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Der Alte Orient: Mesopotamien, Kleinasien und die Levante
ОглавлениеNicht sinnvoll ist die traditionelle Periodisierung deshalb, weil sie den Blick verstellt auf die vielfältigen Bezüge und Abhängigkeiten, die zwischen der antiken Mittelmeerwelt und den Zivilisationen des Alten Orients, von Mesopotamien über Ägypten bis hin zur Levante, bestanden. Max Weber hat die klassische Antike wiederholt als urbane „Küstenkultur“ definiert.1 Wesentliche organisatorische und ökonomische Voraussetzungen für ihr Entstehen sind in den „Stromuferkulturen“2 Mesopotamiens und Ägyptens geschaffen worden: zunächst durch sesshaften Ackerbau im Zuge der „Neolithisierung“ ab ca. 9000 v. Chr., dann durch das Aufkommen von Städten ab ca. 3500 v. Chr. und schließlich durch Innovationen wie Keramik, Schrift, Bronze- und Eisenmetallurgie sowie Strukturen „staatlicher“ Organisation. Unsere antike Geschichte von rund 1800 Jahren verlängert sich so nach hinten um eine Vorgeschichte von nahezu 8000 Jahren: Vor die klassische, „kurze“ Antike schiebt sich eine eurasische, „lange“ Antike.3
Mit der Neolithisierung zerschnitt der Mensch die erste der vielen Fesseln, die ihn an die Natur und das in ihr natürlich vorkommende Nahrungsangebot banden. Zuerst in Übergangszonen zwischen unterschiedlichen Naturräumen – Gebirgen, Wüsten, Steppen – gaben vereinzelte Gruppen das mobile Jagen, Sammeln und Fischen auf und begannen, sich länger an festen Lagerplätzen aufzuhalten. Dort kultivierten sie Wildpflanzen, deren Samen sie teilweise von weit entfernten Orten beschafften. Der australisch-britische Archäologe Vere Gordon Childe hat den Prozess, der aus umherstreifenden Jägern und Sammlern Ackerbauern machte, als „Neolithische Revolution“ bezeichnet.4 Doch handelte es sich um eine Revolution im Zeitlupentempo: Der Siegeszug des sesshaften Ackerbaus dauerte Jahrtausende und hat kaum Zeugnisse zurückgelassen, die Auskunft geben könnten über das Wann, Wie und Warum. Gleichwohl können Archäologen heutzutage selbst kargen Spuren – etwa Resten von Behausungen und Pflanzen – genug Informationen abringen, um den Verlauf der Neolithisierung in groben Umrissen nachzeichnen zu können.
Schon viel besser dokumentiert ist die erste Welle der Urbanisierung, die um 3500 v. Chr. über Vorderasien zu schwappen begann. Eine Schlüsselrolle spielte offensichtlich das südmesopotamische Uruk, das zum Zentrum eines das gesamte Vorderasien umspannenden hierarchischen Siedlungssystems avancierte.5 Doch auch diese „Revolution“ hatte sich lange angekündigt. Bereits im 8. Jt. v. Chr. entstanden große Siedlungen mit zum Teil über 1000 Bewohnern; die bekannteste ist die von 7400 bis 6200 bewohnte Großsiedlung auf dem Çatal Höyük in Anatolien. Parallel dazu ist ein immer engmaschiger werdendes erstes Fernhandelsnetz für Obsidian nachweisbar, das weite Teile Vorderasiens umfasste. Etwa 1000 Jahre nach der Aufgabe von Çatal Höyük setzte sich allmählich auf der Töpferscheibe gefertigte Keramik durch, es entstanden großräumige archäologische „Kulturen“, die sich durch ein gemeinsames Inventar von Töpferwaren auszeichneten. All das setzte eine zunehmende Spezialisierung der ökonomischen Akteure voraus: Nicht mehr alle lebten ausschließlich von Landwirtschaft.
Doch erst ab dem 4. Jt. v. Chr. verdichteten sich Siedlungen im südlichen Mesopotamien zu Städten, deren Hauptmerkmal nicht allein Größe, sondern vor allem die funktionale Differenzierung ihrer Bewohner war: Zum ersten Mal war die Existenzgrundlage für große Menschengruppen nicht mehr die Landwirtschaft, sondern ausschließlich die Tätigkeit als „Spezialisten“ für unterschiedliche Bereiche: Handwerk, Militär, Kult, Handel. Begünstigt wurde der Trend zur Stadt durch ein arideres Klima, das ab ca. 3500 v. Chr. in Mesopotamien Land trockenfallen ließ und so die Siedlungsfläche vergrößerte, aber auch die Bewässerung des Ackerlandes erschwerte. Sie wurde so zu einer großen Gemeinschaftsaufgabe, die der Gesellschaft ein Mehr an sozialer Organisation abverlangte, das wiederum hierarchische Stratifizierung voraussetzte.6
Die Organisation leisteten „große Institutionen“: Großhaushalte, die Scharen von Spezialisten beschäftigten und zu ihrer Versorgung Überschüsse von landwirtschaftlichen Produzenten einsammelten.7 Um solche „großen Häuser“ (E-gal), die zuerst als Eigentum von Gottheiten („Tempel“) konzipiert wurden, kristallisierten sich so Strukturen einer „redistributiven“ – d.h. auf dem Sammeln und Wiederverteilen von Gütern – fußenden Ökonomie. Vermutlich galt zumindest am Anfang alles Land als Eigentum der Gottheit, die allerdings bald mit einflussreichen Privatpersonen („großen Männern“ – Lu.Gal bzw. „Herren des Pfluglandes“ – PA.TE.SI) um ihr Monopol ringen musste. Auch um die großen Männer herum entstanden Großhaushalte („Paläste“), die ebenfalls auf redistributiver Grundlage wirtschafteten.8 Der Herrschaftsanspruch solcher zu Stadtherren sich aufschwingenden Privatleute setzte sich langfristig gegen die „Tempel“ durch.
