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Am nächsten Morgen rief ich als Erstes Ksens Handy an. Als die Mailbox ansprang, fühlte ich kurz das absurde Bedürfnis, meinen Vater zu treffen, aber ich kannte weder seine Telefonnummer noch seinen Aufenthaltsort. Ich wusste nicht einmal, ob er überhaupt noch lebte. Stattdessen wählte ich die Nummer, die der Polizist mir vor zwei Tagen gegeben hatte, und erklärte der Stimme am anderen Ende, dass Ksen noch immer nicht aufgetaucht war. Ich hörte das Klicken der Tastatur. Dann wurde ich mit einer Frau Bering verbunden, die mich bat, noch heute zum Polizeirevier in der Sonnenallee zu kommen und ein aktuelles Foto von Ksen mitzubringen.

Als ich die Polizeiwache wieder verließ, galt Ksen offiziell als vermisst. Ich schickte Antonia eine WhatsApp-Nachricht, aber sie reagierte nicht, wahrscheinlich saß sie gerade in einer Vorlesung. Laut Ksen hatte sie eine anormale Arbeitsmoral geerbt. Ksen war von Anfang an von Antonias Umfeld fasziniert gewesen. Ihre Eltern rauchten noch heute gelegentlich einen Joint am Küchentisch, was, so hatte Ksen lachend erzählt, nicht wirklich zu den Chanel-Kostümen passte, die Antonias Mutter am liebsten trug. In Antonias Küche hing über der Spüle ein altes Foto ihrer Eltern, über das Ksen öfter geredet hatte. Gestern Nacht in Antonias Küche hatte ich das Bild zum ersten Mal selbst gesehen. Als es aufgenommen wurde, waren Antonias Eltern ungefähr in unserem Alter gewesen, beide mit Haaren, die bis zum Bauchnabel reichten. Sie lachten eindeutig stoned in die Kamera, aber das hatte ihren späteren Karrieren offensichtlich nicht geschadet. Antonias Vater war Professor für Psychologie und ihre Mutter besaß eine erfolgreiche Werbeagentur in Schöneberg. An dem großen Esstisch im Wintergarten ihres Zehlendorfer Hauses trafen sich regelmäßig die wichtigsten und kreativsten Köpfe Berlins. Ksen hatte dort mit Senatoren und berühmten Malern gegessen und getrunken. Der Esstisch sei wie ein Spinnennetz, hatte Ksen erzählt. Überall Verknüpfungen, genau das, was wir als Immigranten nicht hätten. Da hatte sie recht. Uns hielt kein Netz fest oder zog uns wieder hoch, wenn es nötig war.

»Ihr seid wie freie Radikale und das macht Leute wie euch manchmal so gefährlich«, hatte Antonia einmal lachend gerufen, als sie durchgeschwitzt von der Tanzfläche im Berghain stolperte.

Damals hatte ich Antonia für eine versnobte, weltfremde Göre gehalten. Und eigentlich tat ich das noch immer. Aber sie war mir nicht mehr so suspekt und vielleicht hatte sie sogar recht. Ihr Leben hatte andere Voraussetzungen; wer in einem Spinnennetz klebte, würde niemals fallen. Und das wusste sie.

Ich fuhr zur Uni und setzte mich in die hinterste Reihe eines kleinen Hörsaals, in dem der Professor etwas über Materiallehre und Bauphysik erzählte. Der Inhalt drang nicht bis in mein Gehirn. Nach der Vorlesung ging ich zu Fuß bis zur S-Bahn und stieg am Alexanderplatz in die U2 Richtung Pankow um.

In der Kastanienallee kaufte ich beim Türken eine Packung Zigaretten, zündete mir eine an und gab eine andere dem rothaarigen Obdachlosen, der neben dem Prater in einer Mauernische hauste. Er griff nach der Zigarette und musterte mich nachdenklich. Als ich mich umdrehte, um weiterzugehen, rief er: »Auch eine Baustelle kennt Schönheit!«

Ich blieb stehen und musterte den Mann. Sein filziger roter Bart klebte an dem speckigen braunen T-Shirt.

