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Herras VI

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Herras hatte, wie versprochen, die zweite Hälfte der Nacht Wache gehalten. Trotzdem fühlte er sich frisch und ausgeruht, als sie am Morgen nach einem ausgiebigen Morgenmahl wieder aufbrachen. Merit hatte mit dem Proviant nicht gespart und der Vorrat, den er aus den Rucksäcken zauberte, schien geradezu unerschöpflich zu sein. Zudem erfüllte der Wald Herras geradezu mit Leben.

Sie kamen gut voran. Doch etwa viermal fünfzig Kils nach Mittag veränderte sich das Wetter. Es begann zu regnen. Die Luft kühlte sich merklich ab, sodass sie ihre Mäntel aus den Rucksäcken hervorholten und die Kapuzen tief ins Gesicht zogen.

Trotz des schlechten Wetters konnte Herras es nicht verhindern, dass sein Blick immer wieder nach oben wanderte. Er hoffte, irgendwo zwischen den Bäumen den geheimnisvollen Vogel Olog zu sehen, aber er war nirgends zu entdecken. Nur zweimal konnten sie ihn schreien hören, ein Zeichen dafür, dass er sie noch immer begleitete. Merit berichtete, dass er ihn schon am Vortag mehrfach gehört hatte. Es wunderte den Waldmenschen, dass sich Olog so weit vom Stamme Andor entfernte, denn bisher hatte er den Stamm nie für längere Zeit verlassen. Wäre Merit ein gläubiger Waldmensch gewesen, hätte er gesagt, dass die Götter ihn als Beschützer für ihre Reise geschickt hatten, aber da er weder religiös noch abergläubisch war, freute er sich einfach über seine Anwesenheit.

Der Regen hielt nur eine Weile an und auch nachdem er aufgehört hatte, blieb der Himmel bedeckt. Nur langsam zogen die Wolken westwärts und da die Sonne verborgen blieb, war es düster und kühl unter den Wipfeln der Bäume.

Am späten Nachmittag wurden Herras die Beine schwer. Seit ihrer ausgiebigen Rast zur Mittagszeit hatten sie nur eine kurze Pause eingelegt, um ihre Wasserflaschen an einem kleinen Bach zu füllen. Es war zu nass und ungemütlich, um sich auf dem Waldboden niederzulassen. Merit hielt bereits seit längerer Zeit Ausschau nach einem trockenen Platz, an dem sie die Nacht verbringen konnten.

Herras trottete mürrisch vor sich hin. Die Nässe kroch langsam an seinen Beinen hinauf und seine Stimmung sank auf ihren Tiefpunkt seit Beginn ihrer Wanderung.

Während er sich und die Welt verdammte, blieb sein Fuß plötzlich an einem ungewöhnlich hohen Hindernis hängen und er stolperte. Gerade noch konnte er sich abfangen, bevor er das Gleichgewicht verlor und ins feuchte Laub fiel. Er schob seine Kapuze aus dem Gesicht und drehte sich um, um zu sehen, was ihn beinahe zu Fall gebracht hatte. Er war über eine kleine Mauer gestolpert, die ungefähr ein Fünftel Barret aus dem Boden herausragte. Herras wunderte sich. Bisher hatte er noch nichts im Wald gesehen, was aus Stein gebaut war. Er blickte sich wieder um und wollte Merit und Maleris auf diese Merkwürdigkeit ansprechen, als er sah, wozu die Mauer gehörte. Vor ihm ragte ein mächtiges Bauwerk auf, genauer gesagt, musste es einst mächtig gewesen sein. Nun war davon nur noch eine Ruine übrig. Zu seinen Glanzzeiten musste es ein riesiges Haus oder vielmehr eine Burg gewesen sein. Jetzt war das Dach eingestürzt und Teile des Mauerwerks zusammengefallen, aber noch immer war zu erkennen, wie gewaltig das ganze Bauwerk einst gewirkt haben musste und wie völlig fehl es an diesem Ort war. An der rechten Seite befand sich ein noch fast vollständig erhaltener Turm, der sogar die Spitzen der Bäume überragte. Herras schätze, dass man von dort einen guten Ausblick über den Wald haben musste.

»Was ist das?«, fragte er, als er zu den beiden Waldmenschen aufgeschlossen war. Es schien ihm, als könnte er einen andächtigen Ausdruck in ihren Augen erkennen.

»Das ist Golid«, erwiderte Maleris und vergaß, dass Herras mit dieser Aussage nicht viel anfangen konnte.

»Wir sind besser vorangekommen als ich dachte«, fügte Merit hinzu. »Wir sind bereits in einen Bereich des Waldes gekommen, in dem ich mich nicht mehr so gut auskenne, aber dass wir heute schon Golid erreichen, hätte ich nicht erwartet. Dies ist der nördlichste Punkt, den mein Stamm jemals besucht hat.«

»Und was ist Golid?«, fragte Herras weiter, der noch immer keine aufschlussreiche Antwort auf seine Frage erhalten hatte.

