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VIII.Geschichtsphilosophie nach Hegel
ОглавлениеNun sind derlei Meinungen, als politische und religiöse Äußerungen aufs Ganze des deutschen Judentums des neunzehnten Jahrhunderts bezogen, alles andere als ungewöhnlich.
Systematisch stellt sich freilich bei dem methodologisch und wissenschaftstheoretisch versierten Autor des Prinzips der Infinitesimalmethode und seiner Geschichte aus dem Jahre 1883 die Frage nach der Legitimität der Neuformulierung einer Geschichtsphilosophie. Insofern sich nun die jüdische wie auch jede andere Religion in der Geschichte entfaltet hat, „Religion“ aber wie „Geschichte“ ein Begriff ist und alle Begriffe in der Vernunft ihren systematischen Ursprung haben, kann die Aufgabe einer zeitgemäßen Religionsphilosophie in nichts anderem bestehen, als den „Begriff der Religion durch die Religion der Vernunft zur Deckung“ zu bringen.25 Kaum anders als Hegel in seiner Philosophie der Geschichte beharrt auch Cohen auf dem Verfahren einer vernunftgeleiteten Konstruktion der Geschichte, und zwar so, daß ein vernünftiger Begriff von Religion im Reich der geschichtlichen Entwicklung genau die Elemente auffindet, die er ohnehin systematisch zu konstruieren hätte. Gerät damit das geschichtliche, kulturelle, religiöse Material zur blanken Illustration einer auch unabhängig von ihm zu konstruierenden sittlichen Wahrheit? Das ist für den späten Cohen deshalb nicht der Fall, weil auf der Basis seiner Voraussetzung in der Geschichte die menschliche Vernunft immer schon am Werke ist und somit nichts anderes als deren Wirken zutage bringt. Alleine aus diesem Grund hält es Cohen für legitim, die Religion der Vernunft ausgerechnet aus den Quellen des Judentums zu konstruieren:
„Dieser Allgemeinheit, welche zur Grundbedingung sonach für die Religion der Vernunft wird, scheint es nun aber zu widersprechen, daß wir aus den Quellen des Judentums die herleiten wollen: die der geschichtlichen Wirklichkeit ihren einzelnen Erscheinungsformen gegenüber Notwendigkeit verleiht, das ist ja gerade die Allgemeinheit, die sich trotz allen sozialen Hemmnissen und trotz allen Unzulänglichkeiten in der Geschichte der Völker dennoch hindurchzuringen vermöge, und die in diesem Ringen und Sich-an-das-Licht-des-Tages-bringen einen Fortschritt und insbesondere eine Kontinuität vollziehe, in welcher der Sinn der Geschichte sich begründet, in welcher die Geschichte zur Geschichte der Vernunft wird.“26
Cohens stärkstes Argument für diese geschichtsphilosophische Betrachtungsweise besteht somit in seiner Annahme des psychischen und sozialen, somit realen Wirkens der auf Allgemeinheit zielenden Vernunft, des Organs der Gesetze. Das Wesen der Vernunft besteht für Cohen in dem, was er mit einer heute wenig glücklich wirkenden Beleihung eines neutestamentlichen Begriffs als „Gesetzlichkeit“ bezeichnet. Diese „Gesetzlichkeit“, das heißt die Fähigkeit der Menschen zur Bildung allgemeiner Begriffe und zur formalen Überprüfung von Unstimmigkeiten, stelle zugleich das Band zwischen der menschlichen und einer anderen Vernunft dar. Über diese Vernunft kann freilich nur eine begrifflich angeleitete Untersuchung der Religion Aufschluß geben. Dabei geht Cohen realistisch und induktiv vor, das heißt von ihrem Inhalt und ihrem Umfang aus, die Cohen mit einer folgenschweren Entscheidung beide als „Mensch“ bestimmt.27 So ist ein Weg gewiesen, den Menschen seiner – wie Cohen es ausdrückt – „empirischen Zweideutigkeit“ zu entreißen.28 Dabei ist Cohen die Differenz von „Gott“ hier und „Religion“ dort wohl bewußt, ebenso wie der Unterschied zwischen „Religion“ und „Ethik“. Beide gehen vom Menschen aus und beziehen sich auf ihn. Der Beitrag der Ethik besteht demnach darin, den Menschen seiner Individualität zu entreißen und ihn einer Selbstreflexion anheimzugeben, die im Gedanken und Bezugspunkt der „Menschheit“ gipfelt. Nach Maßgabe der Ethik erkennt sich das Individuum erst in der Menschheit und erfüllt sich die Menschheit in der Individualität. Daß die Menschheit alleine kein vollständiges Symbol der Individualität sein kann, sondern es hierzu einer vermittelnden Übergangsgröße bedarf, ist einem im immer noch von Hegel geprägten akademischen Milieu Deutschlands lehrenden jüdischen Philosophen zweifelsfrei gewiß:
„Alle methodische Gefahr ist jetzt von der Ethik entfernt. Die Individualität des Menschen, die sie in der Menschheit begründet, ist alles Scheins der Paradoxie enthoben: der Staat bildet die Vermittlung zwischen dem empirischen Individuum und der Idee der Menschheit, zu deren Träger der Mensch wird. An der Individualität des Staates, an welcher der empirische Mensch mit allen Fasern seines Herzens Anteil nimmt, deren Rhythmus sein eigener Pulsschlag gleichsam nachzittert, realisiert sich das Wunder, welches in der ethischen Lehre von der Menschheit als der Erfüllung des Menschen zu liegen scheinen könnte.“29