Читать книгу Allendas - Nadine T. Güntner - Страница 25
Hondor VII
Оглавление»Du solltest dich bereitmachen«, zischte Kalerid dem zusammengesunkenen Rofin zu, der sich dicht an den aufgewühlten Berg kauerte und damit beschäftigt war, mit seinem Schicksal zu hadern. »Ich werde nicht mehr lange warten. Wir haben bereits mehr als genug Zeit verschwendet.«
Als hätte er nur auf sein Stichwort gewartet, trat Hondor aus den Schatten der Höhle hinaus ins Tageslicht. Rofin erlaubt sich ein erleichtertes Aufatmen und die anderen umstehenden Sellag stießen überraschte Laute aus, als sie ihn erblickten. Kalerid fuhr herum und für einen Augenblick erstarrte er. Er blickte verwundert auf die Kette in seinen Hände, sie hatte sich kein Stück bewegt, geschweige denn nachgegeben. Dann sah er wieder auf Hondor und dessen zertrennte Fesseln. Schnell fand Kalerids seine Fassung wieder, auch wenn es nicht von langer Dauer sein sollte.
»Wie kommst du dazu...!«, fuhr er den Menschen an, kam aber nicht dazu, seinen Satz zu beenden. Hondor trat einen Schritt zur Seite und ein wissendes Lächeln umspielte seine Lippen.
Zorina und Usadim waren, wie auch die meisten der Sellag, aufgesprungen, so, als spürten sie schon, dass nun etwas Unerwartetes geschehen würde. Ob es Instinkt war, oder ob es an dem so selbstsicheren Ausdruck in Hondors Gesicht lag, vermochten sie nicht zu sagen, aber sie bemerkten, dass auch die Sellag unruhig wurden.
Dann kam er. Zuerst streckte er nur seinen breiten Schädel durch die schmale Öffnung, dann folgte auch der Rest des massigen Körpers. Seine Schuppen glänzten prächtig im Sonnenlicht. Als er den Tunnel verlassen hatte, breitete Toranus seine Flügel aus. Das ließ ihn noch beeindruckender wirken. Giftgrüner Rauch trat in dicken Wolken aus seinen großen Nasenlöchern aus und als er sein Maul öffnete und Einblick in seinen riesigen Rachen gewährte, erschütterte ein markdurchdringender Schrei die Erde um die Anwesenden.
An einen Augenblick des Schreckens und des sprachlosen Staunens schloss sich Entsetzen an. Um die ohnehin spärliche Disziplin der Sellag war es nun endgültig geschehen. Wild rannten sie durcheinander, fielen gegen- und übereinander, als sie in der schlammigen Erde ausrutschten. Sie behinderten sich immer mehr gegenseitig, während jeder von ihnen versuchte, fauchend und knurrend, so schnell wie möglich, das Weite zu suchen. Rofin war bereits verschwunden. Flink und von blinder Angst getrieben, hatte er sich in die Herde verschreckter Sellag geschlängelt und die Flucht ergriffen.
Kalerid versuchte, mit lautem Gebrüll und wilden Drohungen, seine Krieger wieder zur Ordnung zu rufen, während der Drache alles tat, um das Gegenteil zu bewirken. Mit schweren Schritten hatte sich Toranus bereits in die Mitte der aufgebrachten Sellag begeben und schwenkte nun seinen kräftigen Schwanz, mit dem er sie nun mühelos reihenweise von den Beinen holte. Zusätzlich machte er sich einen Spaß daraus, seinem Rachen kleinere und größere Stichflammen entweichen zu lassen und den Sellag damit die letzten wenigen Haare auf ihren kahlen Schädelplatten zu versengen. Den Flüchtenden wurde immer heißer unter ihrer hornigen Haut. Hin und wieder ergriff der Drache mit seiner Pranke eine der Kreaturen und schleuderte sie einige Male umher, um ihr mehrere Barret entfernt eine unsanfte Landung zu bescheren.
