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Leo Baecks Theorie des Judentums als Vollendung der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik I.
ОглавлениеIn den Arbeiten Leo Baecks über das Judentum hat die Theorie Wilhelm Diltheys, bei dem Baeck mit einer Arbeit über Spinoza promoviert hatte, ihren idealen Anwendungsfall gefunden. Dilthey hatte um die Jahrhundertwende den sich inzwischen konsolidierenden Geisteswissenschaften nicht nur ein methodologisches Gerüst, sondern damit zugleich eine Theorie ihres Selbstverständnisses geboten. Darin wollte er vermittels einer empirischen Transformation von Hegels Theorie des Geistes die Ausprägungen kultureller Gehalte in ganzen Lebensvollzügen sowohl in ihrem inneren Zusammenhang als auch insbesondere in ihren Auswirkungen auf die Individuen, die einer solchen Kultur angehörten, verdeutlichen. Wenn über Baecks Beziehung zu Dilthey gehandelt wird, wird meist Diltheys Theorie der Polaritäten, das heißt einander entgegengesetzter geistiger Strömungen, in den Mittelpunkt gestellt sowie dessen Methode eines nachvollziehenden Verstehens der Sinngehalte einer Kultur beziehungsweise der ihre Individuen motivierenden geistigen Kräfte. In Diltheys Argumentationsfigur des hermeneutischen Zirkels – gemäß dem sich Selbstverständnis und Handeln der Individuen aus dem Ganzen der Kultur, in der sie leben, erschließen lassen, während sich umgekehrt der Sinngehalt einer ganzen Kultur nur aus den Lebensvollzügen ihrer Individuen erschließen läßt – wurde Hegels spekulative Theorie der Volksgeister, das heißt übergeordneter geistiger Strukturen, in ein einzelwissenschaftlich bearbeitbares Forschungsprogramm umgewandelt.
Leo Baecks nicht nur wissenschaftliches Verständnis des, seines Judentums basiert auf diesem Programm einer romantischen, weil einfühlenden Hermeneutik auch noch dort, wo er sich selbst äußerst kritisch mit dem, was er für Romantische Religion hält, auseinandersetzt. Auch die in dieser Schrift getroffene Unterscheidung zwischen klassischer und romantischer Religion ist noch dem romantischen Programm verhaftet, wonach die gelingende Einfühlung – und was anderes ist das als ein methodisch eingesetzter Affektgebrauch? – Typen und Strukturen geistigen und das heißt wirklichen Lebens erschließt. Diesem Programm ist Leo Baeck, der seit 1894 bei Wilhelm Dilthey studiert und nur ein Jahr später bei ihm mit einer Arbeit über Spinozas erste Einwirkungen auf Deutschland 1895 promoviert wurde, Zeit seines Lebens treu geblieben. In seinen Hauptwerken – angefangen mit dem Wesen des Judentums aus dem Jahr 1905, bis zu Dieses Volk. Jüdische Existenz, das in seiner abschließenden Fassung 1957 erschien – bleibt er einer ansonsten eher impliziten methodischen Maxime treu, die er jedoch im Vorwort zur zweiten Auflage des Wesens des Judentums, erstmals erschienen 1906, dann wiederaufgelegt im Jahre 1921, folgendermaßen entfaltet hatte. Im Ausgang von der platonisch klingenden Annahme, daß, wer das Wesen erkennen wolle, etwas als das Ganze betrachten und den Blick auf die Entwicklung einer Grundkraft richten solle, die das Treibende des in den einzelnen Erscheinungen wirkenden geschichtlichen Lebens bewirke, charakterisierte Baeck das Wesen des Geschichtsforschers:
„Er will zusammenschauen, auf das Offenbarende und Bestimmende, auf das Organische den Blick richten, auf das, wovon alles Wachstum, alle Entwicklung kommt und was in allem Wachsen und aller Entwicklung sich entfaltet; er will das Treibende, die Grundkraft erfassen, die in einzelnen Erscheinungen eines großen geschichtlichen Lebens wirkt. Die Einheit und damit der Zusammenhang in einem geistigen Geschehen, sein Prinzip soll dargelegt werden. Das Historische und Systematische, das Wissen von den Tatsachen und die Erkenntnis der Ideen, verbinden sich hierzu miteinander und führen einander…“55