Читать книгу Ein ganz böser Fehler? - Mike Scholz - Страница 8

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Das Jahr 1990 ist angesagt, 3. August. Ein Jahr des totalen Umbruchs in Deutschland. Das sozialistische System der DDR musste sich geschlagen geben, zeig­te, dass es der Marktwirtschaft unterlegen ist. Den Menschen hatten sich plötzlich die Grenzen geöffnet, jetzt konnten sie Leute wiedersehen, von denen sie geglaubt hatten, vor Jahrzehnten wäre es das letzte Mal gewesen. Auch die Währungsreform war vollzo­gen, die Ostdeutschen nannten seit einem Monat Geld ihr Eigen, welches Wert in der ganzen Welt besaß. Nur die politische Einheit fehlte noch, doch die war auch schon in Sicht, sollte noch im gleichen Jahr über die Bühne laufen. Alles schwelgte in Verzückung, freute sich über die neue Freiheit, die es auszukosten galt.

Auch die Insassen eines Trabants, welcher gerade auf die Autobahn Löbau–Dresden am Burkauer Berg auffährt. Auch sie wollen die Möglichkeiten der neu­en Freiheit genießen, wollen nach Augsburg fahren, um Karten für ein Thrash-Metal-Konzert zu holen.

"Gib Stoff!", fordert Mike, der Beifahrer, den am Lenkrad sitzenden Frank auf.

"Hier wird gebaut. Deswegen nur sechzig erlaubt."

"Scheiße!", knurrt Mike. Und legt die Füße auf das Handschuhfach, greift nach einer Zigarette, zuckt je­doch im gleichen Augenblick davor zurück, da er mit Rauchen aufhören will; wirft dafür einen Blick nach hinten auf den Rücksitz, wo Pia, seine Freundin, halb sitzt, halb liegt. Und er betrachtet sie genüsslich, kann sich sehr gut an den Freudentaumel der letzten Nacht erinnern, als er mit ihr das erste Mal schlief. Denn ob­wohl sie erst sechzehn ist, kann sie doch schon jedem Mann den Kopf verdrehen – mit ihren üppigen prallen Rundungen, an denen er sich laben konnte. Aber trotzdem! Mike – der gerade bei der Armee ist und kurz vor seiner Entlassung steht, welche am 24. Au­gust stattfinden soll (endlich, wie er findet) – wird da­nach für ein Jahr als Betreuer in die USA gehen und hat nicht die Absicht, sie dorthin mitzunehmen. Und er weiß auch, warum er Pia nichts davon erzählt, sie hier zurücklassen will: Er ist nicht in sie verliebt! Op­tisch sieht sie in seinen Augen zwar unheimlich gut aus, doch was sie außen mehr hat, fehlt ihr dafür im Kopf – findet nicht nur er. Und deswegen ist für ihn eine Bindung an sie auf ewig unmöglich.

"Ab Dresden wird die Autobahn besser", lässt sich Frank wieder vernehmen. "Ab da können wir dann schneller fahren."

"Ich werde jetzt schlafen", meldet sich Pia. Und auch Mike schließt die Augen, will ein Nickerchen machen. Denn der Sensenmann erhebt sich bereits mühsam ächzend, um die Toten für ihrem all–mitter­nächtlichen Rundgang aufzuwecken.

Plötzlich fängt Frank an, unflätig zu fluchen. Wor­auf Mike wieder die Augen öffnet, denn das ist nicht Franks Art.

"Was ist los?", fragt er verwundert.

"Na gucke mal durch die Scheibe!", kräht Frank wütend dagegen.

Mike setzt sich dazu auf. Wünscht sich jedoch im gleichen Augenblick, lieber unten geblieben zu sein. Denn draußen versucht sich ein Polski Fiat als Lü­ckenspringer, überholt einen anderen Trabant, der sich mit ihrem Wagen auf gleicher Höhe befindet.

Frank flieht vor der drohenden Kollision auf die Parkspur. Verliert aber nicht die Kontrolle über sei­nen Wagen und schickt sich nach weiteren Flüchen an, seine Fahrt fortzusetzen.

Es rumst kurz. Glas klirrt. Dann ein aufbrüllender Motor, der plötzlich abstirbt. Und ein anderer, der ei­ligst verschwindet. Pia schreit auf: "Haltet an! Haltet an! Da ist was passiert!"

Frank stoppt den Wagen ab. Mike lugt durch die Heckscheibe, sieht jedoch nur rote Augen, die sich langsam schließen. Und ein paar helle Blitze, die ein Laser über den Horizont jagt. Doch sonst alles dun­kel, wie in einer tiefen Grube auf einem verlassenen Fabrikgelände.

*

Mike ist ausgestiegen und läuft zurück, um sehen zu können, was da passiert ist.

Frank, der seinen Motor abgestellt hat, folgt ihm.

Wie von Geisterhand geschaffen tritt unvermutet ein Anblick aus der Dunkelheit hervor, der ihren Drang weiterzulaufen, stoppt, sie aber auch nicht zu­rückgehen lässt, an Ort und Stelle in Erstarrung treibt: Der andere Trabant steht quer zur Fahrbahn, belebt ihre Vorstellungen eines Trümmerhaufens: Scherben liegen weit verstreut auf der Straße, aus dem Nichts kommendes Licht spiegelt sich in den Zacken der Au­toscheiben, die Heckklappe hat sich halb abgeschert und gewährt Einblick in die gähnende Dunkelheit des Kofferraums, Eingeweide des Wagens lugen um die Ecke; niemand bewegt sich darin, obwohl deutlich zu sehen ist, dass es zwei Insassen gibt.