Kalerids Bemühungen stießen bei seinen Untergebenen auf taube Ohren. Nur wenige, um genau zu sein achtzehn, ließen sich von ihm wieder zur Ruhe bringen und scharten sich um ihren Anführer, der ein Stück entfernt mit gezücktem Schwert die Stellung bezogen hatte. Angestrengt überlegte er, wie er diesem Untier und der unerfreulichen Wendung, die es mit sich gebracht hatte, Herr werden konnte. Er war keineswegs bereit, seine Position oder den Schatz aufzugeben.
Dann ließ er seine wenigen treuen Anhänger eine v-förmige Aufstellung beziehen. Gemeinsam wagten sie sich Stück für Stück näher an den Drachen heran.
Toranus musste beinahe lächeln, als er die kleine, aber offensichtlich entschlossene Gruppe auf sich zukommen sah. Beiläufig ließ er den Sellag, der jammernd zwischen seinen Krallen hing, fallen und machte es seinen Angreifern ein wenig leichter, indem er ihnen etwas entgegen kam.
Kalerid und seinen Begleitern wurde es sichtlich unwohl, als sie dem Drachen nun direkt in die Augen blicken konnten. Der Wunsch, zu flüchten, wurde immer stärker, doch sie kam gar nicht mehr dazu, ihn sich zu erfüllen.
Pfeilschnell schwenkte Toranus seinen schuppigen Schwanz und warf mit einem einzigen Schlag eine ganze Traube Sellag zu Boden. Den anderen nahm er mit einer erneuten Stichflamme den letzten Rest Mut. Ehe Kalerid sich versehen konnte, blieb er allein zurück. Nur noch der Geruch von angekohltem Horn lag in der Luft.
Trotzdem, so schnell war Kalerid nicht bereit, klein beizugeben. Nicht umsonst war er der Heerführer seines Volkes (wenn man einmal von der Erbfolge absah, die ihm zugute gekommen war). Wutentbrannt und mit zornig funkelnden Augen schwang er sein Schwert und hieb es mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, in das Bein des Drachen, bevor dieser Gelegenheit bekam, zu erkennen, was geschah. Die glänzenden Schuppen splitterten und das Schwert fuhr tief in das darunter verborgene Fleisch. Vor Überraschung und durch den Schmerz, der ihn durchfuhr, fauchte Toranus kurz auf. Dann drehte er sich um, wobei das Schwert, das der Heerführer noch immer umklammert hielt, abbrach und Kalerid auf den Rücken fiel, das Heft noch immer in der Hand haltend. Der Drache fixierte ihn mit seinem stechenden Blick. Das Feuer, das er spie, verfehlte den Sellag nur knapp, als dieser blitzschnell auf die Beine kam. Toranus bekam ihn nicht mehr zu fassen, als der Heerführer sich umdrehte und so schnell, wie er auf allen Vieren konnte, davon hetzte.
Kalerid war zwar ein Sellag, dem es schwer fiel, eine Niederlage einzugestehen, aber er liebte sein Leben. Vielleicht war es sogar das Einzige, was er außer Macht (und seit Neuestem auch Reichtum) in seinem Leben liebte und er war schlau genug, zu wissen, wann es an der Zeit war, sich aus einer Schlacht zurückzuziehen. Doch seinen Schatz hatte er noch lange nicht aufgegeben und er würde wieder zurückkehren, sobald er einen neuen Plan hatte.
Toranus schaute Kalerid verwundert hinterher. Er hatte nicht erwartet, dass ein so plump wirkendes Geschöpf so schnell laufen konnte. Nun waren kein Sellag mehr auf dem ausgetretenen Platz vor dem Eingang der Höhle zurückgeblieben. Zumindest keine, die noch am Leben waren. Ein paar der Wachen hatten den unsanften Schlag des Drachenschwanzes nicht überlebt, zwei andere waren unter die Drachenklauen geraten und hatten dadurch ihr Leben verloren.
