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1.2 Zweites Grundgesetz: Wozu gab und gibt es Eigentum?

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Die Reproduktion sozialer Systeme basiert darauf, dass ihre Mitglieder (Individuen) unablässig Güter mannigfaltiger Art gebrauchen und konsumieren. Diese Güter werden bei ihrer Konsumtion in der einen oder anderen Weise verbraucht. Nahrungsmittel werden vollständig vertilgt oder verderben, Werkzeuge nutzen sich ab, Kleidung und Schuhe verschleißen materiell (Stoff und Farbe) und ästhetisch (Mode), Zeitungen und Zeitschriften sind in der Regel nur einmal informativ, Bücher und Filme für die meisten Nutzer nur einmal unterhaltsam. Die Konsumtion von Gütern generiert eine permanente Nachfrage nach neuen Gütern. Daraus erwachsen für soziale Systeme drei Herausforderungen: (1) Es müssen ständig neue Güter produziert werden, (2) diese Güter müssen zu den Konsumenten kommen, (3) es besteht ständig die Gefahr, dass es zwischen den Mitgliedern des sozialen Systems zu Rivalitäten um knappe Güter kommt, die zu Störungen, schlimmstenfalls zum Kollaps des sozialen Systems führen können. Eigentumsbeziehungen sind das Instrument, mit dem soziale Systeme diese Herausforderungen nachhaltig bewältigen, indem sie drei Funktionen erfüllen:

1 Eigentumsbeziehungen fördern die Produktion neuer Güter. Welcher Art diese Güter neu sein müssen, hängt von ihrem Gebrauchswert ab. Nahrungsmittel werden im Konsumtionsakt stofflich aufgebraucht (gegessen, getrunken). Wir brauchen jeden Tag neue stoffliche Güter gleicher Qualität. Die Milch, die wir heute trinken, und die Milch, die wir morgen trinken werden, haben die gleichen biochemischen Eigenschaften wie die Milch, die wir gestern getrunken haben. Bei der Lektüre von Büchern, Zeitungen und Zeitschriften wird deren Informations- und Erlebnispotenzial aufgebraucht. Mit Ausnahme von Gebrauchsspuren bleiben diese Produkte beim Konsumtionsakt stofflich unverändert. Neue Bücher, Zeitungen und Zeitschriften müssen also neue/andere Inhalte haben. Der stoffliche Träger kann, wie beim E-Book-Reader, der gleiche bleiben.

2 Eigentumsbeziehungen fördern die Zuführung neu produzierter Güter zu ihren Nutzern und Konsumenten. Diese Funktion wird erst in sozialen Systemen wirksam, die auf dem Austausch von Gütern basieren. Um die kontinuierliche Versorgung der Mitglieder des sozialen Systems mit Gütern zu gewährleisten, müssen neu produzierte Güter von den jeweiligen Produktionsstätten zu den Menschen gelangen, die die Güter brauchen und nutzen. Tagtäglich müssen Unmengen (Massen) verschiedenster Güter zielgenau zu Massen einzelner Menschen gelangen. Eigentumsbeziehungen sind ein zentrales Instrument, das dafür sorgt, dass soziale Systeme diese gewaltige Distributionsaufgabe bewältigen.

3 Eigentumsbeziehungen gewährleisten, dass Produktion, Nutzung, Verteilung, Austausch und Pflege knapper Güter konfliktarm erfolgen, weil Eigentumsrechte normativ regeln, wer diese Güter wie nutzen darf. Evolutionsgeschichtlich war das die erste Funktion von Eigentumsbeziehungen.

Die funktionale Begründung von Eigentumsbeziehungen findet Rückhalt in der rechtssoziologischen Prämisse, dass „das Recht“ generell funktional begründet ist. Recht ist historisch entstanden und vorhanden, weil für die Organisation von Gesellschaften Instrumente zur Prävention und Bereinigung sozialer Konflikte gebraucht werden (vgl. dazu Raiser 2009: Grundlagen der Rechtssoziologie, S. 185 ff.). Da knappe Güter ein Ur- und Dauerquell sozialer Verteilungskonflikte sind, brauchen soziale Systeme ein Instrument, um solche Konflikte zu vermeiden und ihre Beilegung zu regeln. Dieses Instrument sind Eigentumsbeziehungen.

