Читать книгу Allendas - Nadine T. Güntner - Страница 24
Herras VIII
ОглавлениеDie Geschehnisse in der Nacht verzögerten den Aufbruch am nächsten Morgen. So kam es, dass die Sonne bereits hoch am Himmel stand und die Stimmung in der Gruppe sehr gemischt war, als die vier, mehr oder weniger freiwilligen, Weggefährten den Togos betraten.
Merit fühlte sich trotz wenig Schlaf merkwürdig beschwingt und der Gedanke an den Furcht erregenden Wald schreckte ihn kaum. In der letzten Nacht hatte sich einer seiner größten Wünsche erfüllt. Er hatte den Rabenvogel Olog zu Gesicht bekommen. Er war so beeindruckend gewesen, wie er ihn sich immer vorgestellt hatte. Zwar hatte er nicht sein Geheimnis lüften können oder ergründen, was seine wahre Berufung war, aber diesen Vogel, der für sein Volk eine große Bedeutung hatte, mit eigenen Augen gesehen zu haben, war ein erhebendes Gefühl. Er fühlte sich fast wie ein Auserwählter. Zu seinem Bedauern hatte es nach dem Zwischenfall der letzten Nacht und auch den ganzen Morgen kein weiteres Anzeichen für Ologs Anwesenheit gegeben. Seine Schreie waren verstummt und kein Rascheln im Geäst oder Flügelschlag waren zu hören.
Merit machte sich Sorgen um Maleris. Seit ihrer Begegnung mit Olog war sie ungewöhnlich ruhig und sehr bedrückt. Er musste mit seiner Schwester darüber reden.
Herras hingegen hatte sich seit seinem Erwachen wieder voll und ganz dem Hass gegen den Sellag hingegeben. Seine Abscheu gegen ihn erschreckte Merit geradezu. Er hatte dem bisher so friedlich wirkenden Menschen nicht solche gewaltigen Gefühle zugetraut. Herras hatte fest darauf bestanden, die Überwachung des Sellag namens Marek selbst zu übernehmen. Merit hatte ihn gewähren lassen und aus seinem Rucksack einen festen Lederriemen hervorgezogen, mit dem Herras den Sellag hatte an die Leine legen können. Mit verbissenem Gesichtsausdruck umklammerte der Allendasser den Riemen und zerrte den Sellag unbarmherzig hinter sich her, während er vor seinen beiden Begleitern dahin stapfte.
Marek war sich nun nicht mehr sicher, ob es wirklich ein Vorteil für ihn war, dass man ihm sein Leben geschenkt hatte. Der König, zumindest hielt Marek ihn noch immer dafür, war ihm verständlicherweise nicht wohl gesonnen. Das hätte den Sellag nicht sonderlich gestört, hätte er nicht das unangenehme Gefühl gehabt, diesem Menschen hilflos ausgeliefert zu sein. Seine Fesseln gaben ihm kaum Bewegungsfreiheit und ließen nur kleine Schritte in aufrechter Haltung zu, was sich sehr bald als anstrengend erwies.
Langsam drangen sie tiefer in den Togos vor und um sie herum wurde es immer dunkler und kühler. Bald standen die Tannen so dicht, dass kaum noch Tageslicht durch ihre dunkelgrünen, beinahe schwarzen Wipfel dringen konnte. Im Wald herrschte ein diffuses Zwielicht und graue Nebel umwaberten den Moos bewachsenen Boden. Feuchtigkeit hing in der Luft und Tautropfen perlten sich im Moos und an den Bäumen.
Das Laufen fiel nicht nur Marek schwer. Immer wieder glitten sie an den umherliegenden rutschigen Felsen aus oder blieben an den sich am Boden schlängelnden Farnen hängen.
Die Stille, die den gesamten Wald zu beherrschen schien, schaffte eine erdrückende Stimmung. Kein Vogel, kein Rascheln kleiner Tiere war zu hören. Durch das fehlende Sonnenlicht wirkte der Wald grau-grün bis schwarz und Furcht einflößend. Die Bäume wuchsen immer dichter, sodass ihre Äste sich ineinander verschlungen, gerade so, als wollten sie ihnen den Weg versperren. Immer öfter mussten die Wanderer sich ducken oder sogar auf die Knie gehen, um weiter vorankommen zu können.
Bald war Herras’ Hass auf den Sellag in den Hintergrund getreten und Furcht ersetzte das innige Gefühl. Es wurde zur Routine, den Sellag stetig weiterzuziehen, während er selbst um sein Vorankommen kämpfte. Und mit jedem Schritt wurde seine Angst stärker und sein Magen krampfte sich immer mehr zusammen.
Maleris, Merit und sogar Marek erging es nicht anders. Der Sellag hatte jeden Gedanken an Flucht aufgegeben und stolperte zwar widerwillig, aber doch ergeben hinter dem Menschen her. Sein Herz pochte schmerzhaft gegen seine Brust.
