Читать книгу Unter Briten - Melanie Ryan - Страница 15
Der lange Weg zur Arbeit
ОглавлениеHin und wieder erleben Londoner wieder einen dieser Alpträume (von denen, das muss man ja sagen, es in den letzten Jahren nicht mehr so viele gibt wie früher einmal): U-Bahn-Streik!
Noch vor neun, zehn Jahren gab es ständig Streiks. Londoner beschweren sich gern und viel über ihre „Tube”: unzuverlässig, zu heiß, zu voll, zu teuer, zu langsam, zu schmutzig. Aber wenn sie einmal nicht fährt, vermisst man sie ja dann doch ein bisschen.
Früher streikte die RMT (Rail, Maritime and Transport Union) meist 24 Stunden, von Mitternacht bis Mitternacht. Seit ein paar Jahren sind die Streiks 48 Stunden lang und beginnen und enden um 19:00 Uhr, so dass man nicht nur zwei, sondern gleich drei Tage lang etwas davon hat. Nach Streikende dauert es noch ewig, bis sich die Lage normalisiert, und beginnt ein Streik am Dienstag, kann man erst am Freitagmorgen wieder mit dem ganz normalen Chaos rechnen.
Manchmal – wenn auch selten – streikt nur eine einzige Linie. Vor einigen Jahren wurde die Victoria Line bestreikt, weil ein Fahrer entlassen worden war. Er hatte langzeitkrankgefeiert und die freie Zeit genutzt, seinen Körper im Fitness-Studio zu stählen. Der Arbeitgeber fand, dass er so krank dann ja nicht sein kann und hatte ihn gefeuert. Das fanden die Kollegen wieder blöd und riefen zum Streik auf.
Was macht also der Londoner ohne U-Bahn?
Autofahren? Wohl kaum. Londoner Straßen sind voll genug, auch ohne die zusätzlichen Autos verhinderter U-Bahn-Pendler. Selbst wenn man trotz Schritttempo endlich bei der Arbeit ankommt: Wo soll man das Auto lassen? Parkplätze sind knapp und teuer.
Bus- und Zugfahren? Auf jeden Fall! Natürlich sind Busse und Züge auch sonst jeden Morgen rappelvoll, aber am Streiktag sind sie noch voller. Eng aneinander geschmiegt wurden die Pendler durch die Stadt geschüttelt. Genau das richtige für einen warmen Frühsommermorgen. Noch muckeliger wird es nach Feierabend.
Radfahren? Oh ja. Mir fielen im Zug mehr Fahrräder auf als sonst, und der Bürgermeister organisierte „geführte Fahrradtouren“. Das klingt wie Sightseeing-Touren, bedeutet aber, dass Pendler zur Arbeit eskortiert werden. Wieso müssen die eskortiert werden? Weil sie sonst unter Umständen den Weg nicht finden. Wer immer nur U-Bahn fährt, weiß überirdisch nicht unbedingt wo es langgeht. Aber wie muss man sich so eine Fahrradgemeinschaft vorstellen? Sammeln sich da jeweils 20, 30 Radfahrer vor dem Bahnhof Euston und nehmen Aufstellung, hinter dem Typen mit dem neongelben Fahrradhelm, auf dem ein Fähnchen mit der Aufschrift „Liverpool Street“ steckt? Fahren sie im Pulk oder im Konvoi, einer schön hinter dem anderen? Wahrscheinlich Konvoi, denn ein Pulk steckt ja sicher genauso im Stau fest wie ein Auto oder Bus. Ich weiß es nicht, denn ich war nicht dabei.
Taxi? Normalerweise ziemlich teuer, aber an Streiktagen gibt es Sonderpreise und Sammeltaxis zwischen den großen Bahnhöfen.
Boote? Ein Themseboot ist für viele Pendler Teil der täglichen Reise zur Arbeit. Kein Scherz: Man kann in London per Schiff zur Arbeit fahren. An normalen Tagen betragen die Kapazitäten 1.500 Personen pro Stunde. Während U-Bahn-Streiks werden diese auf 8.000 erhöht. Da wird man fast ein bisschen neidisch. Ich hätte nichts dagegen, morgens dem Büro entgegen zu plätschern.
Zu Fuß gehen? Wie beim Radfahren geht es denen, die noch nicht lange hier sind so, dass sie gar nicht wissen, wo es langgeht. Aber selbst wenn: Da London einen Durchmesser von circa 40 km hat, kann sich der Weg zur Arbeit ganz schön hinziehen. Dennoch: Streikt die U-Bahn sind noch mehr Leute in bequemen Schuhen unterwegs als sonst. Auf den eigentlich immer gut gefüllten Bürgersteigen wälzen sich Menschenmassen, die sich irgendwie in zwei Spuren arrangieren. Man muss sich in der richtigen Richtung einreihen und wird dann von der Menschenmenge mitgerissen. Beim letzten Streik stieg ein Mann aus meinem Zug, der seinen Tretroller mitgebracht hatte. Das ist zwar praktisch, aber fahren musste er sicher auf der Straße, denn auf dem Bürgersteig ist kein Platz.
Zu Hause bleiben? Wer kann, der tut das. U-Bahn-Streiks sind kein Vergnügen und man altert in 48 Stunden um circa 48 Jahre. Viele können sich ja schließlich über Internet im Büro einloggen und fast genauso arbeiten, als wären sie da. Wer das nicht kann, mag eventuell Urlaub nehmen. Es ist furchtbar ärgerlich, wertvollen Urlaub verschwenden zu müssen, aber zu Hause die Füße hochlegen ist um Längen besser als sich in den verbleibenden Verkehrsmitteln die Frisur ruinieren zu lassen.
Es sind Tage wie dieser an dem wir die Tube wieder schätzen und lieben lernen, mit all ihren Unzulänglichkeiten.