»Welche Baustelle?«, fragte ich.

»Das unvollkommene Leben«, antwortete er und sah mich bedeutungsvoll an.

»Ist ein Leben nicht immer unvollkommen?«

»Es gibt Leben, die um Löcher herumwachsen, und es gibt Leben, die einfach nur wachsen. Die mit den Löchern sind unvollkommen. Wer will schon Löcher?« Er lachte.

Ich versuchte, den Sinn aus seinen Worten zu filtern. Zwar spürte ich die Bedeutung, schaffte es aber nicht bis zu einem echten Gedanken.

»Ich hatte viele Chancen«, fuhr er fort. »Warum hat er sie denn nicht genutzt, denkst du. Oder?« Er sah mich an, ich starrte zurück und wusste nicht, was ich sagen sollte. »Tja. Das kam so …« Er machte eine Pause, in der er mich ausgiebig musterte. »Ich wurde mit Verspätung geboren. Zu spät! Kannst du dir das vorstellen? Ich passe nicht in diese Zeit, darum bin ich hier.«

Die Haustür der Oderberger Straße 33 fiel hinter mir ins Schloss, mit hallenden Schritten ging ich bis zum hohen Treppenhaus. Die unzähligen Menschen, die die Holztreppe jahrzehntelang rauf und runter gelaufen waren, hatten eine tiefe Rinne in die Stufen gefräst. Auf der ersten Etage roch es nach Putzmittel mit Zitronenduft. Ich nahm mit jedem Schritt zwei Stufen gleichzeitig. Als ich zwischen der ersten und zweiten Etage um die Ecke bog, stand eine kleine Frau mit dünnen Beinen und durchsichtigem weißen Haar vor mir. Sie drehte sich erschrocken um und ließ ihre Alditüte fallen. Ich bückte mich, um ihre Einkäufe wieder einzupacken.

»Kann ich die für Sie hochtragen?« Ich hob die Tüte auf.

»Ach, junger Mann, das ist nett von Ihnen, aber ohne Herausforderungen verkalkt man, wissen Sie.« Die alte Frau griff mit ihrer knöchrigen Hand nach meinem Arm.

»Heute ist es viel zu heiß«, sagte ich und hielt die Tüte fest. Ihre Augen waren matt, ihr Gesicht schien nur noch aus Falten zu bestehen, ich konnte mir nicht vorstellen, dass diese Haut jemals glatt gewesen war. Es war unmöglich zu erraten, ob das alte Gesicht derselbe Mensch war wie die junge Frau auf Ksens Foto, aber vom Alter her passte es. Schweigend stiegen wir nebeneinander die Treppe hoch. Ich trug die Tüte.

Im zweiten Stock blieb sie vor der Wohnungstür auf der rechten Seite stehen, griff mit ihren knochigen Fingern nach meiner Hand und hörte nicht auf, sie zu schütteln.

»Darf ich Ihnen eine kalte Limonade anbieten?«, fragte sie schließlich.

»Ich muss kurz nach oben zu meiner Schwester. Haben Sie später noch Zeit?«

»Aber natürlich, ich habe immer Zeit. Mein Name ist Frau Markovic.« Sie wies auf das vergilbte Namensschild neben der Wohnungstür.

Die orange-grün karierte Decke lag unordentlich auf Ksens Bett, genauso wie gestern und vorgestern. Das Galaxy lag auf dem Schreibtisch neben der Webcam, genau da, wo ich es hingelegt hatte. Ich betrachtete die Fotodrucke an der Wand und zog den Briefumschlag aus meiner Hosentasche. Als ich das Foto neben die A4-Blätter hielt, erschien mir der Unterschied eindeutig. Die Augen auf den Drucken waren glänzender, die Lippen zeigten den Hauch eines Lächelns. Ich drehte das Original um und sah auf die schnörkelige altdeutsche Handschrift. Weshalb hatte Ksen mir nichts von diesem Foto erzählt? Früher hatten wir immer alles besprochen. Aber irgendwann, seit wir in Berlin lebten, hatte Ksen angefangen, sich abzusondern.

