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2. Antike Ökonomien im Spiegel der Forschung
ОглавлениеAm Anfang war das Widerwort. Der in Halle lehrende Althistoriker Eduard Meyer fühlte sich wie viele seiner Fachkollegen von Karl Büchers 1893 erschienener Schrift Die Entstehung der Volkswirtschaft brüskiert. Darin hatte der Leipziger Nationalökonom ein Stufenmodell postuliert, dessen krönende Spitze erst seit Merkantilismus und beginnender Industrialisierung die moderne Volkswirtschaft gewesen sei; in vormodernen Gesellschaften seien die Wirkungskreise ökonomischen Handelns beschränkter gewesen: Hier hätten, so Bücher, der Haushalt bzw. oīkos und die Stadt den Rahmen gebildet, in dem sich wirtschaftliche Aktivität primär entfaltete. Handel habe es zwar gegeben, er habe aber gewissermaßen nur an der Oberfläche gekratzt und sei nicht strukturprägend gewesen.22
Meyer wollte diese, wie er es empfand, Zurücksetzung der klassischen Antike nicht akzeptieren. Nicht kleinräumig und „primitiv“ sei die Wirtschaft der klassischen Antike gewesen, sondern ganz im Gegenteil: „modern“. Meyer schreckte nicht davor zurück, dieses kategorische Wort immer wieder zu verwenden, zudem wähnte er in Griechenland wie Rom die Prinzipien des „Kapitalismus“ am Werk, überall sieht er „Fabriken“ und gar „Industrie“. Mit einem Wort: Maßgebend seien in der Antike „dieselben Einflüsse und Gegensätze […], welche auch die moderne Entwicklung beherrschen.“23
Die Kontroverse schwelte lange und zog bald eine stattliche Reihe von Gelehrten unterschiedlicher Disziplinen in ihren Bann. In Deutschland wurde sie zusätzlich befeuert durch den schleichenden Bedeutungsverlust, den die Antike in der schulischen und universitären Bildung um 1900 erlebte. Klassische Altertumswissenschaftler wie Meyer fochten Rückzugsgefechte, indem sie die Verwandtschaft der Antike mit der (und damit ihre Relevanz für die) Moderne nachzuweisen suchten. Der Streit war aber auch ein Dissens über die Methoden: Gerade Altertumswissenschaftler, die mit intimer Materialkenntnis aufwarten konnten – wie der Papyrologe Ulrich Wilcken, der archäologisch versierte Michail Rostovtzeff und eben Meyer selbst, der ebenfalls papyrologisch interessiert war – erkannten in den Zeugnissen aus ferner Vergangenheit nur allzu bereitwillig die ihnen aus der Gegenwart vertrauten Muster wieder.
Ökonomen und Sozialwissenschaftler hielten mit Modellen dagegen, die alle auf theoretischer Anschauung fußten. Immens einflussreich war Max Webers mentalitätsgeschichtlicher Ansatz, der die „protestantische Ethik“ kurzerhand zum Katalysator für den „‚Geist‘ des Kapitalismus“ erklärte. Auf Webers Idealtypen-Hermeneutik fußten nicht zuletzt die Griechische Wirtschafts- und Gesellschaftsgeschichte des Kölner Althistorikers Johannes Hasebroek (1931) und die Arbeiten des in die USA emigrierten Wirtschaftsanthropologen Karl Polanyi.24 Polanyi unterschied zwischen einer „formalen“ und einer „substantiellen“ Bedeutung von „Wirtschaft“: Im formalen Sinn sei Wirtschaft schlicht die rationale Verwendung knapper Mittel – dies ist die Dimension von Wirtschaft, die moderne Ökonomen im Blick haben; die substantielle Bedeutung bezieht sich hingegen auf die elementare Notwendigkeit für jede Gesellschaft, für ihr materielles Überleben vorzusorgen. Der Markt und seine Rationalität sei, folgert Polanyi, lediglich eines unter mehreren „Grundmustern“, denen ökonomische Prozesse folgen können. Die anderen seien „Reziprozität“ und „Redistribution“ – und damit Mechanismen, die das „Eingebettetsein“ (embeddedness) wirtschaftlichen Handelns in die soziale Umwelt kenntlich machten.
Weber wie Polanyi inspirierten den in Cambridge lehrenden amerikanischen Althistoriker Moses I. Finley zu The ancient economy (1973). Der recht schmale Band bildete für lange Jahre den Ausgangspunkt für jede Beschäftigung mit der Wirtschaft antiker Gesellschaften. Als Generalthese durchzieht das Werk die Annahme von der fundamentalen Andersartigkeit ökonomischen Handelns bei Griechen und Römern gegenüber der von Industrialisierung und Kapitalismus geprägten Moderne. Besonders hatten es Finley die hinter den Akteuren stehenden Denkweisen und Mentalitäten angetan: Den antiken Menschen versteht Finley, darin Weber folgend, ganz wesentlich als homo politicus, keinesfalls als homo oeconomicus. Mit Aristoteles und seiner Unterscheidung von natürlicher Erwerbskunst und unnatürlichem Gewinnstreben konnte er auf einen antiken Gewährsmann verweisen (Q 1.1.).
