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Herras VII

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Herras schreckte aus seinem Schlaf auf, als ein heiseres, lautes Krächzen die Stille der Nacht durchbrach. Sein Atem begann sich zu beschleunigen und sein Herz schlug schneller, als er eilig unter seiner Decke hervor kroch und nach seinem Schwert griff. Ein weiterer Schrei schallte durch die Dunkelheit und Herras wurde plötzlich bewusst, von welchem Wesen er stammte - Olog.

Mit einem leisen Stöhnen ließ er sich wieder zurücksinken. Vor seinen Augen tauchten die letzten Erinnerungen an den Albtraum auf, der ihn gequält hatte, bevor sein Schlaf unterbrochen worden war. Er hatte von Allendas und dem Schicksal des Landes geträumt. Herras schüttelte den Kopf, um die hässlichen Bilder abzustreifen und blickte hinüber zum Eingang des Turmes, durch den silbernes Mondlicht hereinfiel und den Innenraum matt erhellte. Dort saß Merit und musterte ihn verwundert.

»Alles in Ordnung?«, fragte der Waldmensch.

Herras Atem beruhigte sich langsam wieder. »Alles bestens!«, erwiderte er und lächelte, zumindest bemühte er sich. »Nur ein Albtraum.«

Merit nickte verstehend und schaute wieder nach draußen. Seine Aufmerksamkeit schien etwas anderem zu gelten. »Olog ist da«, sagte er, während er mit seinen Augen die Dunkelheit durchstreifte.

»Und er scheint näher zu sein, als jemals zuvor«, erklang plötzlich die Stimme von Maleris hinter Herras. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass auch sie erwacht war. In ihren großen, mandelförmigen Augen glitzerte das silberne Licht des Mondes. »Noch nie waren seine Rufe so laut.«

»Trotzdem kann ich ihn nicht sehen.« In Merits Stimme war Niedergeschlagenheit zu hören. »Ich wünschte, ich könnte ihn nur einmal in meinem Leben erblicken.«

Herras und Maleris krochen unter ihren Decken hervor und gesellten sich zu ihm. Schweigend durchforsteten ihre Augen die Nacht, doch Olog war nirgendwo zu sehen.

Herras fröstelte, als er die Ruinen um sich herum betrachtete. Im Schein des Mondes hatten sie etwas Unheimliches und Unwirkliches an sich, boten ein Zusammenspiel von Licht und Schatten, das unzähligen Gefahren Unterschlupf bieten konnte. Als Herras nach Norden schaute, verlor sich sein Blick in der undurchdringlichen Schwärze des Tannenwaldes, der dort an die verfallenen Mauern angrenzte. Plötzlich hatte er das Gefühl, dass sich das Böse, von dem er den Eindruck hatte, dass es seit Anbruch der Nacht über der Ruine lag, von dort herankroch.

»Warum ist euer Stamm nie über diesen Ort hinaus und weiter nach Norden gezogen?«, fragte Herras plötzlich unverwandt und durchbrach damit das Schweigen zwischen den drei Weggefährten. Die Frage brannte bereits seit einiger Zeit auf seiner Seele.

»Weil dort der Togos, der schwarze Wald, liegt«, entgegnete Merit und als er Herras in die Augen sah, meinte der Mensch darin einen merkwürdigen Ausdruck zu erkennen, mit dem er nichts anfangen konnte. »Keiner der südlichen Stämme ist jemals weiter nach Norden gezogen, als bis zu diesem Punkt und keiner der nördlichen Stämme ist weiter nach Süden gekommen, als bis zum gegenüberliegenden Rand dieses Tannenwaldes«, erklärte der Waldmensch weiter. »Nur wenige Wanderer nehmen den Weg auf sich, den Wald zu umgehen, und hin und wieder einige Jäger.« fügte Maleris hinzu. »Hinein hat sich nur sehr selten jemand gewagt.«

Herras konnte seinen Blick nicht von der tiefen Schwärze abwenden. Der Tannenwald, Togos, wie ihn Merit nannte, schien nun einen völlig anderen Charakter zu haben. Das Böse wurde stetig greifbarer. Herras schluckte trocken.

»Warum wagt sich niemand in diesen Teil des Waldes?«, fragte er vorsichtig weiter und war sich nicht sicher, ob er die Antwort überhaupt hören wollte.

