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V.
ОглавлениеIn seiner 1938 erschienenen Studie über Das Evangelium als Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte, der wohl ersten von profunden Kenntnissen getragenen neutestamentlichen Studie eines gläubigen Juden, sieht sich Baeck vor der Aufgabe, Überlieferungsgeschichte und Überlieferungskritik so zu betreiben, daß der jüdische Charakter des Christentums unübersehbar wird. Das scheinbar paradoxe Entstehen der romantischen Religion par excellence, des Christentums, aus der klassischen Religion par excellence, dem Judentum, erklärt sich dieser jüdische Neutestamentler hier mit einer eigentümlichen Theorie der Tradition, in der sich das geisteswissenschaftliche Programm mitsamt seiner Feier der schöpferischen Individualität vollendet:
„Alle Tradition hat ihre Schicksale, und im Judentum jener Tage sind sie an ihr ganz eigentümlich aufgezeigt. Sie ist Menschen anvertraut, und sie geht damit durch menschlichen Geist, durch menschliche Individualität, an der sie sich bricht, hindurch. Ungewollt und unbewußt gibt der Überliefernde von dem Persönlichen, Eigenen, dem Kleinen oder Großen, das in ihm ist, von seinen Hoffnungen, seiner Sehnsucht und seinem Glauben das hinein, was er als Wort oder als Erlebnis des Meisters in seiner Erinnerung trägt.“68
Die menschliche Individualität also schafft die Tradition – es sind weniger die vorgegebenen Inhalte und Themen denn die Art und Weise, wie die Individuen sie, bewußt oder eben unbewußt, verändern. Indem an dieser Stelle der Tradierungsprozeß auf unbewußte, ja, ungewollte Modifikationen seitens der Empfänger der Botschaft umgestellt wird, erhält zugleich das von Baeck gezeichnete Bild dessen, was eine Persönlichkeit ist, neue Konturen. Ganz im Einklang mit seiner lebensphilosophischen Theorie des Irrationalen werden Menschen, werden Persönlichkeiten damit zu in ihren Strebungen mindestens partiell verständlichen Autoren ihres Werks, aus dem sie letztlich ihre Bedeutung erhalten. Dabei ist die Frage nach dem eigentümlichen Spannungsverhältnis von vorgegebener Überlieferung und individueller Weiterentwicklung Baeck bewußt: dort, wo die Überlieferung nicht in einen strengen Rahmen gestellt ist, „hat nur zu leicht die Seele des Überliefernden hinzugefügt und hinweggenommen und umgeformt.“69 Über Wahrheitsansprüche der je nachdem geschlossen überlieferten oder individuell modifizierten Texte ist damit nichts gesagt – in der Logik des Programms läge es, sie in eben diesen individuellen Einschüssen zu sehen. Die Quellen werden genau dann verändert und damit neu geschrieben, wenn die jeweilige Überlieferung sich auf die „letzten und endgültigen Fragen des Lebens und damit zu dem Entscheidenden und Persönlichsten des Überlieferten hinbewegt.“70 Entscheidungszwang der Lebensführung und fromme, dichtende Phantasie schießen so zu neuen Verbindungen von Gedanken und Bildern zusammen, „wie er sich in jedem Geiste regt, und wie er dem jüdischen Denken damals besonders eigen war.“71 Die Analyse der neutestamentlichen Schriften gibt Baeck so die Gelegenheit, seine eigene Variante des von Wilhelm Dilthey methodologisch eingeführten hermeneutischen Zirkels zu entfalten. Widerstreit und Zusammenspiel von Individuum und vorgebenem Text, der seinerseits als Korpus mythischer Erzählungen Handlungsmöglichkeiten vorgab, ermöglichen es den jeweiligen Lesern und Hörern, ihr eigenes Geschick in bereits vorgegebenen Mustern zu deuten, während die vorgegebenen Texte durch die aktualisierende Interpretation neues Leben erhalten:
„Im Heute formte sich die alte Kunde, in dem Tag, durch den man schritt, gewann das, was die Bibel erzählte oder was man durch frühere Geschlechter gehört hatte, seinen Sinn und seine Zeichnung. Vergangenheit wurde zur Gegenwart, Gegenwart zur Vergangenheit, die Jahrhunderte waren überbrückt.“72
Baeck bemüht diese Theorie, um das Entstehen der neutestamentlichen Überlieferung aus dem biblischen Judentum heraus zu plausibilisieren und es wird zu überprüfen sein, ob er die gleiche Gedankenfigur auch auf den Prozeß der innerjüdischen Überlieferung anwendet, oder ob er diese auf unbewußte Aktualisierung hin angelegte Hermeneutik nur dort aufbietet, wo es darum geht, einen deutlichen, konfessionellen Bruch in der Überlieferung zu erklären. Bedingung der Möglichkeit der Entstehung dieser Schriften aber war – und das spricht dafür, diese Theorie nicht nur auf die Entstehung des Christentums anzuwenden – das jüdische Volk. In ihm habe die Bibel ihr „Gebietendes“ gehabt, sie sei der „Gerichtsstand allen Verstehens und Wissens.“ Als Wort des lebendigen Gottes in seiner Gegenwärtigkeit hatte sie gegenüber dem Alltag der Menschen „etwas Zwingendes“, ihr Wort tat dar, was wirklich und wahrhaft war. Was kann es dann aber heißen, daß das jüdische Volk das „Gebietende“ des Bibelwortes war, das seinerseits dem Leben dieses Volkes sein Maß gab? Doch nur, daß der Geist des lebendigen Gottes, wenn irgendwo, in diesem Volk seine Heimstätte hatte.