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X.Die prophetische Neuerfindung des Menschen
ОглавлениеDieser Ausbruch aus dem methodischen Solipsismus einer kantischen, prinzipienprüfenden Ethik ist Cohen aus den Quellen des Judentums, insbesondere aus der Lektüre der prophetischen Schriften erwachsen. In ihnen wird – anders als im ansonsten in Deutschland gepflogenen, an der klassischen Antike ausgerichteten Neuhumanismus – eine Haltung zur Welt deutlich, die weder tragisch noch ästhetisch, sondern mitleidig und engagiert ist. In ihrem Monotheismus ist sie zudem immer schon universalistisch orientiert. Der mitleidige Blick der Propheten drängt in Verbindung mit ihrer Einsicht, daß die Beziehung der Menschen zu Gott zuvor der Überprüfung ihrer Beziehungen untereinander bedarf, zu einer Neuerfindung des Menschen:
„Der Prophet wird zum Ethiker der Praxis, zum Politiker und Juristen, weil er durchaus dem Leiden der Armen den Garaus machen will. Und es ist ihm nicht genug, sich in die genannten mehrfachen Berufe zu verwandeln, sondern er muß auch noch zum Psychologen werden: er muß das Mitleid zum Urgefühl des Menschen machen, im Mitleid gleichsam den Menschen erfinden, den Mitmenschen und den Menschen überhaupt.“33
Die Neuerfindung des Begriffs des Menschen, ja des Menschen selbst durch die Propheten: Die Kühnheit dieses von Cohen zu Beginn des Jahrhunderts gefaßten Gedankens, der die Historizität aller Ethik ebenso eingesteht, wie er die Wahrheit ihrer regulativen Ideen beglaubigt, kann erst ermessen, wer auch jenes Denken, das in bezug auf Buber und Rosenzweig als „Hebräischer Humanismus“ bezeichnet wurde, nicht mehr naiv sieht. Der von Cohen erstmals unternommene Versuch, eine philosophische Ethik nicht nur auf der Basis des antiken Denkens oder der Idee des autonomen Selbstbewußtseins, sondern auf den Schriften der Hebräischen Bibel zu begründen, führte zu einem philosophischen Paradigmenwechsel. Auf der Basis der in der Bibel bekundeten Leidenserfahrungen, ihrer auf dem Gespräch zwischen Gott und Mensch gegründeten Ehtik und dem Ausgreifen des prophetischen Universalismus gelang es dem noch bewußtseinsphilosophisch orientierten Kantianer Hermann Cohen, das Prinzip des methodischen Solipsismus zu überwinden und eine universalistische Ethik zu konzipieren, die ihren formalen Charakter aufgegeben hat und sich konkret der ethischen Gestaltung der ganzen Staaten- und Gesellschaftswelt widmet. Diese messianischen Züge auch in der Moderne zu unterstützen sind die Juden als historisch gewordene Minderheit in besonderer Weise auch und gerade dann geeignet, wenn sie eine Staatsnation im klassischen Sinn nicht bilden:
„Für die Fortbildung des Monotheismus müssen wir eine nationale Individualität bleiben, denn der Monotheismus hat eine geschichtliche Singularität uns aufgeprägt. Und da diese Nationalität von keinem eigenen Staate gehemmt wird, so ist sie vor dem Schicksal der Materialisierung seiner nationalistischen Idee geschützt.“34
Hermann Cohen hat für die Reinhaltung der Idee des jüdisches Volkes als eines Volkes von Priestern und Gerechten vom Nationalismus einen hohen Preis gezahlt. Der Denker, der wie kein anderer in der Moderne am reinsten für den prophetischen Universalismus, für ein nicht-materialistisch begründetes Programm sozialer Gerechtigkeit sowie für eine weltweite Rechtsordnung eintrat, sah die Erfüllung dieser Ziele aus Mitleid mit den unterdrückten Juden Rußlands ausgerechnet im Kriegseintritt des wilhelminischen Reiches. So hellsichtig und vernünftig der Jude und Philosoph wirkte, so verblendet äußerte sich der deutsche Patriot Hermann Cohen in seinem systematischen Bemühen, die kreatürliche Furcht vor dem Tode durch ein Jenseits zu ersetzen, das in nichts anderem besteht als in einer selbstlosen Aufopferung der Individuen zugunsten einer messianischen Idee, die vielfältig ursurpierbar war.