Der Schmerz in seinem Bein behinderte Toranus, aber er war erträglich. Vorsichtig zog der Drache das abgebrochene Schwert aus seiner Wunde und erhob sich dann, ohne langes Zögern, und mit eleganten Flügelschlägen in die Luft und folgte den Sellag. Er hatte noch keine Lust, die Schlacht enden zu lassen.
Als sich der Drache in die Luft erhoben hatte, gab Hondor seine Deckung, die er sich an den aufgewühlten Hängen des Paratuls gesucht hatte, auf und rannte hinüber zu Zorina und Usadim, die hinter einem der letzten verbliebenen Sträucher Schutz gesucht hatten.
Erschöpfung und Müdigkeit waren vergessen, angesichts der unerwarteten Wendung, die ihnen das Schicksal gewährt hatte. Hondor überwand die gut fünfzig Barret, die ihn von seinen Gefährten trennten, mit fliegenden Schritten.
»Wir müssen hier weg!«, rief er ihnen zu, und musste sich beinahe zwingen, einen Augenblick bei ihnen zu verweilen. Er verspürte den Drang, einfach weiterzulaufen, soweit ihn seine Füße tragen würden. Sie durften diese Gelegenheit nicht ungenutzt lassen.
Doch Zorina und Usadim lösten sich nur widerstrebend aus ihrem schützenden Versteck. Zwar hatten sie schnell erkannt, dass der Drache (es erschien ihnen noch immer unbegreiflich, dass es sich wirklich um einen Drachen gehandelt hatte, der dort aus dem Dunkel aufgetaucht war), es nur auf die Sellag abgesehen hatte, aber sie waren noch nicht davon überzeugt, dass wahrhaftig alle Sellag das Weite gesucht hatten.
»Sind denn wirklich alle fort?«, fragte Zorina ungläubig, als sie zögernd über die Äste des Strauches spähte. Sie konnte von ihrer Position aus nicht den ganzen Platz überblicken.
»Ja, sie sind alle geflüchtet«, erwiderte Hondor drängend. »Und das sollten wir auch tun, solange noch Zeit dafür ist.«
Der König war bereits ein paar Schritte weiter gelaufen und seine beiden Gefährten kamen nun auch endlich auf die Beine. Ohne lange nachzudenken, wandten sie sich nach Norden.
»Lauft!«, rief Hondor den anderen Gefangenen zu, an denen sie vorbeikamen. »Lauft, so schnell ihr könnt!«
Die Meisten hätten diese Aufforderung gar nicht benötigt. Obwohl sie sich zuvor kaum auf den Beinen halten konnten, hatte sich dies nun schlagartig geändert. Viele waren bereits geflüchtet und auch die Letzten liefen nun, von neuer Hoffnung beflügelt und so schnell es ihre Fesseln erlaubten, davon.
Gerne hätte Hondor alle Gefangenen zusammengehalten, anstatt sie allein oder in kleinen Gruppen ihrem Schicksal überlassen zu müssen, aber er wusste, dass das ganze Land von Sellag belagert war. Es würde schon schwer sein, allein unentdeckt durchzukommen, wohin auch immer, aber als Gruppe wären sie zu zahlreich gewesen, um unentdeckt zu bleiben, aber auch zu wenige, um sich gegen die Sellag behaupten zu können. So blieb dem König nichts anderes übrig, als seinen Untertanen im Stillen Hembras’ Segen zu wünschen und sich auf sein eigenes Ziel zu konzentrieren, von dem er noch nicht einmal wusste, was es sein mochte.
Zorina und Usadim folgten ihrem König mühsam. Ihre Fußfesseln machten ihnen das Laufen schwer und durch die Handfesseln hatten sie Schwierigkeiten, das Gleichgewicht zu halten. Immer wieder musste Hondor stehen bleiben, um ihnen Gelegenheit zu geben, zu ihm aufzuschließen.
