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Pendlerrennen

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Etwa 300.000 Menschen arbeiten in der Londoner City, aber nur ungefähr 8.000 leben dort. Wir anderen 292.000 pendeln, da unser Gehalt es uns leider nicht erlaubt, näher an unserem Arbeitsplatz zu wohnen. Im Schnitt verbringen wir zwei Stunden am Tag im öffentlichen Nahverkehr in London.

In der City herrscht eine relativ strenge Kleiderordnung: Anzug, Hosenanzug oder Kostüm in schwarz, dunkelblau, anthrazit oder grau – mit oder ohne Nadelstreifen – mit wechselndem Hemd oder Bluse. Jeden Morgen werfen wir uns in unsere Bürokluft … und schnüren uns dann Turnschuhe an die Füße. Die Stöckelschuhe wohnen im Büro und werden erst dort angelegt. Schließlich wollen wir uns erstens nicht die Absätze ruinieren und haben zweitens ein Rennen vor uns. Uns doch egal, wie das aussieht, es kennt uns ja sowieso keiner und außerdem ist diese Praxis über die Jahre zum City Chic avanciert. Nur ganz vereinzelt ist mal jemand in Stöckelschuhen unterwegs. Die haben es wahrscheinlich nicht weit.

Am Bahnhof warten wir dann an der Bahnsteigkante auf unseren Zug. Es stehen immer kleine Gruppen von drei oder vier Leuten zusammen. Nicht weil sie Freunde sind, sondern weil genau da die Tür sein wird, wenn der Zug zum stehen kommt.

Dann steigen wir ein und steuern auf unseren Stammplatz zu. Und wehe da sitzt schon einer oder, noch schlimmer, die Person vor uns setzt sich da hin. Da bedarf es aller Selbstbeherrschung, die man aufbringen kann, um nicht zu rufen: „Äj, da sitz’ ich!!!“

Die nächste Stunde verbringen wir dann lesend oder dösend. Kaum nähert sich der Zug der Endstation, stehen alle schon mal auf und bewegen sich in Richtung Tür, denn sobald die sich öffnet, beginnt das Rennen. Wir können es kaum erwarten, zur Arbeit zu kommen. Die beiden einzigen Rolltreppen an meinem Bahnhof fahren während der Morgenstoßzeit beide nach unten, abends beide nach oben. Neben den Rolltreppen ist auch noch eine gewöhnliche Treppe, aber wehe dem, der während der morgendlichen „Rush Hour” in den Bahnhof hinein will! Da wälzt sich auch hier eine Menschenmenge nach unten. Hinauf gelangen nur die, die die geheime Treppe bei den Toiletten kennen.

Wer jeden Morgen mit demselben Zug fährt, dem begegnen auch jeden Morgen dieselben Leute, wie am Murmeltiertag. Zum Beispiel der Mann, der immer so das Gesicht verzieht, als ob er Schmerzen hat (aber so ist sein Gesicht), oder das alternde Pärchen, das immer Hand in Hand zur Arbeit geht, oder die Frau, die immer Kaugummi kaut, oder die, die unten herum aussieht wie 30 (Minirock, Super High Heels und lange, gebräunte, nackte Beine), aber im Gesicht wie 50, oder der große Dicke mit dem roten Kopf, der morgens schon schwitzt und auf dem Weg ins Büro eine raucht. Der sieht immer aus, als ob er jeden Moment einen Herzinfarkt erleiden müsste – und möglicherweise hat er das bereits, denn ich habe ihn schon ewig nicht gesehen, wenn ich so darüber nachdenke. Verpasst man einmal seinen Zug und muss den nächsten nehmen, trifft man dieselben Leute, nur an etwas anderer Stelle und vom Pärchen dann nur noch sie. Er muss irgendwo abbiegen – immer mit Abschiedsküsschen.

Mein Weg vom Bahnhof ins Büro ist laut „walkit.com“ 1,2 km lang. Diese 1,2 km müssen so schnell wie möglich zurückgelegt werden. Bürohosen haben die richtige Länge für hohe Absätze, schleifen also mit Turnschuhen auf dem Boden und saugen die Pfützen auf. Bleistiftröcke erlauben nur eingeschränktes Ausschreiten und damit reduzierte Geschwindigkeit. Um ausreichend Fahrt aufnehmen zu können, tragen wir mitunter solche Kleidungsstücke in Tasche oder Rucksack bei uns und bewältigen die Strecke in Jeans.

Auf dem Bürgersteig rennt man dann auf einer Seite in eine Richtung und auf der anderen Seite in die andere. Ich kann nicht sagen, rechts so und links so, denn die Verteilung ist willkürlich. Die Mehrheit bestimmt die Richtung. Wenn’s regnet und wir Schirme tragen, ist es besonders spannend. Lahme, Alte, Dicke und Touristen werden unterwegs gnadenlos aus dem Weg geschubst, so dass die Straßen und Bürgersteige der City von hunderten gestrandeter Mitglieder dieser Minderheiten gesäumt sind. Morgens sind es hauptsächlich Lahme und Dicke. Alte und Touristen wagen sich erst später auf die Straße, werden aber dann meistens doch noch von der abendlichen Rush Hour erwischt.

Touristen schaffen wir oft auf besonders geschickte Art und Weise aus dem Weg: Sie sind leicht zu identifizieren, denn sie treten meist paarweise auf und blockieren den Bürgersteig auf der ganzen Breite (zwei Personen plus mindestens zwei Trolleykoffer), einer guckt auf den Stadtplan, der andere hat den Kopf im Nacken und sucht ein Straßenschild. Ein Londoner Arbeitnehmer opfert sich, bleibt stehen und fragt:

„Haben Sie sich verlaufen?“

„Ja, also, wir wollen zu unserem Hotel. Das ist beim Tower.“

„Das liegt auf meinem Heimweg. Folgen Sie mir.“

Und – wusch! – schon ist die Bürgersteigblockade aufgehoben, denn die Touristen flitzen mit flatternden Hemdsärmeln den Gehweg entlang, die Trolleykoffer heben ab und hopsen hinterdrein. Die übrigen Londoner können jetzt ungestört ihrem Ziel entgegen eilen. Wenn die Touristen nach Hause kommen, berichten sie, wie freundlich die Londoner sind. Die zeigen einem sogar persönlich den Weg.

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