Ich steckte das Bild zurück in den Briefumschlag und den Briefumschlag wieder in meine Hosentasche. Dann zog ich Ksens Zimmertür hinter mir zu, ging eine Etage nach unten und klopfte an die braune Holztür. Frau Markovic öffnete sofort.

»Kommen Sie doch rein.« Sie trat ein Stück zur Seite. »Wir gehen ins Wohnzimmer. Ich kann uns einen Kaffee kochen oder möchten Sie lieber ein Glas Limonade? Ich habe auch Cognac. Setzen Sie sich.«

Sie wies auf ein hellblaues Cocktailsofa. Die gesamte Einrichtung war retro. Mir fielen auf Anhieb mindestens fünf Bars in einem Umkreis von hundert Metern ein, die diese Möbel sofort übernommen hätten.

»Wohnen Sie schon lange in dieser Wohnung?«, fragte ich.

»Weil alles so altmodisch ist? Aber nein! Ich wohne erst seit 1958 hier. Als Kind habe ich eine Etage höher gewohnt. Mit achtzehn, nach meiner Hochzeit, bin ich an die Müritz gezogen. Das war mitten im Krieg. Auf dem Land war es sicherer. Mein Mann musste dann doch noch an die Ostfront. Wir waren gerade ein paar Monate verheiratet. Er ist nicht mehr zurückgekommen. So war das damals. Ich habe zehn Jahre dort auf ihn gewartet. Sie haben ihn nicht gefunden.«

»Das tut mir leid«, sagte ich.

»Ach, es ist schon so lange her. Jetzt bin ich selbst schon fast tot. Meine Mutter ist in der Zeit krank geworden, darum bin ich zurück nach Berlin gekommen. Ich habe diese Wohnung billig mieten können. Zum Glück im selben Haus. In der Wohnung meiner Eltern war kein Platz mehr für mich. In der Zwischenzeit war eine Tante, die mit ihren Kindern aus Ostpreußen flüchten musste, eingezogen.«

»In welcher Wohnung haben Sie gewohnt, rechts oder links?«

»Links.«

Ihre matten Augen musterten mich. Ich konnte ihren Blick nicht richtig deuten. Vielleicht war ich zu neugierig gewesen. Aber die alte Frau hatte in derselben Wohnung gewohnt wie Ksen.

»Früher wohnten hier sicherlich viele Kinder?«

Ich versuchte, das Thema unauffällig in die richtige Richtung zu lenken, und fühlte mich schlecht dabei. Frau Markovic schien es nicht zu stören. Ihre Augen leuchteten auf. Vielleicht hatte ich mir ihren misstrauischen Blick nur eingebildet.

»Oh ja, viele. In meiner Kindheit gab es nur große Familien hier. Ich hatte vier Geschwister. Im Erdgeschoss, die Hausmeisterfamilie, die hatten drei Kinder. Ganz oben im fünften Stock, wie hießen die noch? Jetzt habe ich den Namen vergessen, aber die hatten bestimmt sieben oder acht. Und im vierten Stock lebte eine Familie mit zwei Kindern.«

»Da hatten Sie sicher eine schöne Kindheit, immer jemanden zum Spielen und alle kannten sich.«

»Ja, wir haben jeden Tag gespielt. Auf der Straße, es gab ja kaum Autos. Und in den Hinterhöfen. Im Winter auch in den Wohnungen. Meine Eltern waren nicht sehr streng. Ja, eine schöne Kindheit, bis der Krieg kam.«

Wenn die Frau auf dem Foto tatsächlich in diesem Haus gewohnt hatte, dann konnte es gar nicht anders sein, als dass die beiden sich gekannt hatten, wenn sie es nicht sogar selber war.

