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4. Teil Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts

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Inhaltsverzeichnis

A. Ermächtigungsgrundlage

B. Formelle Rechtmäßigkeit

C. Materielle Rechtmäßigkeit

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Gemäß dem Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes (Rn. 18 ff.) ist der im Folgenden behandelte Verwaltungsakt dann rechtmäßig, wenn er alle Voraussetzungen erfüllt, welche die Rechtsordnung an ihn stellt. Über diese formellen (Rn. 139 ff.) und materiellen (Rn. 215 ff.) Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen hinaus ist im Anwendungsbereich des Grundsatzes vom Vorbehalt des Gesetzes (Rn. 9 ff.) zuvor zusätzlich noch zu prüfen, ob die von der Verwaltung im konkreten Fall getroffene Maßnahme von einer entsprechenden gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage (Rn. 123 ff.) gedeckt wird. Steht der Verwaltungsakt dagegen auch nur in einer der vorgenannten Beziehungen nicht in Einklang mit der Rechtsordnung, so ist er rechtswidrig: „Die Rechtswidrigkeit ist […] das negative Spiegelbild der Rechtmäßigkeit.“[1] Gründe hierfür können sein, dass bei seinem Erlass (näher Rn. 122) entweder das geltende Recht[2] unrichtig angewandt oder von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen worden ist,[3] vgl. auch § 44 Abs. 1 SGB X.

JURIQ-Klausurtipp

Beachten Sie, dass ein Verwaltungsakt zugleich gegen mehrere Normen verstoßen kann. Vorbehaltlich einer abweichenden Aufgabenstellung ist die Prüfung dann nicht bereits beim ersten festgestellten Rechtsverstoß zu beenden, sondern vielmehr ein umfassendes Gutachten zu erstellen – ebenso wie auch im Zivilrecht regelmäßig sämtliche in Betracht kommenden Anspruchsgrundlagen zu prüfen sind.[4]

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Maßgeblicher Zeitpunkt, zu dem die Rechtmäßig- bzw. Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsakts zu beurteilen ist, ist grundsätzlich derjenige der letzten behördlichen Entscheidung, vgl. § 49 Abs. 2 S. 1 Nr. 3, 4 VwVfG. Dies ist wegen § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO der Moment der Bekanntgabe des Widerspruchsbescheids bzw. in den Fällen des § 68 Abs. 1 S. 2 VwGO der Zeitpunkt, in dem der (Ausgangs-)Verwaltungsakt erlassen wurde.[5] Ändert sich nach diesem Zeitpunkt die Sach- und/oder Rechtslage, so beeinflusst dies die Rechtmäßig- bzw. die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts regelmäßig nicht. Ein ursprünglich rechtmäßiger Verwaltungsakt wird nicht nachträglich rechtswidrig, ein ursprünglich rechtswidriger Verwaltungsakt nicht rechtmäßig.[6]

Hinweis

„Bei rückwirkenden Änderungen des Rechts stellt sich die Frage der Änderung des Prüfungsmaßstabs nicht (weil rückwirkend von Anfang an der neue Maßstab gilt).“[7]

Abweichendes kann sich jedoch ausnahmsweise aus der besonderen Eigenart des jeweiligen Verwaltungsakts ergeben. Diese kann es erfordern, zur Beurteilung von dessen Rechtmäßigkeit nicht auf den Zeitpunkt der letzten behördlichen, sondern vielmehr auf den späteren Zeitpunkt einer etwaigen gerichtlichen Entscheidung abzustellen (vgl. § 77 Abs. 1 AsylVfG und § 173 S. 1 VwGO i.V.m. § 296a S. 1 ZPO, jeweils „mündliche Verhandlung“). Dies ist neben noch nicht vollzogenen Verwaltungsakten (z.B. bauordnungsrechtliche Abbruchverfügung; Grund: Billigkeit) sowie an zukünftige Verhältnisse anknüpfende Verwaltungsakte (z.B. Gewährung einer unbefristeten und unbedingten Stellenzulage gem. § 42 Abs. 3 BBesG durch einen Verwaltungsakt für einen Lehrer mit Fachleitertätigkeit) insbesondere bei Dauerverwaltungsakten der Fall (Rn. 66).[8] „Der sog. Verwaltungsakt mit Dauerwirkung weist die Besonderheit auf, dass seine Wirkung nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt, sondern während eines bestimmten Zeitraums eintritt“[9], d.h. dass sich seine Wirkungen nicht in einer bloß punktuellen Regelung erschöpfen, sondern sie beispielsweise in Gestalt der Gestattung eines bestimmten Verhaltens (z.B. regelnde Verkehrszeichen) oder der regelmäßigen Zahlung von Geldbeträgen (z.B. BAföG-Bescheid) fortdauern; str.[10] bzgl. der Sicherstellung (z.B. nach § 32 PolGBW). Derartige Verwaltungsakte müssen i.d.R. während ihrer gesamten Regelungsdauer rechtmäßig sein. Enthält allerdings das Gesetz gesonderte Bestimmungen für die Berücksichtigung nachträglicher Veränderungen, so ist auch bei einem Dauerverwaltungsakt auf den Zeitpunkt der letzten behördlichen Entscheidung abzustellen. Denn andernfalls würden diese besonderen gesetzlichen Voraussetzungen umgangen.[11]

Beispiel[12]