»Weil es der schwarze Wald ist«, entgegnete Merit wie selbstverständlich, doch Herras’ verständnisloser Blick verriet ihm, dass ihm dies nicht genügte. »Er erscheint nicht nur schwarz, auch seine Seele ist es«, fügte er daher hinzu. »Der Wald mag keine Fremden und keine Eindringlinge auf seinem Boden.«

Erneut schallte Ologs Ruf durch die Nacht.

»Und wir werden ihn durchqueren?« Herras verzog das Gesicht. Ihm war es alles andere als wohl bei dem Gedanken. Es erschien ihm, als wollte der Wald ihn schon jetzt davor warnen, auch nur einen Schritt in ihn hinein zu setzen.

»Wir haben keine andere Wahl. Merits Tonfall verriet, dass auch er nicht glücklich darüber war, aber er schien es nicht so schwer zu nehmen, wie Herras. »Den Wald zu umgehen, würde uns einige Tage kosten, denn er reicht fast bis zur östlichen Grenze unseres Landes.«

»Aber so schlimm wird es schon nicht werden.« Maleris hatte Herras’ Unmut bemerkt. »Es sind nur Märchen, die über den Togos erzählt wurden. Man sagt, die Tiere, die darin leben, hätten einen bösen Charakter und es würden magische Wesen in ihm hausen, Hexen und Zauberer. Aber wenn du mich fragst, ist das alles Unfug.« Ihre Worte sollten Herras aufmuntern, sie erzielten allerdings mit unglücklicher Sicherheit genau den gegenteiligen Effekt.

»Wir müssen versuchen, die Richtung zu halten und uns nicht zu verirren. Das ist die einzige Gefahr die ...« Merit beendete seinen Satz nicht. Sein Kopf fuhr herum und er blickte angestrengt hinaus in die Ruine.

»Was ist?«, fragte Herras beunruhigt.

Auch Maleris reckte nun den Kopf.

Merit antwortete nicht sofort. Angespannt starrte er auf einen Punkt, der einige Barret entfernt war.

»Mir war, als hätte ich ein Geräusch gehört… von dort«, sagte der Lemberuske schließlich, als sich seine Anspannung ein wenig gelöst hatte und deutete in Richtung der niedrigen Ruine, die einst die äußere Mauer der Burg gebildet haben musste.

»Es wird wohl ein Tier gewesen sein«, vermutete Maleris.

Merit nickte zustimmend. Schweigen legte sich über die Gruppe und sie hingen ihren Gedanken nach, überlegten, was sie im Togos wohl erwarten mochte.

Wenige Kils später kam Unruhe in die nächtliche Stille der Burgruine. Zuerst durchriss ein erneuter, markdurchdringender Schrei Ologs das unheilvolle Schweigen der Nacht. Der Schrei war um ein Vielfaches lauter, als all die Male zuvor und Merit war mit einem Satz auf den Beinen. Dann stürmte eine graue Gestalt durch die wenigen Bäume, die auf der Lichtung innerhalb der Ruine wuchsen. Bevor Merit erkennen konnte, um wen oder was es sich handelte, sah er auch schon die Verfolger. Der massige Körper zeichnete sich deutlich gegen das Mondlicht. Die Kreatur besaß den Körperbau eines Wolfes, aber seine Größe war die eines ausgewachsenen Bären. Solch eine Kreatur hatte Merit in seinem Leben noch nicht gesehen.

Das Untier verfolgte sein Opfer mit großen Sprüngen und es dauerte nicht lange, da hatte sie es eingeholt und sich darauf gestürzt. Zwei weitere folgten ihm.

Ohne lange zu überlegen, legte Merit seine Armbrust an und sein Pfeil traf das Ungeheuer zwischen die Schulterblätter. Der Aufschlag ließ das Untier für einen Moment innehalten, schien es aber kaum zu beeinträchtigen. Erst, als wenige Augenblicke später ein zweiter Pfeil den Schädel des Ungeheuers durchbohrte, jaulte es ein letztes Mal auf, brach zusammen und begrub sein Opfer unter sich.