»Golid war einst eine mächtige Festung. Sie stammt noch aus der Zeit, als Allendas und Lemberus ein Land waren und unsere Völker eines waren. Ich denke, hier werden wir einen trockenen Ruheplatz für die Nacht finden«, erwiderte Merit und sie gingen durch einen verfallenen Torbogen hinein in das mittlerweile unüberdachte Innere der Festung. Die Reste einer verwitterten Treppe waren zu erkennen und Herras schätzte, dass es sich einst um den Haupteingang gehandelt hatte. Er blickte sich mit geweiteten Augen und offenem Mund um. Von innen wirkte das Gebäude (oder das, was im Laufe der Jahrhunderte davon noch übrig geblieben war) noch riesiger. Einige Wände standen zum Teil noch, aber die meisten waren völlig in sich zusammengefallen und lagen als Geröllhaufen oder einzelne große Steine herum. Nur die äußeren Mauern waren noch größtenteils erhalten und sie ließen Herras erahnen, welches Ausmaß die gesamte Burg einmal gehabt haben musste. Bäume wuchsen zwischen den herumliegenden Steinen und der Boden war von Laub und Gras bedeckt. Die Burg musste zu ihrer Glanzzeit mindestens zwei Stockwerke besessen haben, aber davon war kaum noch etwas zu erkennen.

»Ich wusste nicht, dass wir einmal ein gemeinsames Volk waren«, sagte Herras zu Maleris, die neben ihn getreten war.

»Ihr Allendasser schätzt das Wissen über eure Vergangenheit nicht sonderlich, oder?« Das Mädchen blickte ihn von der Seite her tadelnd an.

»Anscheinend nicht.« Herras zuckte bedauernd mit den Schultern.

Maleris’ Gesichtsausdruck veränderte sich. Sie bedachte ihn mit einem merkwürdigen Blick, den Herras nicht recht zu deuten wusste. Es schien eine Mischung aus Traurigkeit und Belustigung zu sein. Dann wandte sie sich ab und ging hinüber zu Merit, der nun im Eingang zu dem großen, runden Turm stand. Herras folgte ihr und er hoffte, dass es vielleicht eine Möglichkeit gab, den Turm zu besteigen. Er hätte zu gerne den Wald einmal von oben gesehen.

»Ich denke, hier können wir die Nacht verbringen«, rief Merit ihnen zu und legte bereits seinen Rucksack ab, als sie sich ihm näherten.

Zu Herras’ Enttäuschung gab es keine Treppe innerhalb des Turmes. Einige Reste im Mauerwerk wiesen darauf hin, dass es einst eine gegeben haben musste, doch sie war vollständig zerfallen. So konnte er nur nach oben starren. Sein Blick verlor sich in undurchdringlicher Dunkelheit.

Der Raum im Turminnern war kahl und dunkel und der Eingang recht niedrig und schmal. Dadurch waren sie wenigstens vor Wind und Wetter geschützt.

»Wir können hier drinnen kein Feuer entfachen«, stellte Herras fest. »Der Rauch würde nicht abziehen.« »Aber ein paar Kerzen werden bestimmt nicht schaden.« Maleris begann, in ihrem Rucksack zu kramen. Sie fand, was sie suchte und stellte die Kerzen im Raum auf. Dann entzündete Maleris sie und ihr Licht verbreitete eine angenehme Atmosphäre. Sie ließen sich auf den erdigen Boden sinken und holten ihren Proviant hervor.

»Wann war das?«, fragte Herras zwischen zwei Bissen getrocknetem Fleisch. »Wann waren wir ein Volk?«

»Vor sehr, sehr langer Zeit.« entgegnete Merit. »Vor vielen hundert Jahren.«

»Und was passierte dann? Warum haben sich die Völker getrennt?« Es wunderte ihn, dass der sonst so gesprächige Lemberuske an diesem Tag nur so spärlich mit der Sprache herausrückte. Herras wusste nicht, ob es daran lag, dass er erschöpft war, oder ob etwas anderes dahinter steckte.

»Es kam zu einem Zerwürfnis, als die anderen Menschen kamen.« ergriff Maleris nun das Wort. »Sie kamen über das Meer und die heutigen Allendasser verbündeten sich mit ihnen. Die Fremden und die verbündeten Allendasser vertrieben alle, die nicht bereit waren, sich ihnen anzuschließen. Sie erkannten die bösartigen Absichten der Neulinge nicht. Die Vertriebenen zogen sich in die Wälder zurück und gründeten unser Volk. Sie versuchten noch einige Male, eine Einigung zwischen ihrem Volk und den Allendassern herbeizuführen, aber die Allendasser waren uneinsichtig, vertrieben oder töteten unsere Gesandten und so schwand der Kontakt immer weiter, bis er irgendwann völlig abbrach.«

