Читать книгу Unter Briten - Melanie Ryan - Страница 6
Bloß keine Miene verziehen!
ОглавлениеIn einer Stadt, die so groß ist wie London, gibt es schon mal Dinge – oder Leute – zu sehen, über die man sich wundern möchte.
Leute in Plateauschuhen mit 20 cm dicken Sohlen;
Leute mit kniehohen Stiefeln, die rundherum mit Stacheln bestückt sind;
Damen angetan in echten 40er-Jahre-Kleidern, Haar und Make-up so perfekt wie Dita von Teese;
Herren, deren vordere Kopfhälfte rasiert ist, während die Haare der hinteren Hemisphäre in einen dicken schwarzen Zopf geflochten sind;
Leute, mit so vielen Piercings, dass man das Originalgesicht nur noch erahnen kann;
fette Mädchen in Miniröcken und bauchfreien Oberteilen;
Filmaufnahmen;
ein Mann in der U-Bahn, der laut knurrt wie ein wütender Hund;
eine 1,85 m große Mulattin um die 50, in farbenfroher Tunika und Schlabberhose, die Haare zu zwei Bäumchen gebunden, die wie Mickey-Mouse-Ohren vom Kopf abstehen, die Bäumchen pink gefärbt – aber nur die Bäumchen, nicht der ganze Kopf – die in Pantoffeln in der Postamtschlange steht;
ein dicker Elvis, im weißen Anzug mit Schlaghose und Riesensonnenbrille in der U-Bahn;
Seifenopernstars an der Supermarktkasse;
Kate Winslet
...
Aber, egal was passiert und wen und was es zu sehen gibt: Londoner glotzen nicht und Londoner wundern sich nicht. Das hat manchmal damit zu tun, dass man sich keinen Ärger einhandeln will („Was glotzt du so? Willst du eine rein haben?“). Aber der Hauptgrund ist ein anderer: Londoner müssen vorgeben, dass sie nichts mehr überrascht, es nichts gibt, was sie nicht schon mal gesehen haben. Ein Mann mit zwei Köpfen? Gähn … Wer starrt, kichert, am Ende noch seine Begleiter anstupst oder gar mit dem Finger auf jemanden zeigt ist ganz klar Tourist oder Provinzler oder beides. Londoner bleiben cool und desinteressiert. Wenn mein Gegenüber meint, mit siebzig noch im metallic-glänzenden Gymnastikanzug im ÖPNV unterwegs sein zu wollen, dann steht ihr das frei.
Falls diese Leute in auffälligem Aufzug („auffällig“ nur anderswo, versteht sich!) beabsichtigen, Aufmerksamkeit zu erregen und Blicke auf sich zu ziehen: Tough! Dann müssen sie sich woanders zeigen. Slough oder so. Londoner würden keine Miene verziehen, wenn ein paar kleine, grüne Männchen in die U-Bahn stiegen.
Und doch … eigentlich platzen sie vor Neugierde. Wie gern würden sie sich den Hals verrenken oder die Augen aus dem Kopf fallen lassen, wenn es nicht der Contenance des Londoners entgegenstünde. So sitzt man halt mit unbewegtem Gesicht in der U-Bahn und versucht, durch den langen Pony oder über den Rand der Zeitung hinweg einen Blick auf den Sonderbaren zu werfen. Kommt einem jemand Sehenswertes entgegen oder spielt sich etwas Begaffenswürdiges auf dem Bürgersteig ab, geht man langsamer, denn Stehenbleiben oder Umdrehen ist ja nicht drin. Man kann nur so lange gucken, wie man dies als normales Verhalten tarnen kann.
Dass Londoner trotzdem glotzen und das Gesehene registrieren, merkt man dann im Büro oder im Pub, wenn sie davon erzählen: „Du glaubst nicht, was heute für ein Typ in der U-Bahn saß …“ Das ist absolut legitim. Nur in der Öffentlichkeit, gegenüber Fremden muss man so tun, als könne einen nichts Erschüttern. Nur so geht man als abgebrühter Londoner durch. Cool!