Alles ging so schnell, dass Maleris und Herras dem Geschehen kaum folgen konnten. Die anderen Kreaturen hielten in ihrem Lauf inne und erspähten die Menschen. Nun hatten sie ihr neues Ziel gefunden. Zähnefletschend wandten sie sich auf der Stelle um und stürmten auf die Menschen zu. Die erste Bestie brauchte nur wenige Sätze, bis sie Herras erreicht hatte. Der Mensch kam gerade noch dazu, sein Kurzschwert, das er in den Händen hielt, fester zu umklammern, doch er konnte die Starre, die ihn vor Angst überkommen hatte, nicht überwinden. Wie in Trance spürte er, wie ihn die riesigen, mit langen Krallen besetzten Tatzen an der Brust trafen und er rücklings auf den Waldboden prallte. Die Pranken zerfetzten seine Kleidung und rissen tiefe Wunden in seine Haut. Ziellos stach Herras mit seinem Schwert auf das Untier ein, doch es ließ nicht von ihm ab. Verzweifelt versuchte er, die Kehle der Bestie zu treffen; es gelang ihm nicht. Das Untier entblößte seine langen Reißzähne und Herras begann, mit seinem Leben abzuschließen. Obwohl alles nur wenige Augenblicke dauerte, schien sich die Zeit in die Unendlichkeit zu dehnen.

Merit blieb keine Zeit, den Schrecken, der seine Glieder durchfuhr, bewusst wahrzunehmen. Als Herras von dem Ungeheuer angefallen wurde, holte er einen weiteren Pfeil aus dem Köcher an seinem Gürtel und legte erneut an. Er vergeudete nicht mehr Zeit, als unbedingt nötig, um sein Ziel ins Visier zu nehmen. Der Pfeil durchschnitt die Luft mit einem leisen Pfeifen und drang dumpf in den Schädel des Tieres ein. Die Augen des Ungeheuers verloren ihren gefährlichen Glanz und es fiel krachend auf die Seite. Regungslos blieb Herras liegen und rang nach Atem, bis er begriffen hatte, was geschehen war. Dann erst konnte er sich wieder aufraffen.

Währenddessen hatte das andere riesige Wolfswesen Maleris zu seinem Opfer erwählt. Mit gewaltigen Sätzen sprang es auf sie zu und zeigte seine langen Eckzähne. Das Mädchen zögerte nicht, wich dem Monstrum aus und ergriff die Flucht, quer über die Lichtung der Ruine. Leichtfüßig rannte sie über den unebenen Waldboden. Der Wolf brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass ihm sein Opfer entflohen war. Wütend schnaufend schüttelte er seinen massigen Kopf und seine Augen funkelten zornig, als er seinen schweren Körper erstaunlich wendig herumdrehte und die Verfolgung aufnahm. Maleris hatte einen kleinen Vorsprung, den sie jedoch nicht lange halten konnte. Bald konnte sie schon den heißen Atem des Untiers in ihrem Nacken spüren. Eine Wolke schob sich nun vor den Mond, als wollte dieser sich dahinter verstecken. Die Lichtung verdüsterte sich und Maleris fiel es schwer, zu erkennen, wohin sie lief. In diesem Moment tauchte plötzlich, aus der Dunkelheit der Nacht, über ihr ein großer, schwarzer Vogel auf. Maleris konnte seine Schreie hören und den Luftzug spüren, als er niedrig über sie hinweg glitt. Sie blickte über ihre Schulter und sah, wie sich der gewaltige Rabenvogel auf das Wolfswesen stürzte und seine Krallen tief in dessen Fell und die darunter verborgene Haut grub.

»Olog!«, dachte Maleris andächtig, als sie ein Stück entfernt stehen blieb und das Geschehen mit ungläubigen Augen betrachtete. Der Vogel hatte sich tief in dem Nacken des Untiers verkrallt und hieb mit seinem langen Schnabel auf dessen Schädel ein, versuchte seine Augen zu treffen. Der Wolf warf sich fauchend und jaulend hin und her, in dem verzweifelten Bemühen, den Angreifer von sich abzuschütteln. Es gelang ihm nicht.

Hinter ihnen kamen Merit und ein noch immer angeschlagen wirkender Herras herbeigerannt. Der Allendasser stieß einen überraschten Laut aus, als er sah, was dort geschah. Auch Merit war das Erstaunen deutlich ins Gesicht geschrieben, als er noch ein Stück näher herantrat. Und sogar der Mond lugte nun wieder neugierig hinter seiner Wolke hervor. Merit legte seine Armbrust an und zielte. Sein Pfeil traf den massigen Körper des Wolfes zwischen die Rippen. Ein weiter blieb im Hals stecken. Mit einem letzten Aufschrei knickten dem Ungeheuer die Beine unter dem Körper weg und nach einem letzten Zucken blieb es reglos liegen.