»Der Verlauf der Geschichte hat gezeigt, dass wir recht hatten«, fuhr Merit fort. »Die Fremden, die über das Meer gekommen waren, gewannen immer mehr an Macht und unterdrückten die Allendasser mehr und mehr, bis sie irgendwann völlig versklavt und enteignet worden waren. Die Familie von Ralirand, dem König des vereinten Landes, das Aurantien genannt wurde, wurde getötet und die Fremden setzten einen der ihren auf den Thron. Ein Vorgänger aus Ralirands Geschlecht ließ auch diese Burg bauen. Sie diente als Wachposten für die östlichen Grenzen. Unsere Länder wurden erst sehr viel später Allendas und Lemberus genannt.«

Nun gelangten sie an den Teil der Geschichte, der auch Herras bekannt war, auch wenn in Allendas nicht viel davon gesprochen wurde. Die Allendasser dachten nicht gerne an die schlechten Zeiten, bevor Helaras nach Allendas kam und das Land in eine bessere Zeit führte. Herras schwieg betroffen. Es dauerte eine Weile, bis er den neuen Blickwinkel, den er nun über die Vergangenheit seines Landes erhalten hatte, richtig verstand 8).

»Und nun sind wir wieder am gleichen Punkt angekommen, an dem wir damals schon waren«, sagte er nach einer Weile leise. »Doch dieses Mal war es nicht unsere Schuld.«

»Damals kam Helaras, um euch von euren Peinigern zu befreien und auch diesmal werden wir einen Weg finden, die Eindringlinge zu vertreiben«, entgegnete Merit zuversichtlich.

»Und mit etwas Glück wird es diesmal nicht über ein Jahrhundert dauern«, fügte Maleris ebenso entschlossen hinzu.

»Es scheint das Schicksal meines Volkes zu sein, immer die Geretteten zu sein - sofern mein Volk überhaupt noch existiert.« Herras spielte mutlos mit einer der Kerzen.

»Das werden wir nur herausbekommen, wenn wir unseren Weg fortsetzen. Diesmal wird der Retter deines Volkes vielleicht aus dessen eigenen Reihen kommen«, erwiderte Maleris und Herras bemerkte, dass ihre Anrede vertrauter geworden war.

»Ich weiß noch immer nicht, ob ich dieser Aufgabe gewachsen bin«, antwortete er schwach.

»Das wirst du.« Merit legte ihm freundschaftlich und ermutigend die Hand auf den Arm. »Man wächst mit den Bürden, die einem auferlegt werden. Das Schicksal wählt immer den Richtigen.«

»Aber ich habe dem Schicksal ins Handwerk gepfuscht. Eigentlich sollte Hondor nun an meiner Stelle sein.« Herras ließ die Schultern hängen.

»Das Schicksal lässt sich nicht beeinflussen«, erwiderte Merit. »Es war dir so vorbestimmt, sonst wärst du nicht hier.«

Herras erwiderte nichts. Die bedrückte Stimmung blieb, als sie die Kerzen löschten und sie sich schlafen legten.

Auch in dieser Nacht übernahm Merit die erste Wache. Er holte aus seinem Rucksack eine Decke hervor und ließ sich unter dem Steinbogen des Eingangs nieder. Seine Armbrust legte er griffbereit an seine Seite. Den Rücken an die Steine gelehnt, blickte er hinaus in die Nacht.

In dieser Nacht fiel es Herras nicht so leicht, Schlaf zu finden, obwohl ihm die Müdigkeit und Erschöpfung tief in den Knochen saßen. Eine Fülle von Gedanken, die unermüdlich in seinem Kopf kreisten, ließen ihn nicht zur Ruhe kommen. Die Arme hinter dem Kopf verschränkt und mit weit offenen Augen, starrte er hinauf in die unendlich wirkende Dunkelheit des Turmes und grübelte über seine und die Zukunft seiner Gefährten nach. Was würde sie erwarten? Würde er den Aufgaben gewachsen sein, die auf ihn zukommen mochten? Er versuchte, sich das Land im Norden vorzustellen, wohin sie ihr Weg führen sollte. Wie würden ihn die Menschen dort aufnehmen? Wie würden sie auf sein Anliegen reagieren? Was würde geschehen, wenn sie ihn nicht anhören würden?

Maleris hatte sich in ihre Decke gerollt und ihr ruhiges Atmen verriet, dass sie schon seit einiger Zeit eingeschlafen war. Herras allerdings starrte noch lange in die Schwärze über ihm, bevor auch er in einen flachen und unruhigen Schlaf fiel.

8) Dem aufmerksamen Leser wird aufgefallen sein, dass den Allendassern der erste Teil dieser wahren Geschichte nicht mehr so geläufig ist. Wie es mit vielen Taten und Ereignissen geschieht, die für den Erzählenden nicht sehr ruhmreich ausfallen, wurde dieser Teil unter den großen Teppich des Vergessens gekehrt. Also wollen auch wir es damit auf sich beruhen lassen. Die unglückliche Rolle, die König Ralirand bei der Versklavung seines eigenen Landes spielte, soll an dieser Stelle nicht näher erwähnt werden. Es wäre für ihn ganz und gar nicht ruhmreich.

Allendas

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