»Und jetzt wohnen Sie beinahe Ihr ganzes Leben hier. Sind noch andere Kinder so lange im Haus wohnen geblieben?«

»Nein, ich bin die Einzige. Viele werden wohl auch gar nicht mehr leben. Ich werde dieses Jahr auch schon fünfundneunzig. Nach dem Krieg sind viele neue Mieter eingezogen. Und heutzutage ist es ein Kommen und Gehen. Ich weiß ja gar nicht mehr, wer hier alles wohnt. Viele sagen noch nicht einmal guten Tag, wenn man ihnen im Treppenhaus begegnet.«

Sollte ich ihr einfach das Foto zeigen? Wie konnte ich erklären, dass ich das Foto hatte und weshalb es mich interessierte? Frau Markovic sah aus dem Fenster, sie schien in ihren Kindheitserinnerungen zu schwelgen. Ich tastete mit der rechten Hand nach dem Briefumschlag in meiner Hosentasche.

»Sehen Sie mal.« Ich zog das Foto heraus. »Auf der Rückseite steht die Adresse dieses Hauses.«

Die alte Frau drehte ihren Kopf ruckartig zu mir und ihre Augen sahen mich misstrauisch, fast erschrocken an. »Ach, Ihre Schwester ist die junge Dame mit den kurzen schwarzen Haaren? Jetzt sehe ich auch die Ähnlichkeit.«

»Sie kennen Ksen?« Natürlich kannte sie Ksen, sie wohnte im selben Haus. Sie waren Nachbarn, aber sie wusste auch, dass Ksen das Foto hatte.

»Ihre Schwester war vor einiger Zeit bei mir. Mit diesem Bild. Sie wollte wissen, ob ich das Mädchen von dem Foto kenne.«

»Und kennen Sie sie?«

»Ja, das habe ich Ihrer Schwester auch gesagt. Das ist Ella Wiese. Ella und ich waren gute Freundinnen.«

»Was hat meine Schwester gesagt?«

»Sie war sehr interessiert. Sie hat mein Fotoalbum ausgeliehen.«

Die alte Frau stand mühsam auf und holte ein dickes Fotoalbum aus einer der oberen Schubladen des Wandschrankes. Das Album war in braunes Leder gebunden. Mit vergilbten Fotos auf schwarzen Blattseiten.

Sie schlug die erste Seite auf. Ich sah ein einzelnes Foto. Ein Familienporträt, aufgenommen in einem nicht sehr großen Wohnzimmer. Die Leute in der vorderen Reihe saßen auf Stühlen. Alle sahen in die Kamera. Einige lächelten, aber nicht so, wie Menschen heute in Kameras lächeln. Es war eher ein schüchternes, fast schon ängstliches Lächeln.

»Sehen Sie, dieses Bild hier ist im Wohnzimmer meiner Eltern aufgenommen, im dritten Stock. Das bin ich.« Sie zeigte auf ein dickes Kleinkind. »Da war ich drei oder vier Jahre alt. Ich sitze auf dem Schoß meiner Mutter. Hinter meiner Mutter, der kleine Mann, das war mein Vater. Und der da, ganz links mit dem Schnurrbart, das war mein Großvater und daneben steht mein älterer Bruder Benedikt. Meine anderen Geschwister waren noch nicht geboren, ich bin die Zweitälteste.« Frau Markovic löste das Bild aus den Fotoecken und reichte es mir.

Ich erkannte nichts aus Ksens Wohnung. Auch mit den Bildern aus Karls Karton hatte das Bild keine Ähnlichkeit, dabei war dieses Foto nur eine Generation älter als Karls. Es waren die gleichen Wände, die gleichen Steine, die gleiche Zimmerdecke und doch eine komplett andere Welt. Eine Welt, die es nicht mehr gab.