Nachdem ich bei meiner Recherche zu der Erkenntnis gekommen war, dass Eigentumsbeziehungen ein unverzichtbares Instrument für das Management von Gütern in sozialen Systemen sind – nicht erst in sozialen Systemen von Menschen, sondern auch schon bei Tieren –, stellte sich für mich die Frage, wie sich dieses Instrument in der Organisation sozialer Systeme etabliert hat. Wer hat es „erfunden“ und wie hat es dieser Erfinder geschafft, dass Eigentumsbeziehungen von den Mitgliedern sozialer Systeme – zunächst von Tieren und später von Menschen – praktiziert werden. Schließt man höhere Schöpfersubjekte wie Gott oder „die Natur“ aus, bleibt nur eine Erklärung: Soziale Systeme selbst haben dieses Instrument in einem frühen Stadium ihrer Evolution „erfunden“ und sorgen dafür, dass dieses Instrument von ihren Mitgliedern angewandt wird. Folglich muss es so etwas wie eine „Selbstorganisation“ sozialer Systeme geben. Damit haben wir das Schlüsselkonzept für die Erklärung von Eigentumsbeziehungen gefunden: die Selbstorganisation sozialer Systeme.

Aus meinen viele Jahre zurückliegenden Rundgängen in den Sozialwissenschaften sind mir verschiedene Theorien bekannt, die die Organisation von Gesellschaften mittels systemischer Modelle beschreiben und erklären. Bekannteste Vertreter solcher Systemmodelle sind Talcott Parsons und Niklas Luhmann. Auch von Theorien der Selbstorganisation hatte ich schon gehört. Deshalb war ich zuversichtlich, dass ich im üppigen Fundus der Wissenschaften ein passendes Theoriemodell finden würde. Diese Erwartung wurde jedoch enttäuscht. Weder im Arsenal soziologischer Systemtheorien noch bei den Selbstorganisationstheorien fand ich ein Konzept der Selbstorganisation sozialer Systeme, das für die Erklärung von Eigentumsbeziehungen brauchbar wäre. So also musste ich dieses Konzept selbst ersinnen und formulieren. Zum Glück ist für den Zweck der vorliegenden Untersuchung kein komplexes Theoriegebäude erforderlich. Es reicht aus, klar darzustellen, was hier mit „Selbstorganisation sozialer Systeme“ gemeint ist und warum die Existenz einer solchen Selbstorganisation eine sehr plausible Annahme für das Management von Gütern in sozialen Systemen ist.

Wenn ich von sozialen Systemen spreche, meine ich biosoziale Systeme, deren Mitglieder Güter nutzen und verbrauchen. Im Unterschied dazu gibt es biotische Systeme, die keine soziale Organisation haben (z. B. pflanzliche Ökosysteme oder der menschliche Körper), und es gibt soziale Systeme, in denen der biotische Faktor keine Rolle spielt, z. B. ökonomische Systeme und Verkehrssysteme. Eine allgemeine Definition biosozialer Systeme muss Merkmale benennen, die deren Besonderheit ausmachen und sie trennscharf von anderen Systemarten unterscheiden. Diese Definition muss für alle Entwicklungsstadien biosozialer Systeme zutreffen – für Sozialsysteme von Insekten ebenso wie für alle Gesellschaftssysteme des Menschen. Um einem anthropomorphen Fehlschluss zu entgehen, dürfen in dieser Definition keine Merkmale vorkommen, die nur menschlichen Sozialsystemen eigen sind. Ausgehend von diesen Prämissen lassen sich biosoziale Systeme wie folgt definieren:

 – Biosoziale Systeme existieren als raumzeitliche Gebilde in einer natürlichen Umwelt. Stoffliche Austauschprozesse mit dieser natürlichen Umwelt sind eine elementare Existenzbasis sozialer Systeme.

 – Mitglieder des Systems sind biosoziale Wesen (= Lebewesen), die unablässig Güter nutzen und verbrauchen.

 – Aufgrund ihrer biotischen Konstitution haben diese Lebewesen eine zeitlich befristete Existenz (= Lebensdauer).

 – Die Systeme werden durch das Interagieren ihrer Mitglieder konstituiert, sind demnach ein Interaktionsgefüge.

 – Biosoziale Systeme existieren, indem sie sich fortlaufend reproduzieren.

 – Existenz und Reproduktion des sozialen Systems und seiner Mitglieder sind interdependent.

Damit sich biosoziale Systeme reproduzieren können, müssen folgende Minimalbedingungen gegeben sein:

 – Die Mitglieder des Systems können sich als biotische Organismen reproduzieren (Stoffwechselprozesse).

 – Die Mitglieder pflanzen sich biotisch fort.

 – Die Mitglieder sind in der Lage zu interagieren.

