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Vernunft und Offenbarung

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Vernunft und Offenbarung – das Spannungsverhältnis von autonomem menschlichem Denken und geschenktem göttlichen Wort beschäftigte die abendländische Religionsphilosophie von allem Anfang an. Ist der Mensch aus eigener Kraft in der Lage, Gottes Willen zu erkennen oder ist er – letzten Endes blind und befangen – auf ein unvordenkliches göttliches Wort verwiesen, dem er vertrauen muß und darf, auch dann, wenn er ihm nicht im letzten folgen kann?

Jüdische Religionsphilosophie seit der Aufklärung – wesentlich von Kant beeinflußt – hat sich dieser Frage immer wieder gestellt und dabei den scholastischen, katholischen Weg einer natürlichen Vernunft nur bedingt akzeptiert. Umgekehrt haben sich verschiedenste nichtjüdische Denker immer wieder mit den Grundstrukturen jüdischen Denkens und jüdischer Existenz auseinandergesetzt und den Versuch unternommen, dessen Eigentümlichkeiten positiv oder negativ zu bewerten. Darüber hinaus haben oft genug jüdische Denker, auch dann und dort, wo sie sich nicht explizit mit jüdischen Themen auseinandergesetzt haben und judaistischer Kenntnisse durchaus entbehrten, in ihren Arbeiten Motive der jüdischen Tradition entfaltet, weiterentwickelt und in einigen Fällen zur Vollendung gebracht.

Die hier versammelten Beiträge aus vierzehn Jahren gehen den Spuren jüdischen Denkens in der frühen Moderne nach und sind um den Nachweis bemüht, daß spezifisch jüdische Motive über den Begriff der Offenbarung hinaus, also etwa die „Auferstehung der Toten“, das biblische Bilderverbot, die Idee eines noch ausstehenden Messias, einer unbedingten göttlichen Weisung sowie einer Solidarität der menschlichen Generationen einen rationalen Kern enthalten, der auch jenseits konventionell gebundenen Glaubens wenn schon nicht zu überzeugen, so doch mindestens aufzurütteln vermag.

Die Prägung moderner jüdischer Religionsphilosophie durch Immanuel Kant, seine Kritik der Gottesbeweise sowie seiner kategorische Morallehre ließ bei jüdischen Denkern, gleichgültig, ob orthodox oder liberal eingestellt – eine Wahlverwandtschaft zur Offenbarung der Thora am Sinai sichtbar werden.

Für Hermann Cohen, dessen nachgelassenes Werk Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums auf der Basis Kants eine intersubjektivistische Moral mitmenschlicher Verantwortung entwarf, galt dies ebenso wie für den heute nach wie vor vergessenen Salomo Ludwig Steinheim, dessen Mitte des neunzehnten Jahrhunderts erschienenes Werk Die Offenbarung nach dem Lehrbegriffe des Synagoge von Kant her biblische Schöpfungstheologie und moralische Verantwortlichkeit miteinander zu verbinden sucht. Das hier vorgelegte Kapitel zu Cohen vollzieht nach, auf welchen Wegen und Irrwegen der bekannteste Neukantianer jüdisches Ethos, kantianische Philosophie und deutsches nationales Pathos im Rahmen einer biblisch inspirierten universalistischen Moral zu vereinigen suchte. Demgegenüber wollte Steinheim sechzig Jahre früher das Gebot menschlicher Sittlichkeit ebenso kühn wie überzeugt nicht aus der praktischen Philosophie Kants, sondern aus seinem theoretischen Hauptwerk, der Kritik der reinen Vernunft, ableiten. An Cohen und Steinheim läßt sich lernen, wie wenig auch eine aufgeklärte Moral auf das religiöse Erbe verzichten kann.

Jüdisches Denken ist gleichwohl seit den biblischen Schriften ein Denken der Geschichte – aber auch ein Denken in Geschichten, in Narrativen, ein Umstand, der in verblüffender Weise Grundüberzeugungen der aus der Romantik entstandenen verstehenden Geisteswissenschaft Wilhelm Diltheys entspricht. Leo Baeck, der letzte bedeutende Repräsentant des klassischen deutschen Judentums promovierte bei Wilhelm Dilthey. Sein Hauptwerk Das Wesen des Judentums, eine apologetische Reaktion auf die antijudaistische Abhandlung zum Wesen des Christentums des liberalen Theologen Adolf von Harnack zu Beginn des Jahrhunderts, zehrt ganz und gar von der geisteswissenschaftlichen Tradition und versucht gleichwohl, ihrem Historismus eine universalistische Moral entgegenzuhalten.

Hannah Arendt und Sigmund Freud standen beide bewußt und stolz zu ihrer jüdischen Tradition, ohne doch jüdische Denker in dem Sinne zu sein, daß sie sich in ihren Hauptwerken mit Themen der jüdischen Tradition befaßten. Als jüdisch in ihrem Denken lassen sie sich jedoch dann bezeichnen, wenn man die Auseinandersetzung mit jüdischer Existenz in der Moderne als eine ihrer zentralen Fragen betrachtet, wofür sowohl Freuds Mann Moses als auch Arendts Ursprünge und Elemente totaler Herrschaft sowie ihre Aufsätze zur Verborgenen Tradition sprechen. Daß die jüdische Frage das gar nicht so geheime Leitmotiv der Ursprünge und Elemente darstellt und Freuds Mann Moses sowie die darin enthaltene Theorie der Moral aus der existentiellen Bedrohung des europäischen Judentums in den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts heraus geschrieben wurden, belegt, in welchem Ausmaß allgemeine Zeitdiagnose zur Deutung jüdischer Existenz und diese wiederum zur Chiffre ihrer Epoche wird.

