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Kalerid I

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Kalerid war zufrieden mit seinen Kriegern. Doch noch mehr war er es mit sich selbst. Sein Schlachtplan hatte sich als vortrefflich und erfolgreich erwiesen und dazu war es noch so herrlich einfach gewesen.

Während er das belebende Gefühl des Sieges genoss, fragte sich der Heerführer der sellagischen Truppen, warum sein Vater und alle vor ihm so lange gezögert hatten, Allendas zurückzuerobern.

Zu lange hatte das Volk der Sellag in den hohen Gebirgszügen Gerlands hinter der westlichen Grenze des Landes hausen müssen, zu lange hatten sie sich in Höhlen und Felsspalten verkrochen, ausgeharrt und den schlechten Witterungsverhältnissen getrotzt. Endlich war ihr Tag gekommen.

Berild, Kalerids Vater, hatte, wie seine Väter zuvor, viele Jahre darauf verschwendet, eine übermächtige Truppe aufzustellen und auszubilden. Er hatte Späher nach Allendas ausgesandt, um das Volk und ihre Gepflogenheiten zu studieren und er hatte seine Befehlshaber gezwungen, sogar die Sprache der Allendasser zu lernen, ohne jemals den Befehl zum Angriff gegeben zu haben. Zu viele Krieger waren alt geworden und gestorben, ohne dass jemals ihre Gelegenheit gekommen war. Lange hatte Berild über seinen Feldzug gebrütet. Kalerid konnte darüber nur lachen. Auch mit der Hälfte an Kriegern hätten sie die verweichlichten und einfältigen Menschen überwältigen können. Innerhalb einer Nacht hatten die Sellag-Truppen die Grenzen zu Allendas überschritten und das Land in ihre Gewalt gebracht. Und nun, die Sonne war noch nicht einmal aufgegangen, hatte Kalerid bereits den Thron übernommen. Die Tat, auf die sein Vater über so lange hingearbeitet hatte, war in lächerlich kurzer Zeit vollbracht worden.

Den König hatte er während der Schlacht nicht einmal zu Gesicht bekommen. Wahrscheinlich verkroch sich der hochwohlgeborene Jüngling in seinen Gemächern unter weichen Daunen. Aber auch das würde ihm nichts helfen. Kalerid hatte ein Dutzend seiner besten Krieger losgeschickt und sie würden den gefallenen König von Allendas holen und ihm seinem neuen Herrn vorstellen.

Er hatte ihnen befohlen, ihn lebend zu bringen, denn der Heerführer der Sellag wollte seine Schmach bis ins Letzte auskosten. Ein toter König konnte nicht mehr wimmern und flehen.

Hocherhobenen Hauptes saß Kalerid auf dem Thron im großen Saal des Schlosses von Alland Pera. Seine Krieger beseitigten die Zeichen der kurzen Schlacht. Sie schafften die Leichen der Menschen, die bei dem kläglichen Versuch, das Schloss zu verteidigen, gefallen waren, hinaus. Der selbst erwählte, wenn auch ungekrönte2 Herrscher von Allendas, natürlich würde er auch den Namen seines Reiches bald ändern, wollte keine Toten in seinem neuen Heim. Er verabscheute den süßlichen Geruch des menschlichen Blutes. Zudem hatte Kalerid angeordnet, die Banner und Fahnen mit den Zeichen des gefallenen Herrschergeschlechts zu entfernen. Kahle, steinerne Wände gaben ihm das Gefühl, zu Hause zu sein. Kalerid lehnte sich gegen die hohe und aufwändig geschnitzte Rückenlehne des allendassischen Throns und grunzte genießerisch, während er seinen Untergebenen bei der Arbeit zusah.

Dann wurden die mächtigen Türflügel des Thronsaals mit einem kräftigen Stoß aufgeschwungen. Früher als erwartet schleifte man den König und einen weiteren Gefangenen in den Saal und warf sie Kalerid vor die Füße. Hart schlugen die Gefesselten auf dem Steinboden auf und Kalerid begutachtete seine noch wertvolle Beute (bald würde der König von Allendas und dessen Leben keine einzige Goldmünze mehr wert sein) mit aufmerksamen Augen.

»Sieh einer an!« Seine Stimme triefte vor Hohn, als er sich von seinem Platz erhob, um seine Gefangenen näher zu betrachten.

Hondor erwiderte den Blick der schwarzen Augen kalt. In seinen grünen Pupillen glänzte Stolz. Er hatte seine Würde noch nicht verloren, auch wenn seine Lage aussichtslos schien.