 – Die Mitglieder müssen fortlaufend Zugang zu neuen Gütern haben.

 – Die Interaktionen zwischen den Mitgliedern befördern die Erhaltung des Systems. Eine Voraussetzung dafür ist, dass die Mitglieder so miteinander umgehen, dass Konflikte vermieden werden, die das soziale System zerstören.

Um diese Minimalbedingungen ihrer Reproduktion und damit ihre Existenz nachhaltig zu gewährleisten, entwickelten biosoziale Systeme schon in der Frühphase ihrer Evolution Instrumente, die in die Basisausstattung der Selbstorganisation biosozialer Systeme aufgenommen wurden. Zu diesen Instrumenten gehören

 – Kommunikation und Zeichen,

 – zweigeschlechtliche Sexualität – biotische Fortpflanzung durch zweigeschlechtliche Paarung ist aufgrund der Kombination der Erbinformationen gegen Schäden des Erbguts weitaus resistenter als eingeschlechtliche Fortpflanzung durch Jungfernzeugung (Parthenogenese),

 – räumliche Mobilität,

 – Eigentumsbeziehungen.

Indem die Mitglieder biosozialer Systeme diese Instrumente in ihrem Verhalten/Handeln umsetzen, ermöglichen sie die erfolgreiche Reproduktion sozialer Systeme. Die genannten Instrumente sind also gleichermaßen Ergebnisse und Voraussetzungen der Reproduktion sozialer Systeme. Eigentumsbeziehungen sind evolutionsgeschichtlich das späteste (jüngste) dieser Instrumente.

Dass Eigentumsbeziehungen die Produktion und Distribution von Gütern befördern, wird sicher einleuchten. Diese Funktionen werden in vielen Eigentumstheorien, insbesondere in Begründungen geistiger Eigentumsrechte hervorgehoben. Dass auch die Konfliktvermeidung eine universelle Funktion von Eigentumsbeziehungen ist, mag auf den ersten Blick weniger evident und konsensfähig sein. Doch wer Zweifel an dieser Annahme hat, sollte einmal versuchen, sich eine Gesellschaft vorzustellen, in der der Umgang mit Gütern nicht durch Eigentumsbeziehungen reglementiert ist. Ohne Rücksicht auf andere könnte und würde dann jeder hemmungslos mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln versuchen, der Güter habhaft zu werden, nach denen ihm gerade gelüstet. Eine solche Gesellschaft befände sich in einem Zustand, für den Emile Durkheim den Begriff ‚Anomie‘ prägte:

„Er bezeichnet eine Gesellschaft, in der die Solidarität verloren gegangen ist, die deshalb auseinanderfällt und in Unordnung versinkt. […] Als Ursache nennt er den Egoismus der einzelnen, welche die anderen und das Ganze aus dem Auge verlieren und nur noch den eigenen Nutzen verfolgen“ ( Raiser 2009: Grundlagen der Rechtssoziologie, S. 63).

Alle konkreten Funktionen, die Eigentumsbeziehungen im Organisationsgefüge von Gesellschaften und für die Lebensgestaltung menschlicher Individuen hatten und haben, lassen sich auf die o. g. drei Funktionen zurückführen bzw. aus ihnen ableiten. Die Antwort auf die Frage „Wozu gab und gibt es Eigentum?“ lautet demnach: Eigentumsbeziehungen gab und gibt es, weil sie die o. g. drei Funktionen in der Reproduktion sozialer Systeme erfüllen. Das kodifizierte Eigentumsrecht zur normativen Regelung von Eigentumsbeziehungen (Rechtswissenschaftler nennen das das „positive Recht“) ist der sozialen Funktion von Eigentumsbeziehungen historisch und begründungslogisch nachgeordnet. Hier gibt es keine Henne-Ei-Unklarheit: Soziale Eigentumsbeziehungen waren zuerst da. Eigentumsbeziehungen gab es, lange bevor Menschen den Umgang mit Gütern in Gesetzen regelten.

Auch wenn sich das in der Binnenperspektive von Eigentümern anders darstellt: Eigentumsbeziehungen sollen nicht primär den Eigentümern, sondern dem Funktionieren des sozialen Systems dienen. Ihre ursprüngliche und eigentliche Funktion ist es, die Produktion, Distribution und Nutzung von Gütern in sozialen Systemen zu fördern und konfliktfrei zu organisieren. Diese Systemfunktion kommt übrigens in der deutschen Verfassung klar zum Ausdruck: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ ( Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland)

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