Читать книгу Cybionic – Der unabwendbare Anfang  - Meike Eggers - Страница 17

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Antonia tippte mit beiden Daumen auf dem Display ihres iPhones herum und lachte leise. Am anderen Ende des U-Bahn-Abteils saß ein Mann in einem grauen Anzug und studierte mit zusammengekniffenen Augen die Berliner Morgenpost. Außer uns dreien befand sich an diesem frühen Morgen niemand anderes in der U8.

Über mir hing ein kleiner, schwarzer Ball. Ein gläsernes Fliegenauge, in dem sich das Abteil als verzerrte Miniatur-Version spiegelte. Der schwarze Ball war nicht alleine, in jeder Waggonhälfte hingen drei davon. Bei einer Waggonlänge von höchstens zwanzig Metern hieß das, dass es alle 6,66 Meter eine Kamera gab. Jeder Winkel hier wurde gefilmt, alle Waggons komplett überwacht. Normalerweise betrat ich die U-Bahn zu Zeiten, in denen sie so voll war, dass man sich mit etwas Glück gerade noch in eine Ecke neben der Tür quetschen konnte. Wahrscheinlich waren mir die Fliegenaugen deshalb noch nie aufgefallen.

Ich drehte meinen Kopf zum Fenster und sah durch mein eigenes Spiegelbild hindurch in den dunklen Tunnelschacht. Kabel und Graffiti rauschten vorbei. In regelmäßigen Abständen tauchten halbhohe Leitern auf, die zu sinnlos aussehenden Türen führten. An jeder Tür stand eine vierstellige Nummer. Gerade passierten wir 4598.

Ein anderer Zug raste in entgegengesetzter Richtung an uns vorbei. Der Waggon wackelte, kurz blendete mich das grelle Licht der Scheinwerfer und ein lautes Rattern erklang. Dann wurde die Geräuschkulisse leiser und einschläfernd regelmäßig. Ich konzentrierte mich aufs Wachbleiben, aber meine Augen fielen immer wieder zu.

Ein lautes Quietschen schreckte mich auf. Die U-Bahn verlangsamte ihre Fahrt, die Dunkelheit des Tunnelschachts verschwand, auf dem grauen Beton der Wände klebten hellblaue Kacheln. Weinmeisterstraße. Die U-Bahn kam mit einem Ruck zum Stehen. Ein Ehi-ehi erklang. Die Türen öffneten sich, ein paar Leute stiegen ein und verteilten sich in gleichmäßigen Abständen über die freien Sitzplätze.

Ich drehte meinen Kopf zur Seite, Antonia beobachtete mich.

»Man sieht noch, dass das hier mal Geisterbahnhöfe waren, oder?«, sagte sie. Ich sah durch die Scheibe. Der Bahnsteig war inzwischen leer, die Türen klappten zu. Die U-Bahn ruckelte, fuhr an und tauchte wieder in die dunkle Röhre.

»Ich muss immer an meine Oma denken, wenn ich in der U-Bahn sitze«, fuhr sie fort. »Meine Oma hat die besten Mauergeschichten erzählt, die man sich vorstellen kann. Sie hatte einen Freund, der einen Tunnel unter der Bernauer Straße gegraben hat. Der wollte seine Flamme aus dem Osten holen. Das Mädel und ein paar ihrer Freundinnen haben es in den Westen geschafft. Aber dann haben die Grenzwächter etwas mitbekommen und Handgranaten in den Einstieg geworfen. Der Ostteil des Tunnels ist eingestürzt und hat die anderen Leute verschüttet. Totally crazy, die Menschen damals!« Sie sah auf ihr iPhone und berührte den Bildschirm leicht mit dem Zeigefinger, das Telefon leuchtete auf. »Meine Oma kannte auch einen Mann, der Leute im Kofferraum seines Käfers über die Grenze geschmuggelt hat. Die mussten sich so klein machen wie ein Ersatzreifen. Ich wäre umgekommen vor Platzangst! Wie seid ihr eigentlich nach Deutschland gekommen?«

»Auf einem LKW«, sagte ich und sah wieder durch mein eigenes Spiegelbild hindurch in den Tunnelschacht. »Und das letzte Stück zu Fuß.«

»Wie lange hat das gedauert?«

»Drei oder vier Tage, glaube ich. Vielleicht eine Woche. Höchstens. Ich kann mich nicht genau erinnern.«

»Wie kann man so etwas vergessen?«

»Keine Ahnung. Ich war ein Kind. Es war ein anderes Leben.«

»Aha.« Sie sah wieder auf ihr iPhone, das leise in ihrer Hand vibrierte. Die U-Bahn verlangsamte ihre Fahrt, gelbe Kacheln tauchten auf. Jannowitzbrücke. Wir hielten.