Auch Herras hielt dem durchdringenden Starren des Sellag stand. Obwohl seine Furcht ihn im Inneren erzittern ließ, fand nichts davon den Weg in seine Augen.

Kalerid war beeindruckt, auch wenn er es niemals zugegeben hätte; er hatte den Menschen nicht so viel Stolz zugetraut. Er stelle sich auf seine Hinterbeine und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. In dieser Haltung war er größer, als die meisten Angehörigen seiner Rasse. Seine großen Füße, deren Nägel sich zu Krallen ausgewachsen hatten, klatschen plump auf dem Boden, als er einmal um die auf dem Boden knienden Gestalten herumging. Speichel tropfte auf den König und seinen Begleiter herab, als sich der Heerführer zu ihnen herunterbeugte.

»Was für jämmerliche Gestalten«, zischte Kalerid herablassend. »Der edle König Hondor und, wie ich annehme, einer seiner treuen Diener.« Kalerid umrundete seine Gefangenen noch einmal und ein heiseres Lachen entrann seiner Kehle. Er hatte nur ein Problem. Er wusste nicht, wer von den zwei rosahäutigen, kindergesichtigen Schwächlingen der König sein sollte. Beide trugen sie Kettenhemden und auch in ihrer restlichen Kleidung konnte er keinen bedeutenden Unterschied erkennen. Er hatte allerdings Mittel und Wege, um sich Gewissheit zu verschaffen.

»Wer von Euch ist der König?«, fragte er und entblößte dabei zwei spitze Eckzähne. Herras zweifelte nicht daran, dass der Sellag allein damit seine Opfer in Stück reißen konnte, wenn er nur wollte.

»Ich wüsste nicht, was Euch das angeht«, gab Hondor zurück und bekam für dieses ungebührende Verhalten von einem Sellag einen harten Tritt in die Rippen, der ihm für einen kurzen Augenblick den Atem raubte. Kein Schmerzenslaut kam über seine Lippen.

»Was mich das angeht?« Kalerid lachte abermals. Sein langer grauer, mit Bergziegenfell besetzter Mantel schlug Hondor ins Gesicht, als er sich umdrehte und die drei Stufen zum Podest des Thrones wieder hinaufstieg. Selbstgefällig ließ er sich hineinsinken und ordnete beiläufig die Falten seines Umhangs. »Ich bin der neue Herrscher dieses Reiches. Mich geht alles etwas an. Also, wer von Euch beiden Schwächlingen ist der König?« Diesmal klang Kalerids Stimme deutlich fordernder.

Hondor versuchte, davon unbeeindruckt zu bleiben. Er war der rechtmäßige König von Allendas und daran würde sich, solange er lebte, auch nichts ändern. Noch bevor er aber dazu kam, etwas zu erwidern, vernahm er Herras’ Stimme.

»Wer seid Ihr?«, stieß der Hauptmann hervor und er bekam dafür einen kräftigen Schlag in den Nacken, der ihn ein kurzes Stöhnen ausstoßen ließ.

Kalerid lachte erneut und mit jedem Mal klang es abstoßender und gehässiger. »Wer ich bin!?!« Der Heerführer der Sellag fühlte sich so selbstsicher in seiner Lage, dass es ihm nichts ausmachte, ein wenig über seine Herkunft zu erzählen. »Mein Name ist Kalerid, Sohn von Berild, Herrscher und Heerführer der Sellag, dem Volk aus dem Gebirge Gerland. Ich bin gekommen, um mir das zu nehmen, was mir und meinem Volk schon lange zusteht. Und wie Ihr seht, ist es mir auch mühelos gelungen. Ich hätte nicht gedacht, dass Ihr es mir so einfach machen würdet, mein Land zurückzuerobern. Man könnte meinen, Ihr habt nur auf mich gewartet. Euer Volk ist verweichlicht. Es braucht einen König, der ihm wieder ein wenig Disziplin beibringt. So wie es in den alten Tagen war.« Kalerid machte eine Pause und wartete eine Reaktion der beiden Gefangenen, doch diese blieb aus. Hondor und Herras starrten ihn stumm mit festem Blick an. In ihren Köpfen jedoch raste eine Unmenge von Gedanken. Noch nie hatten sie etwas von den Sellag gehört und seit vielen Jahren, wenn nicht Jahrhunderten, war kein Mensch mehr im Gerland-Gebirge gewesen. Niemand hatte gewusst, dass sich dort ein ganzes Volk verbarg oder gar geahnt, welche Gefahr Allendas von dort drohte.