Er sah sich kurz suchend um. Kurena war nirgendwo zu sehen. Eigentlich war es ihm auch gleichgültig, dennoch wunderte er sich, gerade in diesem Moment an sie denken zu müssen, hatte er sie doch in den letzten Tagen nur wenige Male gesehen. Hembras, oder mit welchen Mächten Kurena auch immer im Bunde stand, würde ihr wohl das passende Schicksal bescheren.
Während Hondor diesen knappen Gedanken nachging, bemerkte er nicht, wie Zorina sich zu Boden bückte und etwas aufhob, was dort zwischen Schlamm und Schmutz völlig fehl am Platz zu sein schien. Sie ließ es in ihre Tasche verschwinden, ohne selbst lange darüber nachzudenken, warum sie es tat. Es schien ihr einfach von Bedeutung zu sein.
Kalerid hetzte mit hängender Zunge die kurvige Hohlstraße Richtung Zurnam hinunter. Mittlerweile hatte er bereits die ersten seiner Wachen eingeholt. Der dunkle Schatten des Drachen, der über ihn hinweg glitt, begleitete ihn. Einige Male senkte sich Toranus auf ihn hinab und versuchte, ihn zu erwischen, aber Kalerid schlug geschickte Haken und so gelang es ihm immer wieder, sich den Klauen des Drachen zu entziehen.
Toranus sah darin jedoch keinen Grund zur Sorge, er konnte dem Sellag mühelos folgen.
In kürzester Zeit, zumindest im Vergleich zu der, in der man unter gewöhnlichen Umständen diesen Weg zurücklegte, erreichte Kalerid das Stadttor von Zurnam und dort erwartete ihn und Toranus eine erfreuliche oder eher unerfreuliche (das kommt ganz darauf an, von wessen Standpunkt man es sehen will) Überraschung. Eine große Anzahl von Sellag hatte sich vor und auf dem Stadttor versammelt. Alle waren mit langen Speeren und Schwertern bewaffnet und sie schienen schon auf ihren Heerführer und seinen Verfolger zu warten. Bereitwillig machten sie eine Gasse frei und ließen Kalerid hindurch in die Stadt. Sobald er das Stadttor durchquert hatte, verharrte der Heerführer und atmete schwer.
Toranus verlangsamte seinen Flug und wunderte sich über das, was er sah. Er beobachtete die schreiende und fauchende Meute unter sich und begann nachzudenken. Letztendlich kam er zu dem Schluss, dass er gegen diese wilde Sellag-Horde nicht ankommen würde. Es waren zu viele, sie standen dicht beieinander und ihre Waffen waren lang und massiv. Bedauernswerterweise sah er in ihren Gesichtern auch nicht den Ausdruck von Entsetzen und Furcht, den er zuvor so genossen hatte. Vielmehr wirkten sie entschlossen und vorbereitet. Verdrossen drehte der Drache einige Runden. Es gefiel ihm gar nicht, aber er musste sich vorerst geschlagen geben. Wenn er sich jetzt auf den Boden niederlassen würde, würden sie sich auf ihn stürzen und er wäre ihnen trotz seiner Größe und seiner Stärke unterlegen. So entschloss er sich, den Rückzug anzutreten. Zumindest hatte er seine Aufgabe bis hierher erfüllt. Er hatte den Menschen die Gelegenheit zur Flucht ermöglicht und seinen Schatz verteidigt. Er drehte einen letzten eleganten Bogen über den Sellag, gewann dann an Höhe und flog zurück zu seinem Hügel.
Die Sellag jubelten und freuten sich über ihren vermeintlichen Sieg, zu dem sie eigentlich nicht viel beigetragen hatten. Einige warfen ihre Speere in die Höhe, erreichten den Drachen aber nicht annähernd. Dabei wären sie allerdings fast von ihren eigenen Waffen erschlagen worden.