Olog ließ von dem toten Wolfswesen ab und breitete seine weiten Schwingen aus. Mit wenigen Flügelschlägen schwang er sich auf einen niedrigen Ast an einem der umstehenden Bäume und blickte auf die Wanderer herab. Seine gelben Augen wirkten beinahe traurig in der Dunkelheit, als er die drei Gefährten musterte, die langsam näher traten und mit ehrfürchtigen Blicken zu ihm aufsahen.

Maleris brachte als Erste ein Wort über die Lippen. »Ich danke dir, Olog. Du hast mir das Leben gerettet«, sagte sie und erstarrte im selben Augenblick, als sie die Kette sah, die der Vogel um seinen Hals trug, und die im Licht des vollen Mondes glitzerte. Sie konnte den Anhänger, der daran hing, nur schemenhaft erkennen, aber es gab keinen Zweifel, denn er war ihr so vertraut wie ihr eigenes Spiegelbild im Wasser eines klaren Waldsees. Ein erstickter Laut kam über ihre Lippen und Tränen traten in ihre Augen. Herras und Merit bemerkten den Anhänger nicht und so bedachte der Mensch das Mädchen nur mit einem erstaunten Blick. Merit hingegen hielt ihr Verhalten für eine verständliche Reaktion auf das eben erlebte und die Konfrontation mit dem sagenumwobenen Rabenvogel. Was wirklich in Maleris vorging, vermochte er nicht zu erahnen. Auch Olog sah ihre Tränen, die still über ihre Wagen liefen und er stieß einen traurigen und klagenden Laut aus. Mit einem letzten Blick auf Maleris erhob er sich in die Lüfte und verschwand am Nachthimmel. Maleris, Merit und Herras standen noch eine lange Weile schweigend da und starrten hinauf zu dem nun verwaisten Ast, als müssten sie sich erst versichern, dass es auch wahr war, was sie soeben erlebt hatten.

»Was hast du?«, fragte Herras Maleris schließlich. Noch immer verstand er die Tränen des Mädchens nicht.

Sie wischte sich mit dem Handrücken die Nässe aus dem Gesicht. »Nichts!«, erwiderte sie und ihr Tonfall ließ nicht daran zweifeln, dass sie jetzt nicht darüber sprechen wollte. »Was ist mit ihm?«, fragte sie stattdessen und deutete auf die bedauernswerte Kreatur, die das erste Untier unter sich begraben hatte. Sie wussten nicht einmal, wer, oder was es gewesen war, denn sie hatten ihr Augenmerk fast ausschließlich auf die Wolfswesen gerichtet, von denen es verfolgt worden war. »Sollten wir nicht nachsehen, wie es ihm geht?«

Merit nickte zustimmend und riss endlich seinen Blick von dem verlassenen Ast los. Noch immer konnte er nicht glauben, dass er Olog wirklich gesehen hatte.

Gemeinsam ging sie zurück zu ihrem Lagerplatz hievten den schweren Kadaver zur Seite. Herras begann zu fluchen, als er erkannte, was sich darunter verbarg.

»Bei Hembras, verflucht soll er sein, das ist ein Sellag«, stieß er voller Zorn hervor. »Wie kommt er hierher?«

»Er muss uns gefolgt sein«, vermutete Merit.

Der Sellag hatte die Augen geschlossen und rührte sich nicht. Maleris beugte sich zu ihm herunter und tastete an seinem Hals. Vielleicht konnte sie so etwas wie einen Puls oder ein anderes Lebenszeichen finden. In der Beuge zwischen dem hornigen Körper, der unter einem Kettenhemd steckte, und dem weicheren Halsansatz konnte sie etwas erfühlen. »Er lebt noch«, stellte sie fest.

»Dann sollten wir ihn töten, bevor er aufwacht und uns alle umbringt.« Herras griff nach seinem Schwert. Er war bereit, dem Sellag sofort die Kehle durchzuschneiden. Merit streckte die Hand nach seinem Arm aus und hielt ihn davon ab. Er selbst hatte bereits seine Armbrust schussbreit angelegt, hielt sich aber zurück.