Kalerid wurde missmutig. Er hatte mit mehr Respekt angesichts seiner Worte gerechnet. »Genug geredet!«, sagte er unwirsch, als er wusste, dass er keine Reaktion mehr erwarten durfte und bleckte abermals die hässlich gelb verfärbten Eckzähne. »Heraus mit der Sprache! Wer von Euch ist der König? Ich habe keine Zeit mehr, mich mit Euch zu beschäftigen. Es gibt viel zu regeln in diesem verkommenen Land«, erklärte er und entschloss sich, das Gesprochene mit einer Drohung zu unterstreichen, um dieser zähen Verhandlung endlich ein Ende zu setzen. »Sprecht, oder ich werde Euch beide auf der Stelle töten lassen.«

Die umstehenden Wachen wurden bereits unruhig. Einige zogen ihre Waffen, andere fletschten ihre Zähne und richteten sich auf ihre Hinterbeine auf. Kalerid zischte etwas in der Sellag-eigenen Sprache. Er rief seine Untertanen zur Ruhe, um zu verhindern, dass sie sich gleich auf die Gefangenen stürzten. Der Heerführer hatte andere Pläne für den König und auch seinen Diener würde er noch gut gebrauchen können.

Herras wurde angst und bange, doch weniger um sich selbst als um seinen König. Obwohl sich die zischenden und fauchenden Sellag-Krieger nun wieder beruhigten und wieder auf allen Vieren zusammenkauerten, zweifelte er nicht daran, welches Schicksal Hondor ereilen würde, wenn er sich zu erkennen gab. Kalerid würde ihn töten lassen, wahrscheinlich sofort. Wenn der König von Allendas starb, gab es keine Hoffnung mehr für sein Volk. Sie würden ihren Peinigern hoffnungslos ausgeliefert sein. Es gab nur eine Möglichkeit, dem Volk den letzten Funken Hoffnung zu bewahren. Er nahm seinen letzten Mut zusammen und sagte mit fester Stimme: »Ich bin Hondor, König von Allendas.«

Hondor erstarrte, als er Herras’ Worte vernahm. Er blickte seinen Freund an und in seinen Augen stand sowohl Stolz als auch Trauer, als er dessen Absichten erkannte. Dann schüttelte er den Kopf, sah zu Kalerid hinauf und seine Pupillen verdunkelten sich, als er sagte: »Nein, ich bin Hondor.«

»Nein, glaubt ihm nicht!«, stieß Herras heftig hervor. Trotz der verzweifelten Lage machte es ihn sehr stolz, dass sein Freund beabsichtigte, sein Leben zu retten, aber er durfte es nicht zulassen. Hastig versuchte er, auf die Beine zu kommen, aber die Fesseln um seine Fußgelenke machten dieses Vorhaben unmöglich. Schneller, als er sich versehen konnte, war er von drei Sellag-Kriegern umringt, die ihn zurück auf den Boden drückten. Sein Blick begegnete den Augen Hondors.

»Ich danke, Euch Herras«, flüsterte er leise, aber doch laut genug, dass alle Anwesenden es hören konnten. »Aber es hat keinen Zweck. Es muss sein!« Herras erschien es, als könnte er einen feuchten Glanz in den Augen Hondors erkennen, aber er konnte keine Sicherheit erlangen, denn der König wandte sein Gesicht ab und ließ den Kopf sinken.

Kalerid konnte angesichts dieses Schauspiels abermals nur ein raues Lachen ausstoßen. Für ihn war die Lage der Dinge klar. Mit Schwung stieß er sich von seinem frisch eroberten Thron ab und sprang die wenigen Stufen herunter. Sein Umhang blähte sich dabei und ließ ihn mächtiger wirken, als er war. Ein fünftel Barret3 vor Hondor kam er zum Stehen und beugte sich zu dem König herunter. Sein stinkender Atem wehte dem Menschen ins Gesicht und raubte ihm für den Moment die Sinne.

»Das war ein ehrenhafter Versuch, Diener Herras.« In seinen tief liegenden, dunklen Augen funkelte Belustigung. »Aber wie du siehst, ist dein Herr nicht bereit, dein Opfer anzunehmen.«

Hondor fand nicht die Kraft, den Kopf zu heben. Bewegungslos starrte er auf den steinernen Boden. Er kämpfte gegen seine Trauer und Verzweiflung. Herras hatte über sich selbst sein Todesurteil verhängt. Er hatte es für seinen König getan und es gab nichts, was Hondor jetzt noch tun oder sagen konnte, das Kalerid vom Gegenteil überzeugt hätte.