In der Mitte des Bahnsteiges stand ein ungefähr drei mal drei Meter großer Klotz aus Spanplatten. Er reichte vom Boden bis zur Decke. An der oberen linken Ecke war eine kleine schwarze Kamera montiert, die auf den Bahnsteig hinunterblickte. Bunte Graffiti hatten den Klotz in ein deplatziertes Kunstwerk verwandelt. Der Klotz hatte keine Fenster, nur eine grifflose halbhohe Tür. Vielleicht ein provisorischer Serverraum.

Auf dem gegenüberliegenden Gleis hielt eine andere U-Bahn. Eine Obdachlose mit blauer Regenjacke torkelte heraus, ihre Lippen bewegten sich ununterbrochen. Sie ging zur Tür hinter uns und betrat das Abteil. Die U-Bahn setzte sich wieder in Bewegung. Ich hörte, wie die Frau sich auf einen Stuhl fallen ließ. Ein ranziger Geruch breitete sich aus.

»Wenn die West-Bahn unter dem Ostteil der Stadt durchfuhr, verminderte sie an jeder U-Bahn-Station ihr Tempo, aber gestoppt hat sie natürlich nie.« Antonia flüsterte. »Das Licht war ganz schwach und gelbgrün. Limonenfarben, aber nicht frisch wie Zitrusfrüchte, sondern so ungesund grüngelb wie Eiter! Die Bahnsteige waren menschenleer bis auf die Wachmänner mit schwarzen Uniformen und Maschinengewehren in ihren Händen. Die sahen aus wie glotzende Halbtote. Ihre Gewehre auf die Passagiere gerichtet, als ob der Zug voller durchgedrehter Massenmörder wäre.« Antonia lehnte sich zurück und sprach in normaler Lautstärke weiter: »Auf jeden Fall war das am Anfang so. Irgendwann haben sie die Wachen dann selbst eingemauert, weil so viele von denen über die Schienen abgehauen sind. Von da an mussten die in so einer Art Betonbunker sitzen, mit länglichen Sehschlitzen. Meine Oma sagte, es sah aus wie kurz nach einem Atomkrieg. Als ob sie zu den letzten Überlebenden gehörten, die auf der Suche nach einem nicht verseuchten Landeplatz waren. Aber natürlich hatte niemand Platz, und darum flogen sie immer weiter!« Sie kicherte.

Vor meinem inneren Auge sah ich die U-Bahn unter dem Eisernen Vorhang hindurchkriechen. Ich war selbst im Kommunismus geboren worden. Weit weg von Berlin. Am südlichen Rande der Sowjetunion, da, wo das politische Chaos nach den neunziger Jahren noch lange nicht vorbei gewesen war. Ich dachte an das wochenlange Umherirren vor unserer eigentlichen Flucht.

Nachdem Tschetschenien seine Unabhängigkeit von der Sowjetunion erklärt hatte, war der achtstöckige Plattenbau, in dem wir wohnten, langsam geschrumpft. In der ersten Woche wurde er um zwei Stockwerke gekürzt. In der zweiten Woche mussten auch die sechste, fünfte und vierte Etage dran glauben. Wir wohnten in der zweiten und hatten das letzte Bombardement nur mit Glück überlebt. Die Trümmerteile lagen überall im Treppenhaus, sodass man kaum noch nach draußen kam. An einem Morgen bepackten meine Eltern unseren alten Lada mit allem, was noch halbwegs brauchbar war. Wochenlang irrten wir durch unsere eigene Stadt, die sich langsam in eine fremdartige Wüste verwandelte.

Zunächst konnten wir noch relativ lange in provisorischen Unterschlupfen bleiben, meistens ein paar Wochen. Aber der Rhythmus des Packens und Weitersuchens wurde schneller. Schließlich verbrachten wir fast jede Nacht woanders. Erst bei Familie, bei Freunden, dann bei Fremden.

In einer besonders kalten Nacht gaben meine Eltern auf. So war es mir damals auf jeden Fall vorgekommen. Der Akt des Aufgebens setzte wieder Energie frei. Ksen und ich wurden auf die Ladefläche eines LKWs gehoben. Eingebaut zwischen Kartons sowie hin und her rutschenden Holzkisten fuhren wir über holprige Landstraßen Richtung Westen. Auf einem schmalen Feldweg stoppte der LKW, dann ging es zu Fuß weiter. Nachdem wir tagelang durch Matsch und Schneeregen gelaufen waren, erreichten wir schließlich die ungarisch-österreichische Grenze.