»Nur nichts überstürzen«, versuchte er Herras zu besänftigen. »Vielleicht kann er noch hilfreich für uns sein.«

»Hilfreich? Der?« Herras’ Augen funkelten wild. »Ich wüsste nicht, wie der uns hilfreich sein sollte.«

»Das werden wir sehen«, entgegnete Merit ruhig. »Wir sollten ihn zuerst einmal fesseln.«

Herras verstand die unausgesprochene Aufforderung Merits und machte sich widerwillig auf den Weg, die Stricke zu holen, die er in Merits Rucksack wusste. Als er zurückkehrte, hatte Maleris sich daran gemacht, den bewusstlosen Sellag zu untersuchen, soweit es ihr bei dem ihr unbekannten Wesen möglich war. »Er scheint nicht weiter verletzt zu sein, außer der Fleischwunde an seinem Arm. Ich habe eine Salbe dabei, die wir für seine Heilung verwenden können. Seine gepanzerte Haut und das Kettenhemd scheinen das Schlimmste verhindert zu haben«. Sie banden dem Sellag Hände und Füße zusammen und trugen ihn, unter heftigem Protest von Herras, in das Innere des Turmes.

Als er aus seiner Bewusstlosigkeit erwachte, fand Marek sich in einer ihm sehr unangenehmen Situation wieder. Er hatte noch nicht die Augen geöffnet, als er bereits die Stimmen der Menschen vernahm.

»Was sollen wir nun mit ihm machen?« Es war eindeutig die Stimme des »Königs«, die er hörte.

Vorsichtig versuchte Marek, sich zu bewegen, aber es gelang ihm nicht. Er öffnete die Augen einen Spalt weit und schielte unter seinen Lidern hervor. Ganz offensichtlich hatten sie ihn in eine Ecke des Turmes verfrachtet, Hände und Füße fest zusammengebunden und miteinander verschnürt. In seine Nase stieg ein widerlicher Geruch und aus den Augenwinkeln konnte der Sellag erkennen, dass sie wohl von der grünen Paste zu kommen schien, die auf die Wunde an seinem Arm aufgetragen worden war. Schmerzen verspürte er kaum.

Langsam kehrte auch seine Erinnerung zurück und ihm wurde klar, wie er in diese missliche Lage geraten war. Er entsann sich an die riesigen Untiere, die ihn aus seinem Versteck hinter den Büschen gejagt und ihn dann verfolgt hatten, nachdem seine Krieger ihre Opfer geworden waren. Als er bereits erwartet hatte, dass sein Leben nicht einmal mehr einen Wimpernschlag lang währen würde, brach das Biest plötzlich über ihm zusammen und begrub ihn unter seinem massigen Leib. Das Gewicht seines Angreifers hatte ihm die Luft aus den Lungen geraubt, bis ihm schließlich schwarz vor Augen geworden war. Den Tod des Untiers musste er den Menschen zu verdanken haben und diese hatten ihre Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen und ihn gefangen genommen.

Marek wurde elend zumute, auf eine sehr wütende und hilflose Weise. An seiner Aufgabe war er nun endgültig gescheitert und zudem befand er sich in der denkbar schlechtesten Lage, die er sich hätte vorstellen können.

»Obwohl…«, dachte der Sellag bei sich, während er überlegte, was die Menschen wohl mit ihm anstellen würden.

»Vielleicht ist dies besser, als unverrichteter Dinge zu Kalerid zurückkehren zu müssen.«

Der Sellag begann sich zu fragen, warum die Menschen ihn nicht schon längst getötet hatten.

Eine lange Stille war auf die Frage des »Königs« gefolgt. Anscheinend waren die Menschen sich selbst noch nicht über ihre weitere Vorgehensweise im Klaren.

»Wir werden versuchen, so viel wie möglich über ihn und sein Volk aus ihm herauszubekommen. Je mehr du über die Fremden weißt, umso besser sind deine Voraussetzungen, wenn du gegen sie in den Krieg ziehen willst«, antwortete Merit schließlich.