Hinter Kalerid schloss sich das Stadttor. Aus der Wachkammer innerhalb des, aus grauen, grob behauenen Steinen errichteten Torbogens 10), trat der Statthalter Perlug auf ihn zu.
»Ich hoffe, Ihr seid zufrieden mit dem, was ich für Euch arrangieren konnte, Majestät«, sagte Perlug und Kalerid konnte Selbstzufriedenheit in seinen Augen erkennen.
Der Atem des Heerführers hatte sich wieder beruhigt und Kalerid richtete sich zu seiner vollen Größe auf, um die Würde auszustrahlen, die seiner Position angemessen war. Schließlich hatte es keinen besonders guten Eindruck gemacht, als er sich feige hinter die Reihen seiner Soldaten geflüchtet hatte. Aber ein Kalerid würde niemals den Fehler machen, so etwas einzugestehen, vor allem nicht vor jemandem, der ihm untergeben war.
»Ja, es hat seinen Zweck durchaus erfüllt«, erwiderte er herablassend. »Nur sag mir, wie hast du von unserer misslichen Lage erfahren?«
»Euer Lakai kam in die Stadt und hat Alarm geschlagen«, erklärte Perlug und Rofin trat seitlich hinter ihm hervor, sodass er sich erst jetzt in Kalerids Blickfeld schlich.
Kalerid knurrte zufrieden. »Sehr gut, Rofin.« Kalerid sprach selten ein Lob aus und wenn, dann tat er es nur sehr ungern, vor allem, wenn dadurch seine eigenen Fehler deutlicher zum Vorschein kamen. »Zum gegebenen Zeitpunkt werde ich dich dafür entlohnen.«
»Ich habe nur meine Pflicht getan, Majestät.« Rofin senkte ergeben den Kopf und ließ sich durch nichts anmerken, dass auch er mit sich zufrieden war.
Für Kalerid war die Angelegenheit damit erledigt und er ordnete seinen sehr in Mitleidenschaft gezogenen Umhang. Zwar konnte man den Ausgang des Vorfalls als glücklich bezeichnen, aber sein gesamtes Vorhaben hatte dadurch einen herben Rückschlag erlitten.
»Zeig mir das Quartier, das du für mich hast herrichten lassen!«, befahl er Perlug und trat unter dem Torbogen hervor. »Es wird Zeit, dass ich meine Pläne neu überdenke.«
Als Toranus zum Paratul zurückkehrte und sich auf dem bemitleidenswerten Hügel zwischen Erdhaufen und langsam trocknenden Schlammlöchern niederließ, waren Hondor und seine Begleiter schon ein gutes Stück entfernt. Auch die anderen Menschen waren, wenn überhaupt, nur noch als kleine, sich bewegende Punkte in der Ferne zu erkennen, als es sich der Drache auf dem Paratul bequem machte und die wärmenden Strahlen der Sonne genoss. Er konnte, obwohl der Hügel nicht besonders hoch war, vom Paratul aus fast ganz Elland überblicken, denn der Landstrich war eben und es gab nur wenige kleine Tannenhaine, die ihm den Blick versperrten.
Es hatte sich kaum etwas verändert, seit er das letzte Mal Tageslicht gesehen hatte, stellte der Drache fest. Südlich von ihm, viele tausend Barret entfernt, konnte er Alland Pera als schemenhafte Umrisse erkennen. Der Hügel, auf dem sich die Hauptstadt befand, überragte den Paratul und die umliegenden Wälder um einiges. Die Türme des prächtigen Schlosses zeichneten sich am Horizont ab und waren nun, nach einem starken Regen, vom Dunst eines schönen Herbsttages umgeben.