Mike erwacht zuerst aus seiner Erstarrung. "Renn schnell zurück und hole Verbandszeug", weist er Frank an. "Und sage Pia, dass sie drin sitzen bleiben soll", fügt er noch hinzu. "Habe keine Lust, dass sie mir den Buckel voll kotzt."

Frank rennt los. Derweil ruckt Mike die Beifahrer­tür auf.

Eine korpulente ältere Frau schaut zu ihm – nein, nicht zu ihm, sondern zu irgendeinem entfernten Punkt hinter ihm. Und Blutbläschen blubbern stoß­weise in unregelmäßigem Rhythmus aus ihrer Nase heraus. Der Fahrer aber schaut niemanden mehr an; er klebt mit dem Kopf am Lenkrad, dazu dringt qualvol­les Stöhnen aus seinem weit geöffneten Mund.

"Und, was ist?", will Frank wissen, als er zurück­kehrt.

Mike weist nach innen: "Gucke es dir an."

Frank riskiert einen kleinen Blick. Doch gleich darauf hält er sich würgend und heftig nach Luft jap­send die Hand vor den Mund, saugt danach mit gieri­gem Röcheln die kühle Brise der Nacht in seine jetzt nach Erlösung schreienden Lungen. "Ich kann kein Blut sehen", gesteht er weinerlich, "davon wird mir immer soo schlecht."

"Mist, dann muss ich die Alte auch noch alleine raushieven", zeigt Mike sich wenig begeistert.

Doch dann fasst er zu. Schleppt unter Ächzen die Frau zum Straßenrand, wo er sie in eine stabile Sei­tenlage legt und nachschaut, ob er bei ihr irgendwo Verband anlegen muss. Da er aber nichts findet, rennt er zurück zum Fahrer des Wagens.

Frank spurtet zu diesem Zeitpunkt den Berg hinauf, hat das Den-Kommenden-Wagen-Zeichen-Geben über-nommen.

Kurze Zeit später kommt ihm der erste entgegen. Frank winkt – irgendwie, aber wie, das weiß er selbst nicht – und stellt erleichtert fest, dass der Opel Kadett das Winken bemerkt und richtig gedeutet hat. Frank schaut ihm nach, sieht, wie der Opel hinter Mike langsam vorbeituckert und dann nach der Unfallstelle anhält, die Warnblinkanlage blitzt auf.

Mike hat sich über den Fahrer gebeugt. Dabei be­merkt er, wie hinter ihm ein Wagen entlangfährt und dann irgendwo hält. Doch Mike kümmert sich nicht darum, ist vielmehr konzentriert auf den vor ihm lie­genden Mann, fragt sich, ob er es wagen soll, ihn auch herauszutragen; ist sich jedoch nicht so schlüs­sig darüber. Darum richtet er sich wieder auf und lässt hilfesuchend seinen Blick umherschweifen.

Frank hat sich wieder der Bergkuppe zugedreht und will weiter auf sie zurennen. Doch da kommt der nächste Wa­gen. Und der fährt mit hoher Geschwin­digkeit. Ein Merce­des ist es, erkennt Frank und fängt an zu winken.

Wiederum steigt in ihm Befriedigung auf, als er bemerkt, dass der Mercedes abbremst – er hört die Reifen quietschen. Aber plötzlich – der Mercedes ge­rät ins Schleudern.

Frank weiß noch nicht, was er davon halten soll.

Dann hört er, wie der Motor von einer starken Gas­peitsche getroffen aufjault, seinen geraden Weg fortsetzt. Und nun ist kein Bremsenquietschen mehr zu vernehmen. Er rast jetzt mit voller Geschwindig­keit auf Frank zu!

Dessen Augen weiten sich vor Erstaunen, gepaart mit Entsetzen. Nun hämmert es ihm durch den Kopf: Spring! Spring! Der Wagen hält nicht an! Spring!

Frank hebt ab. Dabei scheint es ihm, als wenn er in Zeitlupe segeln würde, Kopfschmerzen bekommt er; nur eine Hoffnung macht sich in ihm noch breit: Mike bemerke es und fliehe rechtzeitig. Dann landet er im Straßengraben.

Dort liegt er still mit schmerzenden Knochen und sieht nicht, was nun abläuft auf der Straße, hört es aber – ein Orgeln und Stampfen und Kreischen und Schreien, wie er es noch nie gehört hat, und nie mehr hören möchte. – Er hält sich die Ohren zu.

Mikes Blick bleibt an dem nun haltenden Opel hän­gen. Er sieht, wie die Warnblinkanlage angeschaltet wird, hofft, dass ihm der Fahrer helfen kann. Doch im gleichen Moment ertönt hinter ihm ein wildes Gehu­pe, Scherben knirschen, verraten, dass sie mit riesiger Geschwindigkeit überrollt werden. Dazwischen das immer wiederkehrende hysterisch–entsetzte Schreien von Pia: "Mike! Mike!"

Nun dreht er den Kopf in Richtung der Geräusch­kulisse. Sieht einen schleudernden Mercedes auf sich zurasen. Will wegspringen.

Kurz nach dem Absprung spürt er, wie sein Körper von etwas Hartem erfasst wird. Dann wird es dunkel. Nur ein Gedanke schießt noch in seinen Kopf und bleibt in ihm stehen:

Das war's!

Ein ganz böser Fehler?

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