Frau Markovic blätterte weiter. »Ich habe auch Fotos von Ella, die habe ich Ihrer Schwester ebenfalls gezeigt.« Sie überschlug ein paar Seiten und stoppte dann abrupt. »Ja, hier sehen Sie, dieses Bild, das habe ich gesucht. Mein Gedächtnis ist nicht mehr das beste, aber dieses Bild habe ich Ihrer Schwester ganz sicher gezeigt. Sehen Sie, Emilie in der Mitte und da, ganz links, das ist Ella. Daneben noch eine Freundin aus der Schule, wie hieß sie noch?« Frau Markovic zog ihre Augenbrauen zusammen. »Auf jeden Fall war das zu meinem Geburtstag, mein siebzehnter Geburtstag, da hatte der Krieg gerade angefangen. Das Foto habe ich mit der Kamera meines Bruders gemacht. Das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich selbst ein Foto gemacht habe. Es war wie Zauberei. Das können Sie sich ja gar nicht mehr vorstellen mit all den technischen Dingen, die es heutzutage gibt. Ellas Gesicht ist leider nicht so gut zu sehen.«

»Sie hat sich bewegt, darum ist ihr Kopf unscharf.«

Frau Markovic lächelte abwesend. »Ja, Ella war ein Zappelphilipp. Das habe ich Ihrer Schwester auch schon erzählt. Immer in Bewegung. Sie konnte nicht stillsitzen.«

Sie hielt mir das Geburtstagsfoto hin. Ich versuchte, Ellas Gesicht zu erkennen, aber durch die Bewegungsunschärfe zeichneten ihre Augen, ihre Nase und der Mund nur drei breite Striche in die Luft.

Frau Markovic schien sich noch immer nicht zu wundern, warum ich das alles wissen wollte. Vielleicht war sie auch einfach nur froh, dass sie endlich mal wieder mit jemandem reden konnte.

»Ella war ein wirklich schlaues Mädchen«, sagte sie, während sie wieder im Album blätterte. »In der Schule hatte sie nur Einsen. Sie konnte sogar Englisch sprechen und hat immer versucht, mir das beizubringen, aber ich habe kein Sprachtalent.«

»Wie hat Ella so gut Englisch gelernt?«

»Sie hatte eine Cousine in Amerika. Mit der schrieb sie sich Briefe. Auf Englisch. Sie hatte ein Wörterbuch, in dem schlug sie jedes Wort nach, das sie nicht verstand. Es dauerte nicht lange und dann stand das Wörterbuch ganz unten im Regal, so gut war ihr Englisch geworden.«

Die alte Frau sah kurz zum Fenster, atmete tief ein und wieder aus, dann sah sie auf das Foto im Album. »Hier, der Schuh ganz rechts, dort, sehen Sie, das ist der Schuh meines Bruders Benedikt. Der wollte nicht mit auf das Foto und hat sich nach hinten gelehnt.« Sie hielt kurz inne und lächelte. »Benedikt war ganz verliebt in Ella, das kann ich Ihnen heute ja erzählen.«

»Und haben Ella und Benedikt später geheiratet?«, fragte ich.

Frau Markovic lachte laut. »Oh nein, so ging das damals nicht! Ella schwärmte für einen anderen Jungen. Für Götz. Seine Eltern hatten eine Bäckerei an der Schönhauser Allee. Ella war sehr verliebt in Götz. Sie trafen sich, so oft es ging. Heimlich natürlich.«

»Was ist mit Götz passiert?«

»Ach, das ist keine schöne Geschichte. Er ist gestorben. In Russland, ein Granatsplitter hat seine Lunge durchbohrt. Ella hat sehr getrauert, aber wenigstens hat seine Familie ihn beerdigen können.«

Sie blätterte weiter durch die Seiten, ein Bild fiel heraus und segelte langsam unter das hellblaue Sofa. Ich bückte mich und hob es auf. Auf dem Foto war eine junge dunkelhaarige Frau zu sehen, ich reichte Frau Markovic das Bild.