Westlich von ihm, nahe am Hügel, lagen Zurnam und der Hohlweg, der von dort zum Paratul und in einem sanften Bogen daran vorbeiführte und gut zu überblicken war. Toranus würde sein Augenmerk hauptsächlich darauf richten müssen, denn ihm war klar, dass sich die Sellag nicht so einfach von seinem Schatz vertreiben lassen würden.
Im Norden, der Blick darauf wurde durch eine Schneise im größten Wald Ellands, dem Mirn-Wald, freigegeben, lag etwa achthundert Barret entfernt das kleine Dorf Brugen. Mit dem Mirn-Wald und Brugen fühlte sich Toranus auch nach all den Jahrhunderten noch immer besonders verbunden. In einer Höhle inmitten dieses hellen und freundlich anmuteten Waldes war er vor unzähligen Jahren aus seinem Ei geschlüpft. Vom ersten Moment an war er auf sich selbst gestellt gewesen 11). So schlug sich Toranus 12) alleine durch, bis eines Tages Pillon, ein Bauer aus Brugen, durch Zufall auf ihn gestoßen war und schnell die Außergewöhnlichkeit und das friedliche Gemüt dieses besonderen Wesens erkannt hatte. Er hatte den kleinen Drachen mit zu sich nach Hause genommen und in seinem Stall untergebracht. Der Bauer und seine Familie waren gut zu ihm gewesen. Sie hatten ihm seinen Namen gegeben, und Toranus hatte sich stets wohl bei den Menschen gefühlt. Bald waren auch die besonderen Talente des kleinen Drachen zum Vorschein gekommen. Zur Überraschung aller hatte er bald die Sprache der Menschen erlernt und so wurde deutlich, dass er nicht nur ein besonderes, sondern auch ein intelligentes Wesen war. Er wuchs stetig und war bald zu einer großen Hilfe für den Bauern und auch für die anfangs argwöhnischen Dorfbewohner geworden. Der Drache hatte nicht nur eine Bereicherung für das Leben aller dargestellt, er hatte auch durch seine Größe, Kraft und Ausdauer ihre Arbeit erleichtert.
Dann eines Tages, Pillon war bereits viele Jahre Tod und seine Enkel hatten seinen Hof weitergeführt, waren die Fremden über das Meer gekommen und hatten sich auf heimtückische und hinterhältige Weise Allendas bemächtigt. Als die Situation immer ernster wurde und das ganze Land bereits eingenommen worden war, war Brugen das einzige Dorf, das nicht von den Fremden belagert werden konnte, denn Toranus hatte es tapfer verteidigt. So hatte der Drache all die Jahre der Belagerung verhindern können, dass Brugen eingenommen wurde und die Dorfbewohner waren ihm von Herzen dankbar dafür. Als dann Helaras mit seinen Truppen von Norden gekommen war und niemand diese plötzliche Unterstützung und Erlösung erwartet hatte, kam es auch in Brugen zu großen Verlusten, denn die Schlacht war gerade in Elland besonders hart gewesen. Die Eindringlinge hatten Zurnam besonders hartnäckig verteidigt, doch letztendlich hatte Helaras den Sieg davontragen können. Er hatte unter großem Jubel den Thron von Allendas bestiegen und Toranus gebeten, die Bewachung des Schatzes Muteral, gegen den Helaras einen großen Unmut gehegt hatte, zu übernehmen. Dieser hatte eingewilligt, auch wenn er sich nicht hätte träumen lassen, dass seine Aufgabe so eine lange Zeit in Anspruch nehmen würde.
Toranus seufzte, angesichts all dieser schönen und traurigen Gedanken und bettete seinen großen Kopf auf seine verschränkten Vorderpfoten, den Blick fest auf den Weg nach Zurnam gerichtet. Er überlegte, ob es Pillons Hof wohl noch immer gab und ob er noch immer von seinen Nachkommen geführt wurde. Er entschloss sich, Brugen einen Besuch abzustatten, sobald die Situation geklärt sein würde. Als er an die vergangenen Stunden dachte, fiel ihm auf, wie sehr ihn das Verhalten der Sellag an das Gebaren der früheren Eindringlinge erinnerte und er schloss daraus, dass wohl alle bösen Lebewesen gleich waren. Aber er hatte es damals geschafft, sich erfolgreich zu verteidigen und es würde ihm auch diesmal wieder gelingen.