Die Abstraktheit des jüdischen Monotheismus mitsamt seinem Bilderverbot und einem gleichwohl anthropomorphen, personalen Gott hat Spuren bis in die moderne Ästhetik, aber auch bis in die Theorie der Intersubjektivität hinein hinterlassen. Die gleichermaßen in den dreißiger und vierziger Jahren entstandenen Schriften jener Autoren, die später unter dem Etikett „Frankfurter Schule“ firmieren sollten und im Anschluß an Hegel eine Theorie kritischer Negativität wider die bestehenden Verhältnisse präsentierten, zehrten stärker von anverwandelten Motiven jüdischer Theologie als das auf den ersten Blick deutlich wird. „Theologie und Messianismus im Denken Adornos“ gewinnen ihr volles Gewicht dann, wenn man sich noch einmal den „theologischen Sinn des Bilderverbots“ vergegenwärtigt und sich klar macht, in welchem Ausmaß sich bereits die biblischen Schriften als eine Theorie sinnlicher Intersubjektivität lesen lassen, die konträr zur Abstraktheit des platonischen Denkens steht, auch und gerade dort, wo sich dieses auf dialogische, zwischenmenschliche Beziehungen einzulassen versucht.

Der jüdische Universalismus war in der Moderne stets all jenen ein Dorn im Auge, die die konkreten Selbstbehauptungsinteressen partikularer Gemeinwesen zum Zentrum ihres Denkens machten. Dabei konnten sie oft genug von Traditionen antijudaistischen Denkens in christlicher Tradition zehren. Der den Nationalsozialisten schließlich hörige, auf seine Weise genialische deutsche Verfassungsrechtler Carl Schmitt hat sich dieser Argumentationsweisen ausgiebig bedient. Im Negativ seines Antijudaismus wird deutlich, wie das Judentum in der Moderne wahrgenommen werden konnte. Aber auch einem aus existentieller und politischer Verantwortung für die Juden eintretenden Autor wie Jean-Paul Sartre gelingt es nicht immer – nicht einmal dort, wo er sich mit dem Antisemitismus auseinandersetzt – jenen Klischees zu entgehen, die er doch kritisieren möchte.

Dabei war Schmitts Ahnung von einer Wesensverwandtschaft von Judentum und Moderne so abseitig nicht. Im Werk so heterogener Autoren wie Ernst Bloch, Franz Kafka, Walter Benjamin und Emmanuel Levinas werden Begriffe, die die Signatur der Moderne ausmachen – „das Neue“, „das Späte“, „zu Späte“, „das Jähe“ und „das Unmittelbare“ – ausdrücklich oder unausdrücklich an Gehalte der jüdischen Tradition rückgebunden. Wo Bloch seiner Ontologie des „Noch-Nicht“ und der Hoffnung einen nun in der Tat heterodoxen Begriff eines sich selbst forttreibenden Absoluten zumißt, bezieht sich Franz Kafka auf die biblische Idee des Messias, um sie gegen jeden Optimismus zu kehren und die Heils- und Hoffnungslosigkeit aller geschichtlichen Erfahrung zu demonstrieren. Die gleiche Idee wird bei Walter Benjamin zum Unterpfand einer plötzlichen Rettung, eines Auftrages an die je Gegenwärtigen, dem geschichtlichen Verlauf noch einen rettenden Abschluß zu verleihen.

Daß das Unterpfand der Rettung sich als eine Weisung zeigt, die als Spur Gottes in jedem menschlichen Antlitz unmittelbar sichtbar wird, ist die Überzeugung von Emmanuel Levinas, der von Bibel und Talmud her die ontologische Grundstruktur allen abendländischen Philosophierens und dessen Moralvergessenheit kritisiert.

Nach Levinas Überzeugung war es diese Moralvergessenheit, die das abendländische Denken zum Wegbereiter der Vernichtungslager werden ließ. In striktem Gegensatz zur theoretischen Einstellung der abendländischen Philosophie seit der griechischen Antike setzt Levinas daher auf eine unvordenkliche Praxis, die die Menschen je schon in wechselseitige Verantwortungs- und Verpflichtungsverhältnisse gesetzt hat, in Verhältnisse, die sie aufgrund ihrer theoretischen Einstellungen verdrängt haben. Indem Levinas jedoch unbarmherzig auf den durchaus zwanghaften Charakter dieser Verantwortungsverhältnisse hinweist, bleibt er der Moderne, die bewußt an der Moral leidet, treu. Kann die gebietende Stimme vom Sinai, die die Verhärtungen des menschlichen Herzens aufbrechen wollte, in diesem Sinne als Ursprung eines die Moderne überwindenden oder gar zur Vollendung bringenden Denkens verstanden werden?

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