Cousinen blieben in Grosny. Was mit ihnen passierte, haben wir nie erfahren.
Zurück in Ksens Zimmer betrachtete ich noch einmal die junge Frau auf dem Foto. Sie erinnerte mich an niemanden. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie ein Familienmitglied war. Aber Ksen und ich sahen uns auch nicht sehr ähnlich, bis auf die schwarzen Haare und die helle Haut. Ksen hatte das Äußere unserer Mutter geerbt, die schmalen slawischen Augen der Russen. Mit großen, auffallend dunklen Pupillen, die ihr etwas Geheimnisvolles gaben. Ich glich in allem unserem Vater. Meine Augen waren runder und ockerfarben. Wie die Steppen im Vorland des Kaukasus, hatte meine Mutter gesagt, als sie sich noch für etwas anderes interessierte als ihre Wodkaflaschen.
Als ob meine Eltern schon vor der Geburt ahnten, wie sich ihre Gene aufteilen würden, hatten sie die Namen passend gewählt. Ksenija, russisch wie meine Mutter, während ich Salavdi genannt worden war, traditionell tschetschenisch wie mein Vater, der an einem sonnigen Freitag vor vierzehn Jahren zu seinem Morgengebet in einer Bonner Vorortmoschee aufbrach und nicht zurückkehrte. Am selben Abend fiel unsere Mutter mit einer Flasche in der linken Hand unter den Küchentisch, und obwohl sie irgendwann wieder aufgestanden war, war auch sie nicht wirklich zurückgekehrt.
An einem Nagel neben dem Schrank hingen die Reserveschlüssel für die Haus- und Wohnungstür, die ich schon oft ausgeliehen hatte, wenn ich bei Ksen zu Besuch war und kurz etwas besorgen musste. Ich griff nach dem Haustürschlüssel und steckte ihn in meine linke Hosentasche. Darunter hing ein weiterer Schlüssel, klein und mit einer eingestanzten 39 auf dem runden Ende.
Unter Ksens Schreibtisch entdeckte ich ihr Samsung Galaxy, das Display war übersät mit Fingerabdrücken und fettigen Streifen. Ich hob es auf und drückte auf die Einschalttaste, aber der Bildschirm blieb schwarz.
Das Ladekabel hing in einer Steckdose neben der Zimmertür. Ich setzte mich auf den Fußboden daneben und lauschte dem Scheppern, das inzwischen aus der Küche kam. Einer ihrer Mitbewohner war wohl aufgestanden und räumte die Geschirrspülmaschine aus.
Mit schlechtem Gewissen steckte ich das Kabel in Ksens Handy. Es dauerte ein paar Sekunden, dann piepte es, das Batteriezeichen erschien auf dem Bildschirm und zeigte einen schmalen roten Strich. Nach einer Minute ließ sich das Gerät einschalten und verlangte den Sicherheitscode. Ich sah auf die Datumanzeige, heute war Sonntag, der fünfte Juni. 5.6.2016. Angenommen, sie hatte ihr Handy gestern, am 4.6.2016, zum letzten Mal benutzt, dann lautete ihr Passwort 6 + 4 = 10 = 1, 6 + 6 = 12 = 3, 6 + 20 = 26 = 8, 6 + 1 = 7, 6 + 6 = 12 = 3. Seit ein paar Monaten hatte Ksen den seltsamen Tick, täglich ein neues Passwort einzugeben. Vor einigen Wochen hatte ich nach einer Party bei ihr übernachtet und sie am frühen Morgen dabei beobachtet, wie sie das Passwort änderte. Von unserer Mutter hatte Ksen die Eigenschaft geerbt, in unbeobachteten Momenten halblaute Selbstgespräche zu führen. Von da an hatte ich akribisch darauf geachtet, wie sie ihr Handy entsperrte. Jeder Tag hatte eine eigene Zahlenkombination. Einmal hatte ich einen Scherz darüber gemacht, aber das hatte Ksen mit einem kurzen Lachen ignoriert. Es dauerte fast einen Monat, bis ich das Schema, nach dem sie vorging, begriffen hatte. In dem Moment hatte ich eine tiefe Erleichterung gefühlt. Natürlich ging mich das Passwort nichts an und vielleicht war ich tatsächlich viel zu sehr auf meine Schwester fixiert, aber ohne Ksens Nähe, ohne ihr Vertrauen versank ich in einer Art bodenlosen Hilflosigkeit. Ich tippte 13873. Der Code war falsch.