Hondor, Zorina und Usadim liefen, ohne noch einmal zurückzuschauen, über die dicht bewachsene, grüne Wiese. Die Fesseln machten Zorina und Usadim das Laufen schwer und sie hatten Mühe, voran zu kommen. Weit und breit war kein anderer Gefangener mehr zu sehen. Alle schienen andere Wege gewählt zu haben.
Erst als sie den Rand der Schneise, die den Mirn-Wald teilte, erreicht hatten, blieben sie, verborgen hinter den ersten Bäumen, stehen, um nach Atem zu ringen. Sie blickten noch einmal zurück und konnten den Paratul und den Drachen, der sich darauf niedergelassen hatte, erkennen.
»Meint ihr, wir können ihn dort allein lassen, Majestät?«, fragte Zorina, als sie wieder ein wenig zu Atem gekommen war und deutete in Richtung des Drachens.
»Ich bin sicher, er kann auf sich aufpassen.« erwiderte Hondor zuversichtlich.
»Hembras muss ihn geschickt haben«, fügte Usadim schnaufend hinzu. »Wer weiß, was die Sellag uns angetan hätten, wenn sie unsere Arbeit nicht mehr benötigt hätten.«
Keiner der drei wollte sich vorstellen, was wohl mit ihnen geschehen wäre, wenn die Sellag ihren Schatz bekommen hätten und sie verzichteten darauf, es sich auszumalen.
»Er verdient wirklich unseren Dank.« sagte Usadim nach einem Moment.
Hondor nickte zustimmend. »Ich werde ihn für seine Hilfe entlohnen, sobald es mir möglich ist. Obwohl ich nicht weiß, womit man eine solche fleischgewordene Sagengestalt belohnen kann.«
»Es wird sich bestimmt etwas Entsprechendes finden«, meinte Zorina und fügte dann neugierig hinzu: »Ich möchte zu gern wissen, was in der Höhle geschehen ist.« Sie war wirklich gespannt darauf, zu erfahren, wie es zu dieser erfreulichen Wendung der Dinge gekommen war.
»Das werde ich Euch alles berichten«, versprach Hondor. »Nur jetzt haben wir keine Zeit dazu. Wir sind noch lange nicht in Sicherheit.«
»Aber wohin sollen wir gehen?«, fragte Usadim besorgt. »Das ganze Land ist von diesen Kreaturen befallen. Es wird keinen Ort geben, an dem wir sicher sind.«
»Vielleicht doch«, antwortet Hondor mit einem hoffnungsvollen Funkeln in den Augen. »Ich habe gehört, wie zwischen den Sellag der Name Bernam fiel. Zwar konnte ich nicht verstehen, was sie sagten, aber die Laute und Gesten ihres Anführers ließen mich zu dem Schluss kommen, dass es ihnen noch nicht gelungen ist, das dortige Kloster zu besetzen. Es liegt weit im Norden, mitten im Rorgan-Wald und ist gut befestigt. Vielleicht können wir uns bis dahin durchschlagen und dort Unterschlupf finden, bis uns etwas einfällt, wie wir die Sellag bekämpfen können.«
Hondor kannte das Bernam-Kloster. Zwar war er noch nie selbst dort gewesen, aber er hatte bereits viel darüber gehört, vor allem aus den Erzählungen seines Vaters. Harus hatte, wie viele Könige vor ihm, während der Zeit seiner Herrschaft mehrmals das Kloster besucht, um dort Ruhe und Besinnung zu finden und Rat für seine Entscheidungen bei den belesenen und weisen Mönchen einzuholen. Zudem waren auch die Mönche einige Male nach Allendas gekommen, um dort ihre Geschäfte abzuwickeln, wobei sie stets bei ihrem König vorgesprochen hatten. Hondor war immer beeindruckt von den diszipliniert und Ehrfurcht einflößenden Dienern Hembras’ gewesen und es erstaunte ihn nicht, dass sie in der Lage gewesen waren, sich den Eindringlingen zu widersetzen. Zudem war das Bernam-Kloster eine große und gut geschützte Festung. Sie war von den alten Königen gebaut worden, um sich gegen Feinde aus dem Norden zu verteidigen und im Kampf gut zu halten.