Obwohl nirgendwo etwas Gefährliches zu erkennen war, schien die Bedrohung fast greifbar in der Luft zu liegen. Merit ertappte sich immer häufiger bei der Überlegung, ob er wirklich die richtige Entscheidung getroffen hatte, als er beschlossen hatte, den Wald zu durchqueren. Doch er schob diesen Gedanken beiseite. Sie hatten keine Zeit, um den langwierigen Umweg zu gehen. Außerdem wollte er sich nicht von Geschichten und Erzählungen beeindrucken lassen. Wenn man genau hinsah, gab es keinen Anlass zur Furcht. Alles wirkte friedlich, wenn auch ungewöhnlich und dunkel.
»Warum warst du gestern Nacht, nachdem wir Olog gesehen haben, so seltsam?« begann Merit nun endlich ein Gespräch, einerseits, weil er sich selbst von seinen unangenehmen Gedanken ablenken wollte, andererseits, weil ihn diese Frage seitdem beschäftigte.
Maleris hob den Blick, den sie bisher fest auf den Boden gerichtet hatte, da Merit sie bereits zweimal vor einem Sturz bewahren musste, und sah ihren Bruder an. Sie entschloss sich, es ihm zu sagen, obwohl sie es bisher nicht hatte tun wollen. Sie befürchtete, ihre Begleiter könnten sie für verrückt erklären. Doch es sollte in ihrer Gemeinschaft keine Geheimnisse geben und so seufzte sie leise und musterte ihren Bruder mit traurigen Augen. »Hast du seinen Anhänger gesehen?«
Merit schüttelte den Kopf. »Nein, welcher Anhänger?«, fragte er verwundert.
»Olog… er hatten eine Kette um seinen Hals mit einem hölzernen Anhänger.« Maleris stockte wieder. Es war tatsächlich schwerer, darüber zu reden, als sie gedacht hatte. Merit beobachtete sie eindringlich und das Mädchen spürte, dass er darauf wartete, dass sie weiter sprach. Aber es kostete sie eine Menge Überwindung. »Ich habe ihn wiedererkannt, Merit. Ich bin mir ganz sicher!«, stieß sie hervor.
Merits Blick zeigte noch immer kein Verstehen, ganz im Gegenteil. Er blickte nun noch verwirrter drein. »Wen hast du wieder erkannt? Olog?«, hakte er nach, begierig darauf, das Geheimnis endlich zu lüften.
»Nein, Merit«, erwiderte Maleris unwirsch. Sie wollte, dass es endlich vorbei war. Es schmerzte zu sehr. »Den Anhänger. Er gehörte meinem Vater.« Jetzt war es heraus.
Merit blieb wie vom Donner gerührt stehen und blickte Herras an, der mittlerweile seine Schritte ein wenig verlangsamt hatte, sodass die beiden Waldmenschen zu ihm aufgeschlossen waren. Interessiert hatte er ihre Unterhaltung verfolgt. Verblüffung stand Merit und Herras nun ins Gesicht geschrieben. »Was hast du gesagt?«, fragte Herras, der nicht glauben konnte, was er gehört hatte.
Maleris war noch ein paar Schritte weiter gegangen und drehte sich nun zu den beiden und dem am Boden kauernden Sellag um.
»Ich habe gesagt, dass der Anhänger, den Olog an seiner Kette um den Hals trug, derjenige ist, den mein Vater stets getragen hat«, erklärte sie noch einmal ungeduldig. Sie wünschte sich nichts mehr, als dass dieses Gespräch endlich beendet war.
»Und wie, meinst du, ist Olog in den Besitz des Anhängers gekommen?«, fragte Merit, als er sich wieder gefangen hatte.
Maleris zuckte mit den Schultern. »Woher soll ich das wissen?«
»Vielleicht hat er deinen Vater getötet und ihn gefressen«, warf Herras ein und wusste im selben Moment, dass es kein guter Einfall gewesen war. Maleris verzog angewidert das Gesicht.
»Das kann ich mir nicht vorstellen.« entgegnete Merit überzeugt. »Er hat unseren Stamm so viele Jahre begleitet und niemandem etwas zuleide getan. Ich glaube nicht, dass er so etwas Böses tun könnte.«
»Aber wie soll er dann in seinen Besitz gelangt sein?«, fragte Herras.
Maleris schüttelte unwillig den Kopf. »Ich weiß es nicht! Und ich möchte nun auch nicht mehr darüber sprechen!« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich wollte sowieso nicht darüber sprechen, denn ich wusste, dass es keinen Sinn haben würde. Wir werden es womöglich nie herausbekommen. Vielleicht sehen wir Olog sogar niemals wieder. Und vielleicht wäre das auch besser so.« Mit diesen Worten drehte sich Maleris um und ging festen Schrittes voraus.
Herras, Merit und der Sellag sahen ihr nach.
»Wahrscheinlich hat sie sogar recht«, brummte der Sellag, aber die beiden Männer beachteten ihn nicht. Dann zerrte Herras an seinem Riemen und sie gingen, jeder seinen Gedanken und Spekulationen nachhängend, weiter.