Ziffer für Ziffer kontrollierte ich die Zahlen, alles stimmte. Im Gegensatz zu meiner Schwester war ich kein kleiner Einstein im Kopfrechnen. Ihren Spaß an Dingen wie diesen konnte ich ohnehin nicht verstehen und den Nutzen schon gar nicht. Dass das Passwort falsch war, konnte nur bedeuten, dass sie ihr Handy gestern nicht benutzt hatte. Das hatte ich befürchtet, seit Freitagabend beantwortete sie keine meiner Anrufe oder Nachrichten. Freitag war der 3.6.2016 gewesen. Ich rechnete: 5 + 3 = 8, 5 + 6 = 11 = 2, 5 + 20 = 25 = 7, 5 + 1 = 6, 5 + 6 = 11 = 2, und gab die Zahlen ein. 82762. Mein Herz schlug schneller. Diesmal ließ sich das Handy entsperren. Der tiefseeblaue Screensaver leuchtete in meiner linken Hand, Nachrichten poppten auf und füllten das Display in Sekundenschnelle. Trotzdem kam mir das alles vor wie ein definitives Todesurteil. Normalerweise ließ Ksen ihr Handy niemals länger als einen Tag unberührt in ihrem Zimmer liegen. Sie hatte vierundzwanzig verpasste Anrufe, einundzwanzig davon waren von mir. Zwei von Antonia, Ksens bester Freundin, einer von einem David. WhatsApp zeigte vierundachtzig ungelesene Nachrichten. Diverse Arbeitsgruppen, Professoren, Antonia. Ein paar Namen, die mir nichts sagten. Ksen würde einen Wutanfall kriegen, wenn sie sähe, dass ich in ihrem Handy rumschnüffelte. Aber ich hatte das sichere Gefühl, dass etwas Schlimmes passiert war.
Ich lud ihre E-Mails und scrollte nach unten. Dreiundsechzig ungelesene Mails. Die letzte Nachricht, die Ksen geöffnet hatte, war Freitagmorgen um 10:28 Uhr eingegangen. Normalerweise checkte sie ihre Mails im Minutentakt.
Das letzte Bild im Fotoarchiv war ein Schnappschuss von Antonia. Das Foto hatte sie Donnerstagabend um 22:47 Uhr im Prenzlauer Berg aufgenommen. Antonia balancierte auf currygelben Plateausohlen über ein umgeknicktes Stoppschild in einer schlecht beleuchteten Straße. Ich scrollte weiter und sah das Bild der jungen Frau, das an Ksens Wand klebte. Danach das Foto eines halbhohen Tisches, auf dem sich Gläser und Flaschen stapelten. Im Hintergrund ein paar unscharfe Gestalten, die sich lachend in den Armen lagen. Danach wieder das alte Porträtfoto. Wieso hatte sie das Bild gleich zweimal in ihrem Handy gespeichert und dreimal an ihre Wand geklebt?
Vor vier Tagen war Ksen mit ein paar Freundinnen am Müggelsee gewesen. Antonia trug einen knappen roten Bikini. Ich vergrößerte das Bild. Sie machte einen Kussmund in Richtung der Kamera, ihre langen braunen Haare klebten nass auf ihrem Gesicht.
Ich scrollte weiter. Wieder das alte Foto. Das Telefon in meiner Hand vibrierte. Vor Schreck ließ ich es fallen, es landete unsanft auf den Holzdielen. Antonia stand auf dem Display, mich überkam eine plötzliche Hoffnung. Vielleicht hatte Ksen ihr Handy einfach nur vergessen. Sie war bei Antonia und jetzt rief sie sich selbst an, weil sie es nicht finden konnte.
Ich hob das Galaxy mit rasendem Puls hoch und sagte: »Hallo.«
»Guten Morgen! Ist Ksen in Reichweite?« Antonia klang wie immer fröhlich.
»Nein, ist sie nicht«, war alles, was ich herausbrachte.
»Sala? Alles okay? Hat sie ihr Handy bei dir liegen lassen?«
»Ksen ist weg.«
»Weg? Ich habe sie Freitag noch in der Mensa gesprochen. Wieso meinst du, dass sie weg ist?«
Antonia schwieg und wartete auf meine Antwort, aber wie sollte ich ihr erklären, dass Ksen verschwunden sein musste, da früher oder später alle und alles aus meinem Leben verschwand?
»Wo bist du, Sala?«, fragte sie mit energischer Stimme.
»In der Oderberger Straße, bei Ksen.«
»Bleib da. Ich komme hin.«
Ich legte das Handy auf den Boden unter die Steckdose, dann sah ich zu den Fotos an der Wand. Die Frau erwiderte meinen Blick mit ausdruckslosen Augen.