»Aber es ist ein weiter Weg bis in die nördlichen Wälder«, gab Zorina zu bedenken. »Wie sollen wir es bis dorthin unentdeckt schaffen?«
»Es ist unsere einzige Chance.« Hondor zuckte kurz mit den Schultern. Er gab vor, ruhig zu sein, aber natürlich hatte er sich auch bereits seine Gedanken darüber gemacht. »Wenn wir uns fernab von allen Straßen und Siedlungen halten, wird es schon irgendwie gelingen.«
»Wir werden nicht sehr schnell mit unseren Fesseln vorankommen«, warf Usadim nun ein.
»Allerdings!«, stimmte Zorina ihm zu. Sowohl ihre als auch Usadims Hand- und Fußgelenke waren bereits wund und blutig gescheuert und auch Hondor wurde, wenn auch die Ketten durchtrennt waren, noch immer von den dicken Eisenringen um seine Gelenke behindert.
»Dort hinten befindet sich ein Dorf. Ich konnte es vorhin durch die Schneise sehen.« Zorina deutete in Richtung des kleinen Ortes Brugen, der nun von Bäumen verdeckt wurde. Natürlich hatten auch Hondor und Usadim zuvor die hübsch mit Stroh gedeckten Dächer gesehen, die in der Sonne dunkelgelb geleuchtet hatten.. »Vielleicht können wir dort eine Möglichkeit finden, die Ketten loszuwerden.«
»Aber es ist zu gefährlich, uns jetzt, am helllichten Tag, in eine besetzte Ortschaft zu wagen.« Hondor schürzte die Lippen. »Wir müssen warten, bis die Nacht hereingebrochen ist, dann haben wir bessere Voraussetzungen, nicht entdeckt zu werden.«
Zorina und Usadim nahmen Hondors Entscheidung ohne Widerworte an. Sie entschlossen sich, tiefer in den Wald hineinzugehen und dort auf die Dunkelheit zu warten. Es war früher Nachmittag und es würden noch gut viermal fünfzig Kils verstreichen, bis die Nacht hereinbrechen würde.
Als sie schließlich gemeinsam auf dem laubbedeckten Waldboden saßen und sich an einen dicken Baum lehnten, fielen Zorina schnell die Augen zu. Auch Hondor wurde bald von der Erschöpfung übermannt und ohne es selbst zu bemerken, schlief er ein. So übernahm Usadim mehr oder weniger freiwillig die erste Wache für seine beiden Gefährten.
10) Die Befestigungsanlage, die Zurnam umschloss, stammte noch aus der alten Zeit. Neben Alland Pera und Zurnam besaßen nur wenige Orte in Allendas Stadttore und -mauern. Da sich in Zurnam stets viele Händler mit ihren Waren aufhielten, war man um ihre Sicherheit besorgt.
11) Drachen waren bekanntermaßen niemals besonders gute Eltern. Sie legten ihre Eier in versteckten und gut geschützten Höhlen ab und überließen sie dann ihrem Schicksal.
12) Selbstverständlich hatte er diesen Namen zu dieser Zeit noch nicht, denn wie sollte ein völlig allein lebendes Wesen auf den Gedanken kommen, sich selbst einen Namen zu geben, geschweige denn wissen, was ein Name überhaupt ist.