Gegen Finley und die Vorherrschaft Weberscher Paradigmen macht seit gut zwanzig Jahren eine Phalanx vorwiegend empirisch arbeitender Althistoriker und Archäologen mobil, die sich weniger auf Theorien und antike Literatur, als vielmehr auf die vermeintlich unanfechtbaren Zeugnisse materieller Kultur – Inschriften, Papyri, archäologische Befunde – stützt. Insbesondere das Oxford Roman Economy Project um den Althistoriker Alan Bowman und den Archäologen Andrew Wilson hat sich dem Versuch verschrieben, Funktionsweise und Leistungsfähigkeit der römischen Wirtschaft mit quantifizierenden Methoden zu erfassen.25 Ähnlich versucht die Demographieforschung, belastbare Daten zur Bevölkerungsentwicklung des antiken Griechenland, Italiens und der römischen Provinzen zu gewinnen.26
Insgesamt führt der Trend aber weg von dogmatisch-ideologischer Verhärtung und Schulenstreit zwischen „Modernisten“ bzw. „Formalisten“ und „Primitivisten“ bzw. „Substantivisten“. In jüngerer Zeit etablierte sich in den modernen Wirtschafts- und Sozialwissenschaften das als Neue Institutionenökonomie (NIÖ) bezeichnete methodische Konzept des Nobelpreisträgers Douglass North.27 Die Theorie ruht auf drei Grundpfeilern: Sie geht von individuell-rationalen Akteuren aus, die Entscheidungen zu ihrem Vorteil treffen. Diese Akteure handeln gemäß Gesetzen und wählen Handlungsoptionen auf der Basis von Sitten und Gebräuchen. Solche Regelwerke, denen menschliche Interaktion unterworfen ist, werden als Institutionen bezeichnet, die im Laufe der Zeit Veränderungen unterliegen. Gleichzeitig kalkulieren die Akteure in ihre Handlungsentscheidung die anfallenden Kosten bei Transaktionen mit ein: Damit sind nicht nur die Aufwendungen für Produkte und ihre Bereitstellung gemeint, sondern auch die Informationsbeschaffung, die Durchsetzung von Rechten und geschäftlichen Verhandlungen. Die Neue Institutionenökonomie bietet daher ein Grundgerüst, um den Zusammenhang von Mentalitäten und sozioökonomischen Strukturen zu analysieren.
Gerade in den letzten Jahren hat die antike Wirtschaft wieder vermehrt ein Echo in der Forschung gefunden, und neben unzähligen Spezialuntersuchungen ist auch eine Reihe verlässlicher Synthesen, Einführungen für Einsteiger und methodisch-konzeptioneller Arbeiten entstanden. Die antike Wirtschaftsgeschichte ist ein dynamisches Forschungsfeld, das in näherer Zukunft noch reiche Erträge verspricht.28 Dazu, sich auf das ökonomische Denken und Handeln von Menschen einer fernen Vergangenheit – und mit ihren Hinterlassenschaften, unseren Quellen – einzulassen, möchte dieser Band einladen.
1 Weber 2006, 321 u. 324.
2 Ebd., 324.
3 Sommer 2013, 19–22.
4 Childe 1960, 29–35.
5 Algaze 1993.
6 Als „hydraulische Gesellschaften“ hat deshalb der deutsch-amerikanische Soziologe Karl Wittfogel die Flusstalzivilisationen im alten Mesopotamien, Ägypten, Indien und China bezeichnet (Wittfogel 1959). Wittfogels Ökodeterminismus gilt heute als überwunden, aber als Idealtypus besitzt sein Modell noch immer Erklärungskraft.
7 Liverani 1988, 107–123.
8 Zur Funktionsweise redistributiver Wirtschaften Polanyi 1979, 223f.
9 Zaccagnini 1990; Liverani 1987; Liverani 1996.
10 Hodkinson 2000; Thommen 2014; Rohde 2015.
11 Der durchaus nicht unproblematische Hellenismus-Begriff stammt von Johann Gustav Droysen (Droysen 1998, 221, 418–421); zur teleologischen Dimension des Begriffs bei Droysen jetzt Nippel 2008, 26–28. Grundlegend zur Wirtschaftsgeschichte der Epoche noch immer Rostovtzeff 1984; als übersichtliche Einführung jetzt Ruffing 2012, 75–84.
12 Ebd., 80.
13 Zentral: Briant 1978; Kreißig 1978.
14 Pro: Pasquali 1936; Cornell 1995, 208–210; Forsythe 2005, 115–124; Carandini 2006; contra: Alföldi 1977.
15 Weber 2006, 383.
16 Clemente 1984; Torelli 1990; Roselaar 2010.
17 Garnsey 1983.
18 Zum Fernhandel mit Luxusgütern aus dem Orient Young 2001.
19 Woolf 1998, 169–205.
20 Wilson 2006.
21 Allen 2009; Rathbone 2009.
22 Bücher 1917. Zur Bücher-Meyer-Kontroverse die umfassende Dokumentation bei Finley 1979 und Schneider 1990.
23 Meyer 1925, 175.
24 Hasebroek 1931; Polanyi 1979.
25 Vgl. etwa die Beiträge in Bowman/Wilson 2009.
26 Etwa: Scheidel 2006; Scheidel 2007; Scheidel 2008.
27 Zusammenfassend North 1986; North 1988; Denzau/North 1994.
28 Siehe dazu die Bibliographie zur Einführung im Schlussteil dieses Bandes.