»Sehen Sie«, sie tippte auf das Foto, »das bin ich kurz vor meiner Hochzeit. Sehen Sie, was für ein kräftiges Mädchen ich war? Ich konnte alles tragen, Kohle, Kartoffeln. Säckeweise. Ich war so stark wie ein Junge. Und heute schaffe ich noch nicht einmal mehr die Einkäufe.« Sie schwieg einen Moment, dann legte sie das alte Porträtfoto auf den Tisch und griff nach Ellas Bild. Vorsichtig berührte sie den geriffelten Rand, ihre Finger zitterten. »Ella war wirklich ein ganz hübsches Mädchen. Finden Sie nicht auch? Und so einzigartig.«

Ihre Stimme hatte auf einmal ein seltsames Vibrieren.

»Haben Sie noch Kontakt zu ihr?«

»Nein, ich habe sie schon so viele Jahre nicht mehr gesehen. Als ich zurückkam, nach dem Krieg, da war Ella weg.«

»Was ist mit ihr passiert?«

Frau Markovic sah mich unschlüssig an. »Das habe ich nie erfahren. Aber wie ich schon sagte, so war das damals. Es war eine kalte Zeit. Möchten Sie nicht doch einen Kaffee?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ella kam also nie zurück in dieses Haus?«

»Nein, nie. Ich habe Ellas Eltern oft im Treppenhaus gesehen. Sie wohnten ja im vierten Stock, in der Wohnung, in der jetzt Herr Schmidt mit seinem Dackel lebt. Aber sie haben sich nicht gerne mit mir unterhalten. Das habe ich gespürt. Wahrscheinlich habe ich sie zu sehr an Ella erinnert. Gibt es einen Grund, dass Sie mit Ellas Foto zu mir kommen?«

»Es ist …« Nachdem ich in so kurzer Zeit von so vielen verstorbenen und verschollenen Menschen gehört hatte, fiel es mir schwer, Ksens Namen auszusprechen.

»Was?« Frau Markovic saß jetzt kerzengerade auf ihrem Stuhl. Blaue Adern drückten sich durch die dünne Haut an ihrem Hals. An den Schläfen sah ich das Pochen ihres Herzschlages.

»Meine Schwester ist seit ein paar Tagen verschwunden.«

Die alte Frau sah aus, als ob sie vor meinen Augen versteinerte. Dann faltete sie die Hände in ihrem Schoß wie zu einem Gebet.

»Verschwunden?« Ihre Stimme war tonlos.

»Seit drei oder vier Tagen«, sagte ich so ruhig wie möglich. Ich hatte Angst, dass sie einen Herzinfarkt bekam.

Frau Markovic nickte. »Wissen Sie, junger Mann, wenn man so alt geworden ist wie ich, dann glaubt man nicht mehr an Zufälle. Früher oder später schließen sich die Kreise des Lebens. Ich bin nicht gläubig, noch nicht einmal abergläubisch, aber wir werden gelenkt. Fragen Sie mich nicht, von wem.«

Ihre Hände zitterten jetzt so stark, dass ihr das Fotoalbum langsam vom Schoß rutschte. Ich nahm es ihr ab und legte es auf den kleinen Nierentisch neben dem Sofa. Frau Markovic schob ihre Hände unter die Oberschenkel.

»Sie meinen, es gibt einen Zusammenhang?«

»Ich habe geahnt, dass Ellas Schicksal noch einmal in mein Leben zurückkehren würde, bevor auch ich diese Welt für immer verlassen muss.«

»Was für ein Schicksal?«

Frau Markovic sah mich schweigend an.

»Woher hat meine Schwester das Foto?«, fragte ich.

»Es tut mir wirklich leid, ich kann Ihnen nicht helfen. Ich habe schon zu viele Worte verloren.« Sie zog sich an der Sofalehne hoch.

»Sie meinen, Ksens Verschwinden hat mit Ella zu tun? Mit Ellas Verschwinden?« Meine Stimme klang heiser. Ich fühlte Panik in mir aufsteigen.

»Nein, nein. Oh nein, ich meine gar nichts. Ich rede dummes Zeug. Ihre Schwester kommt ganz sicher bald zurück. Ella ist schon so lange weg. Vergessen Sie, was ich gesagt habe.«

Cybionic – Der unabwendbare Anfang 

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