Aufgrund hoher Außenstände befindet sich Gewebetreibender G in finanziellen Schwierigkeiten, so dass er seine Zahlungsverpflichtungen gegenüber den Finanzbehörden nicht mehr erfüllen kann. Aufgrund von § 30 Abs. 4 Nr. 5 Hs. 1 AO offenbart die Finanzbehörde der zuständigen Gewerbeaufsichtsbehörde die Steuerschulden des G i.H.v. 150 000 €. Gestützt auf § 35 Abs. 1 S. 1 GewO untersagt diese daraufhin dem G die Ausübung seines Gewerbes. In Anbetracht seiner wirtschaftlichen Leistungsunfähigkeit und infolge des Fehlens der erforderlichen Geldmittel sei G zu einer ordnungsgemäßen Betriebsführung im Allgemeinen und zur Erfüllung der öffentlich-rechtlichen Zahlungsverpflichtungen im Besonderen nicht in der Lage. Anzeichen für eine Besserung seiner wirtschaftlichen Situation wären nicht erkennbar. Daher biete G nach dem Gesamteindruck seines Verhaltens nicht die Gewähr dafür, dass er sein Gewerbe künftig ordnungsgemäß betreibt, weshalb er i.S.v. § 35 Abs. 1 S. 1 GewO unzuverlässig sei. Mit seiner zulässigen Anfechtungsklage begehrt G nunmehr die Aufhebung der Untersagungsverfügung. Während des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens begleichen mehrere Schuldner des G ihre Zahlungsverpflichtungen gegenüber diesem, so dass er nicht nur seine Verbindlichkeit gegenüber der Finanzbehörde i.H.v. 150 000 € auf einen Schlag tilgen, sondern auch für die Zukunft ein beachtliches finanzielles „Polster“ anlegen kann. Siegesgewiss teilt er diesen Sachverhalt dem Gericht mit. Wird das Gericht diese Ereignisse bei seiner Entscheidung berücksichtigen?

Nein. Gegenstand der Anfechtungsklage nach § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO ist der von der Behörde erlassene Verwaltungsakt. Dessen nach § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO vom Verwaltungsgericht zu überprüfende Rechtmäßigkeit ist im Grundsatz dann zu bejahen, wenn er im Zeitpunkt der letzten behördlichen Entscheidung den von der Rechtsordnung an ihn gestellten Anforderungen genügt. Nachträgliche Änderungen der Rechts- oder Sachlage – wie hier die Besserung der finanziellen Situation des G – sind somit grundsätzlich unbeachtlich. Eine Ausnahme von dieser Regel besteht allerdings dann, wenn die Verwaltung – wie vorliegend mit der Gewerbeuntersagung geschehen – eine dauerhafte Regelung trifft. Diese muss während ihrer gesamten Geltungsdauer rechtmäßig sein, so dass abweichend vom vorgenannten Grundsatz Änderungen der Sach- und/oder Rechtslage, die zwischen der letzten behördlichen Entscheidung und der letzten mündlichen Verhandlung eintreten, sehr wohl vom Gericht zu beachten sind. Eine Rückausnahme hiervon greift jedoch wiederum dann ein, wenn sich aus der Eigenart der im Einzelfall einschlägigen gesetzlichen Regelung ergibt, dass nach Erlass des Verwaltungsakts eintretende Ereignisse für dessen gerichtliche Beurteilung ohne Bedeutung sind. Dies ist bei dem vorliegend maßgeblichen § 35 Abs. 6 S. 1 GewO der Fall, wonach die Wiedergestattung der Gewerbeausübung von einem an die Behörde zu richtenden Antrag abhängig ist. Dieses Antragserfordernis schließt es aus, die für die Wiedergestattung relevanten Umstände im laufenden Anfechtungsprozess zu berücksichtigen. Denn muss das Verfahren nach § 35 Abs. 6 GewO durch einen an die Behörde gerichteten Antrag eingeleitet werden, so kann es nicht ausreichen, wenn der Gewerbetreibende in dem Anfechtungsprozess wegen der Gewerbeuntersagung seinem Begehren auf Wiedergestattung in einem an das Gericht gerichteten Schriftsatz Ausdruck gibt. Nach der Begründung zum Regierungsentwurf zu § 35 Abs. 6 S. 1 GewO (BT-Drucks. 7/111 S. 6) sollte durch dessen Neufassung im Interesse einer Entlastung der Behörde erreicht werden, dass nach erfolgter Untersagung die Initiative zur Wiederzulassung vom Gewerbetreibenden ausgehen muss und die Behörde nicht zu prüfen hat, ob die Untersagungsgründe noch fortbestehen. Wenn die Behörde nach wie vor während des gerichtlichen Verfahrens ihre Entscheidung unter Kontrolle halten müsste, würde der von der Neuregelung angestrebte Entlastungseffekt nicht erreicht werden. Denn gerade unter dem Druck des Prozessrisikos wird die Behörde durch die entsprechende Amtspflicht belastet, wogegen sie nach Unanfechtbarkeit der Untersagungsverfügung dem früheren Gewerbetreibenden in der Regel schon immer die Initiative überlassen konnte, die Wiedergestattung der Gewerbeausübung durchzusetzen. § 35 GewO liegt nach der Neufassung seines Absatzes 6 eine deutliche Trennung zwischen dem Untersagungsverfahren einerseits und dem Wiedergestattungsverfahren andererseits zugrunde.


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