Ein paar Wochen später durften wir uns in einen ICE nach Bonn setzen. Der Moment, als wir den Zug betraten, war der surrealste Augenblick meines Lebens gewesen. Weiche Polster, Menschen mit Laptops und Getränken in Pappbechern. Es roch nach Aftershave und Parfum. Der ICE war geräuschlos durch die Landschaft geschwebt, als ob es keine Erdanziehungskraft mehr gäbe.

Ich sah wieder in den Tunnelschacht. Die U-Bahn wackelte unregelmäßig von rechts nach links. Moritzplatz. Weiße Buchstaben auf schwarzem Untergrund.

Der Bahnsteig stand voll mit Menschen, die vor sich hin starrend auf ihre U-Bahn warteten. Berlin erwachte, es war kurz nach sieben.

»Zurückbleiben, bitte!«, sagte eine Männerstimme. Ehi-ehi-ehi, die Türen knallten zu. Ich konnte meine Augen kaum noch offen halten.

»So, wir sind im Westen.« Antonia klang erleichtert, als ob über uns noch immer ein Todesstreifen mit Selbstschussanlage läge.

»Meine Oma sagte immer, der Osten roch ganz anders. Vor allem die Geisterbahnhöfe, die hatten einen ganz seltsamen Geruch. Morastig und nach Schweiß. Angstschweiß. Ein Geruch, so penetrant wie Katerpisse. Sobald die U-Bahn langsamer fuhr, kam der durch die Türschlitze gekrochen. Man konnte den auch Jahre nach dem Mauerfall noch riechen. Jetzt ist er weg. Ich weiß noch, wie ich als Kind einmal mit meiner Oma durch Mitte ging und wir über so einen U-Bahn-Schacht liefen. Durch die Lüftungsschlitze hörten wir die vorbeirauschenden Züge unter uns, und dann wurde ein warmer Luftstoß aus dem U-Bahn-Schacht nach oben gedrückt. Der hatte noch ein ganz klein wenig von diesem alten Angstschweiß-Geruch, meinte meine Oma. So als ob wir auf einmal Ossis gewesen wären und die Mauer wieder gestanden hätte. Und unter uns die West-Berliner in ihren quietschenden Zügen. Echt spooky. Wie Viren, von denen man weiß, dass sie da sind, obwohl man sie niemals sieht. Total verdreht, sag ich dir. So war meine Oma!«

Ein Rütteln an meiner Schulter weckte mich. Antonia stand vor mir im Gang und winkte hektisch mit ihrer rechten Hand. Sie hangelte sich an den Handgriffen entlang Richtung Tür. Ich sprang auf und folgte ihr.

Auf dem Bahnsteig kauften wir zwei Brezeln und stiegen in die U1 um. Wir ließen uns nebeneinander auf die grünen Kunstlederpolster fallen. In der unteren Ecke des gegenüberliegenden Fensters klebte ein schwarzes Strichauge. Unter dem Auge stand Video. Antonia biss in ihre Brezel. Ich konnte meinen Blick nicht von dem Klebebild lösen. Das Auge guckte gelangweilt in die Ferne. Antonia zog ihr Handy aus der Handtasche. Ich betrachtete die dicken Salzklumpen auf der Brezel und hatte keinen Appetit mehr. Da war dieses Gefühl wieder, dass ich beobachtet wurde.

Mein Blick wanderte über die anderen Passagiere, niemand sah zu mir. Niemand beachtete die Fliegenaugen über uns. Ich drehte meinen Kopf zum Strichauge und zuckte zusammen, es starrte zu mir herüber. Ich blinzelte kurz. Nur eine Grafik. Aber das Videoauge fixierte mich jetzt eindeutig mit seinem bohrenden zweidimensionalen Blick. Langsam richtete ich mich auf und sah zu Antonia, die noch immer auf ihrem iPhone tippte.

»Schlecht geträumt?«, fragte sie, ohne ihr Tippen zu unterbrechen.

Ich schloss die Augen. Die U-Bahn ruckelte und wurde langsamer. Wir hielten, ich hörte die Türen aufschlagen und öffnete meine Lider einen Spalt. Ein Mann mit einem grünen T-Shirt stieg ein und setzte sich vor die Augengrafik. Das Letzte, was ich von dem Klebebild wahrnahm, war ein starrer, feindseliger Blick.

Cybionic – Der unabwendbare Anfang 

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