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Typisch Britisch? - Klischees und Realität Toleranz: Jeder wie er meint
ОглавлениеAls ich noch in Deutschland lebte, habe ich mich oft über die selbsternannten Wächter geärgert, die aufpassen, dass alles seine Ordnung hat, wie zum Beispiel der ältere Herr, der mich einmal in einem Zug aufklärte: „Das is hier aber erste Klasse“ oder der Mopedfahrer auf dem Supermarktplatz, der sich meine Autonummer aufschrieb, weil ich beim Einbiegen in eine freie Parkbucht den Blinker nicht gesetzt hatte.
Hier in England kann einem so etwas nicht passieren. „Each to their own“ – jeder wie er meint – ist hier das Motto. Auch wenn Leute im Zug ihre leeren Chipstüten und Schokoriegelverpackungen einfach auf den Boden fallen lassen, halbvolle Cola- und Bierdosen oder Kaffeebecher unter ihren Sitz stellen, wo sie beim nächsten Bremsen umfallen und eine klebrige Pfütze hinterlassen, ihre Füße in schmutzigen Schuhen oder stinkenden Socken auf den gegenüberliegenden Sitz legen, ihren iPod so laut aufdrehen, dass man das blecherne Geschepper noch am anderen Ende des Wagens hören kann oder lauthals über Handy mit ihrem Freund Schluss machen.
Seit ich jeden Tag mit dem Zug zur Arbeit fahre wünsche ich mir manchmal die deutschen Einmischer zurück. Wahrscheinlich ist mit meinem kürzlich erfolgten Eintritt ins Erwachsenenalter meine Toleranzschwelle noch weiter gesunken, aber solche Beispiele von schlechtem Benehmen und Rücksichtslosigkeit gehen mir zunehmend auf den Wecker. In Deutschland ist das seltener so, weil über kurz oder lang jemand daherkommen und die Verursacher auffordern würde, gefälligst ihren Müll einzusammeln oder die Quadratlatschen vom Sitz zu nehmen. Es ist peinlich, zurechtgewiesen zu werden, und weil man weiß, dass man unweigerlich zurechtgewiesen wird, macht man es erst gar nicht. Das Ergebnis sind sauberere Züge und angenehmere Fahrten.
Engländern ist es auch peinlich, öffentlich zurechtgewiesen zu werden, aber es ist beinahe noch peinlicher, der Zurechtweiser zu sein. „Eine Szene zu machen“ gehört noch weniger zum guten Ton als einen halbgegessenen Burger unter dem Sitz zu deponieren. Nur meine deutsche Freundin stört das gar nicht. Sitzt neben ihr, in einem Zug, in dem der individuelle Sitzraum ohnehin sparsam bemessen ist, ein Mann der breitbeinig und -armig eine Zeitung liest, so dass sie gezwungen ist, sich – je nachdem, wo sie sitzt – mit Wange und Schulter ans Fenster zu schmiegen oder mit einer Pobacke über dem Mittelgang zu balancieren, scheut sie sich nicht, für alle gut hörbar zu sagen: „Sie wissen schon, dass der Luftraum vor jedem Sitz für die Nutzung durch den vorgesehen ist, der gerade darauf sitzt?“. Oder: „Hallo, entschuldigen Sie bitte, aber ich glaube, sie haben ihren Müll vergessen.“ Meistens ist es dann so, dass der Angesprochene rot wird und ihrer Aufforderung stillschweigend Folge leistet. Trotz ihrer Erfolgserlebnisse habe ich mich bis jetzt noch nicht getraut, es ihr gleich zu tun.
Dass Engländer sich nicht beschweren, heißt nicht, dass schlechtes Benehmen sie nicht ärgert, aber Reaktionen beschränken sich in der Regel auf Kopfschütteln, Grunzen und vielleicht missbilligendes Zungenschnalzen. Wenn mal einer was sagt, grinsen viele schadenfroh und sagen sich innerlich: „Yessss!“ Das weiß ich, weil sie über solche Vorfälle anschließend gern berichten. Man regt sich auch hier gern und viel auf, aber nie gegenüber denen, die die Ursache des Übels sind.
Hier im Südosten kommt freilich noch hinzu, dass schon Leute verprügelt oder gar erstochen wurden, weil sie einen Mitreisenden höflich darauf hingewiesen hatten, seine leere Bierdose umweltgerecht dem Recycling zuzuführen.
Einmal wurde ich Zeugin, wie ein Mann um die fünfzig im Zug zwei Jugendliche (die größer und breiter waren als er) am Kragen packte und schüttelte, weil sie einen Joint angezündet hatten. Sie nahmen eine solche Behandlung natürlich nicht stillschweigend hin und fingen an herumzupöbeln und den Mann zu bedrohen: „Ich hau’ dir gleich einen in die Fresse!“ An der Stelle fing ich an, in meiner Handtasche nach meinem Handy zu graben, aber der Mann antwortete: „Mach doch! Das will ich sehen.“ Die beiden sahen dann doch lieber von ihrem Vorhaben ab. Wahrscheinlich waren sie zu demselben Schluss gekommen wie ich: Der muss eine Nahkampfausbildung haben, sonst hätte er sich wie alle anderen schweigend über den Rauch geärgert, wie sich das gehört.
Also, wenn Sie sich von den die Einmischern zu Hause auch genervt fühlen mögen: Es hat auch sein Gutes. Ich dagegen mache gerade eine Nahkampfausbildung.
PS: Eine todsichere Methode, den Sitz neben sich selbst in einem vollgepackten Zug oder einer U-Bahn freizuhalten, ist offenbar, den Sitzsuchenden mit einem strahlenden Lächeln ins Gesicht zu sehen und mit der flachen Hand auf den freien Sitz neben sich zu klopfen, vielleicht begleitet von einem ermunternden Kopfnicken, wie es ein Londoner Comedian einmal vorschlug.