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2.Prüfungs- und Verwerfungskompetenz
Оглавление62Die Erkenntnis, eine nachrangige Rechtsnorm verstoße gegen eine höherrangige, erlaubt noch nicht die Schlussfolgerung, dass der rechtsanwendende Behördenbedienstete oder auch ein überprüfendes Gericht diese Norm ohne Weiteres unbeachtet lassen darf.
Unzweifelhaft ergibt sich aus der Gesetzesgebundenheit der Verwaltung, dass sich jeder Behördenbedienstete zunächst Klarheit darüber verschaffen muss, ob die im konkreten Falle anzuwendende Rechtsnorm mit höherrangigem Recht im Einklang steht. Bei formellen Gesetzen hat er dabei von einer (widerleglichen) Vermutung auszugehen, dass dies so ist. Die Widerlegung dieser Vermutung ist ausschließlich Sache des Bundes- bzw. des Landesverfassungsgerichtes, die allein dazu befugt sind, das Grundgesetz bzw. die Landesverfassung authentisch zu interpretieren. Im Falle von Zweifeln muss er sich an seine Vorgesetzten bzw. nächsthöhere Behörden wenden, um auf diese Weise schließlich eine Normenkontrolle nach Art. 93 I Nr. 2 GG durch das Bundesverfassungsgericht bzw. nach Art. 68 I S. 2 Nr. 2 Verf.BW durch den Verfassungsgerichtshof zu erreichen, da hierzu erst die Regierung antragsbefugt ist. In Fällen, in denen schnell entschieden werden muss, wird man dem einzelnen Behördenbediensteten das Recht zubilligen müssen, eine Rechtsnorm nach möglichst sorgfältiger Prüfung (d. h. nach Ausschöpfung aller zu Gebote stehenden Erkenntnismöglichkeiten) unangewendet zu lassen und entsprechend zu entscheiden.
63Bei Normen im Range unter dem formellen Landesgesetz eröffnet § 47 I S. 2 VwGO die Möglichkeit, dass Behörden diese Rechtsvorschriften im Rahmen einer sog. prinzipalen Normenkontrolle (s. Rn. 1036) durch das zuständige OVG, in Baden-Württemberg also den VGH in Mannheim, überprüfen lassen und solange das Verfahren aussetzen.
Nach der Rechtsprechung des BVerwG (BVerwGE 75, 142) sind Behörden nicht befugt, die Nichtigkeit eines rechtswidrigen Bebauungsplanes allgemein verbindlich festzustellen. Die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen eine Behörde, die einen Bebauungsplan für unwirksam hält, befugt ist, bei ihren Entscheidungen von seiner Nichtigkeit auszugehen, wurde vom BVerwG ausdrücklich nicht grundsätzlich entschieden (BVerwGE 112, 373, 380). Nach Auffassung des BGH (NVwZ 1987, 168, 169) handeln aber die Bediensteten einer Baugenehmigungsbehörde amtspflichtwidrig, wenn sie einen nichtigen Bebauungsplan anwenden. Der VGH BW hat in einem nicht veröffentlichten Beschluss (vom 28.1.1991 – 8 S 2238/90 –) festgestellt, es sei „unstreitig, dass die Baugenehmigungsbehörde ebenso wie das Verwaltungsgericht bei der Entscheidung über die Zulässigkeit eines Vorhabens überprüfen kann und muss, ob der dem Vorhaben zugrunde liegende Plan (Anm.: gemeint ist der Bebauungsplan) rechtsgültig ist oder nicht, und dass sie, wenn sie zur Annahme der Nichtigkeit gelangt, diesen bei ihrer Entscheidung unberücksichtigt zu lassen hat.“ Aus Gründen der Rechtssicherheit wird man eine solche inzidente Verwerfungskompetenz der Verwaltung jedoch (wie bei formellen Gesetzen) auf Eilfälle beschränken müssen und im Übrigen davon ausgehen müssen, dass der Normenkontrollantrag bei Aussetzung des Verfahrens die einzige Möglichkeit ist, die Feststellung der Nichtigkeit zu erreichen, soweit nicht der zuständige Normgeber (bei Bebauungsplänen die Gemeinde) die Norm selbst aufhebt.
64Einfacher stellt sich die Situation für die überprüfenden Gerichte dar. Sie haben grundsätzlich alle Rechtsnormen, die für ihre Entscheidung von Bedeutung sind, auf ihre Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht zu überprüfen. Man nennt dies inzidente Normenkontrolle. Soweit es sich um Normen im Range unter dem formellen Gesetz handelt, haben sie diese im Falle eines Verstoßes unbeachtet zu lassen; handelt es sich aber um formelle Gesetze, so kommt nach Art. 100 GG diese Verwerfungskompetenz nur dem Bundesverfassungsgericht bzw. bei Verstößen gegen Landesverfassungen dem hierfür zuständigen Gericht zu. Hierzu ist das Verfahren auszusetzen und die Entscheidung des jeweiligen Gerichtes einzuholen.
Beispiel: Wird Anfechtungsklage gegen einen Entwässerungsbeitragsbescheid erhoben, so hat das zuständige Verwaltungsgericht die Beitragssatzung auf ihre Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht, insbesondere KAG und GemO zu überprüfen und bei Verstößen den Beitragsbescheid mangels gültiger Rechtsgrundlage aufzuheben. Hat das Gericht Zweifel an der Vereinbarkeit der beiden formellen Gesetze mit dem Verfassungsrecht, so muss es die Entscheidung in diesem Rechtsstreit aussetzen und die Frage dem zuständigen Verfassungsgericht zur Entscheidung vorlegen.