Um funktionieren zu können, bediente sich die redistributive Ökonomie einer weiteren Innovation der Zeit um 3000 v. Chr.: der Schrift. Tempel wie Paläste im Mesopotamien bereits der Frühdynastischen Zeit (ca. 2900–2340 v. Chr.) verfügten über umfangreiche Archive, in denen Tausende von Tontafeln lagerten. Auf ihnen waren akribisch alle Ein- und Ausgänge der Magazine verzeichnet, in denen die Großhaushalte Waren jeder Art lagerten. Diese Praxis hatte in der langen Dauer Bestand (Q 3.5.1.: Palast von Ugarit). Die Wirtschaftstexte gestatten der Forschung einen tiefen Einblick in die ökonomischen Aktivitäten der großen Institutionen: ihre Rolle in der Landwirtschaft, bei der Versorgung der städtischen Spezialisten und im Fernhandel.
Wo es etwas zu verteilen gibt, gibt es unweigerlich aber auch Diskussionen über Verteilungsgerechtigkeit. Bereits vom Ende der Frühdynastischen Zeit erreichen uns erste Nachrichten über eine Gerechtigkeitsdebatte. Urukagina, seines Zeichens König von Lagaš, dekretierte seinen Untertanen um 2350 v. Chr. ein Gesetzespaket, mit dem er auf Geheiß des Gottes Ningirsu die Ohnmächtigen gegen die Mächtigen in Schutz zu nehmen trachtete (Q 3.2.1.). Initiativen wie die „Reformen“ Urukaginas zeigen, dass bereits im letzten Drittel des 3. Jt. v. Chr. die großen Institutionen kein Monopol mehr über das Wirtschaftsleben der mesopotamischen Städte besaßen. Privatpersonen waren ebenfalls ökonomische Akteure geworden.
So tauchen in den Texten des 2. Jt. v. Chr. allenthalben Privatleute auf, die als Mittelsmänner, sogenannte Entrepreneurs, der großen Institutionen, aber auf eigene Rechnung, Ländereien bewirtschaften, Betriebe führen und Fernhandel treiben. Am assyrischen Fernhandel mit kārum Kanis in Anatolien war etwa der in Kanis ansässige Enlil-bani als durchaus kaufmännisch denkender Protagonist beteiligt (Q 2.3.1.). Die Texte dokumentieren die bereits im frühen 2. Jt. rasant voranschreitende ökonomische Verflechtung zwischen verschiedenen Teilen des Vorderen Orients. Sie setzte sich fort in der Spätbronzezeit, als wenige große Imperien – das Hethiterreich in Kleinasien und im nördlichen Syrien, das ägyptische Neue Reich und das Mittelassyrische Reich in Mesopotamien – weite Teile des Nahen Ostens kontrollierten.
Die „Weltordnung“ der Spätbronzezeit schien für die Ewigkeit gemacht: Die großen Reiche waren militärisch hoch gerüstet, durch rege diplomatische Kontakte miteinander verbunden und wirtschaftlich weithin dominierend. Dennoch kollabierte das Mächtesystem um 1200 v. Chr. scheinbar aus heiterem Himmel: Tatsächlich hatten sich schon im Vorfeld ökonomische und soziale Disparitäten zu einem Krisenszenario hochgeschaukelt, an dem die Palastzentren schließlich auch politisch scheiterten: Von Mykene über Hattuša bis Ugarit lagen Paläste und Städte bei Anbruch der Eisenzeit in Trümmern.9
Folge des politischen Erdbebens war auch der Zusammenbruch des großräumigen Güteraustauschs; nur lokale Handelsnetze bestanden fort. Mittelmeerraum und Vorderer Orient waren im 12. Jh. v. Chr. politisch wie wirtschaftlich fragmentierte Räume, in denen es kaum zahlungskräftige Eliten und für Reisende nicht einmal ein Minimum an Rechtssicherheit gab, wie es die Imperien garantiert hatten. Dafür schuf der Kollaps der Großreiche Freiräume, die kleine, kompakte Stadtgesellschaften für sich nutzen konnten: Besonders die Städte der Levante – Byblos, Sidon und Tyros in Phönizien sowie die Philisterstädte im Süden – verstanden es, im Machtvakuum neue Gewinnchancen für ihre Bewohner zu nutzen. Durch Erschließung eigener Ressourcen, Innovationen in der gewerblichen Produktion, vor allem von Luxusartikeln, und sukzessiven Aufbau eines das gesamte Mittelmeer umspannenden Fernhandelsnetzes errangen namentlich die Phönizier bald eine beherrschende Stellung in der Wirtschaft der eisenzeitlichen Welt. Ihr Fernhandel wirkte auch als Katalysator des Technologietransfers von Ost nach West: Wichtige Neuerungen wie Fertigungstechniken für Luxuswaren gelangten so etwa nach Griechenland, wo das Geschäftsgebaren der Phönizier indes bald misstrauisch beäugt wurde (Q 2.3.2.).