Mit schweren Schritten stapfte der Heerführer hinüber zu Herras. Einen Augenblick betrachtete er ihn nur, genoss die Vorfreude, auf das, was er sich für ihn ausgedacht hatte. Dann ergriff er den Menschen mit einer schnellen Handbewegung fest am Kragen und zog ihn hoch. Speichel triefte von seinen scharfen Eckzähnen und sein Gestank verursachte Übelkeit bei Herras. Für einen Moment befürchtete der Leibwächter, der Sellag würde sich sofort auf ihn stürzen und ihn zerreißen. Sein Herzschlag stockte. Er schloss die Augen und erwartete das, was nun kommen würde. Doch es geschah nichts.

Kalerid ließ ihn wieder los und Herras fiel auf die Knie. Als er seine Augen wieder öffnete, starrte er geradewegs in Kalerids Gesicht.

»Ich habe mir etwas Wunderbares für Euch ausgedacht«, grollte Kalerid freudig, als er sich umwandte, erneut zu seinem Thron zurückzukehren. »Ihr werdet die Gelegenheit bekommen, einen ehrenvollen Tod zu erlangen. Ihr werdet den besten meiner Männer gegenüberstehen, bevor Ihr Euren letzten Atemzug tut. Lasst Euch überraschen, Majestät.« Kalerids letzte Worte quollen vor Hohn über, als er sich auf dem breiten Königsstuhl nach vorne beugte. In den Reihen der anwesenden Sellag brach wieder Unruhe aus. Obwohl sie noch nicht erfahren hatten, was ihr Anführer mit seiner Beute geplant hatte, wussten sie doch, dass Kalerid immer ein besonders gutes Händchen für solche Angelegenheiten hatte. Herras verstand die zischenden Laute, die zwischen ihnen ausgetauscht wurden, nicht, aber er konnte trotzdem erkennen, dass sie in Vorfreude schwelgten.

»Bring ihn hinaus!« befahl Kalerid seinen Leuten und deutete mit seinem langen knochigen Zeigefinger auf Herras. »Kettet ihn auf ein Fuhrwerk und bewacht ihn gut.« Dann wandte er sich einem kleineren Sellag mit einem äußerst unterwürfigen Gesichtsausdruck zu. »Marek, lass meine zehn besten Truppenführer zusammenrufen. Sie sollen sich im Schlosshof einfinden. Sobald sie vollzählig sind, ziehen wir los!« Kalerid hatte sich die Mühe gemacht, seinen Befehl in der allendassischen Sprache zu formulieren. Wahrscheinlich, um dem König die »Vorfreude« zu gönnen.

»Jawohl, Majestät«, erwiderte Marek in der Sprache der Sellag und stürmte auf allen Vieren hinaus. Herras sah ihm nach. Er fragte sich, was Kalerid mit ihm vor hatte und er hatte sich in seinem ganzen Leben noch nie so unwohl in seiner Haut gefühlt. Dann wandte er seinen Blick hinüber zu Hondor. Der König hatte seinen Kopf wieder gehoben und sah seinen Leibwächter mit traurigen Augen an. Ein stummer Vorwurf, aber auch Verständnis waren darin zu erkennen. Gerne hätte Herras ein paar letzte Worte an seinen Freund gerichtet, ihm erklärt, dass er einfach tun musste, was er tat, dass er keine andere Wahl hatte. Aber sie waren nicht allein und er durfte nicht riskieren, ihr Geheimnis jetzt zu verraten. Bevor er Gelegenheit bekam, seine Gedanken zu Ende zu bringen, umfassten zwei Sellag seine Handgelenke. Zwei weitere ergriffen seine Knöchel und er wurde hinausgeschleift.

»Bringt diesen zu den anderen. Er wird mir vielleicht noch nützlich sein«, rief Kalerid den verbliebenen Wachen zu. Sie ergriffen Hondor und auch er wurde unsanft aus dem Saal gezerrt.

2) Das Herrschergeschlecht des Landes Allendas besaß seit vielen Jahrhunderten keine Krone mehr als Zeichen ihrer Macht. Es wird vermutet, dass sie zur Zeit der Versklavung in die Hände der Belagerer gefallen und dann verschwunden war. Helaras, der Befreier verweigerte aus unbekannten Gründen die Anfertigung einer neuen Herrscherkrone und als Zeichen der Verehrung und des Dankes wurde diesem Wunsch auch lange nach seinem Tod entsprochen.

3) Barret = Längenmaß (1 Barret = 1,27 Meter)

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