»Das planen sie also!«‚ schoss es Marek durch den Kopf. Seit Beginn ihrer Verfolgung hatte sich Marek gefragt, mit welchem Hintergrund der »König« und seine Begleiter so zielsicher losgezogen waren. Bis jetzt hatte er keine Antwort auf diese Frage gefunden. »Wahrscheinlich wollen sie sich irgendwo Verstärkung für einen Gegenschlag verschaffen«. Marek geriet in diesem Moment in einen Zwiespalt. Eine Stimme in ihm sagte ihm, dass er, so schnell es ging, nach Allendas zurückkehren musste, um Kalerid vor diesem drohenden Gegenangriff zu warnen; ein anderer, sehr viel vernünftigerer Teil von ihm, entgegnete dieser Stimme sehr bestimmt, dass, sofern er überhaupt jemals den Weg zurück finden würde, Kalerid ihn gar nicht dazu kommen lassen würde, überhaupt ein Wort darüber zu verlieren, sondern ihm wahrscheinlich sofort den Kopf abreißen würde.

»Und was machen wir danach mit ihm?«, hörte er wieder den Mann fragen, den er für den König hielt.

»Das hängt ganz von seinem Benehmen ab«, erwiderte Merit und kam unter den fragenden Blicken von Herras und Maleris aus dem Schneidersitz auf die Beine. Der Waldmensch hatte längst im Schein der Kerzen bemerkt, wie sich Mareks Lider bewegten. Es bedurfte nur wenige Schritte, dann stand er neben den Sellag, griff nach den Fesseln, die dessen Hände zusammenschnürten, und zog ihm mit einem kräftigen Ruck in eine sitzende Position. Marek riss mit einem Schlag die Augen auf und fauchte den Menschen an. Die Geste sollte seine Stärke zum Ausdruck bringen, wirkte aber eher hilflos.

Merit ließ sich davon nicht beeindrucken. Er musterte den Sellag mit durchdringendem Blick. »Ich denke, du hast mitbekommen, was wir von dir hören wollen.«

»Von mir werdet ihr nichts erfahren«, zischte Marek auf allendassisch mit einem wilden Glitzern in den Augen und zerrte an seinen Fesseln, obwohl er bereits wusste, dass es sinnlos sein würde.

»Gut!«, Merit nickte ruhig, aber er spürte, dass Herras hinter seinem Rücken mit sich selbst ringen musste, um nicht auf den Sellag loszugehen. »Ich denke, wir werden Mittel und Wege finden, dich zum Reden zu bringen.«

Maleris beobachtete sie schweigend. Sie war seit Ologs Auftauchen sehr still geworden, das war sowohl Merit als auch Herras aufgefallen, aber es hatte sich noch keine geeignete Gelegenheit geboten, sie darauf anzusprechen. Mit gekreuzten Beinen saß sie auf der Erde und blickte mit glasigen Augen zu dem Sellag und ihren Gefährten hinüber. Ihre Gedanken schienen weit entfernt zu sein. Trauer umhüllte sie wie ein Mantel und die beiden Männer konnten sich nicht erklären, woher ihre niedergeschlagene Stimmung rührte.

»Ich sage nichts!«, fauchte Marek erneut.

Merit zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Wie du meinst!« Der Waldmensch zog sein Schwert aus der Scheide und hielt es dem Sellag an die Kehle. »Vielleicht möchtest du uns jetzt etwas über dich erzählen.«

Marek zuckte zurück und Angst blitzte in seinen Augen, doch dann meldete sich sein Verstand wieder zu Wort und sagte ihm, dass es gleichgültig war. Er würde sowieso sterben. Spätestens nachdem er ihnen gesagt hatte, was sie hören wollten, würden sie ihn umbringen und selbst, wenn sie ihn laufen ließen, würde ihn in Allendas der Tod durch Kalerids Klauen erwarten. Er konnte also ebenso gut schweigen, so konnte er wenigstens mit ruhigem Gewissen dem Tod entgegentreten. Ein heiseres Lachen entrann seiner Kehle, angesichts seiner auswegslosen Situation. Die Menschen dachten doch tatsächlich, sie könnten ihn auf diese Art und Weise unter Druck setzen. Konnten sie sich nicht denken, dass er sein Leben ohnehin bereits verwirkt hatte?

»Stoß doch zu!«, sagte der Sellag und begegnete Herras’ und Merits Blicken gelassen. Die plötzliche Ruhe in seiner Stimme überraschte die Männer. »Was habe ich noch zu verlieren? Nur ihr könnt dabei verlieren. Wenn ich tot bin, kann ich Euch nichts mehr sagen.«

Merit dachte über Mareks Worte nach und er musste sich eingestehen, dass sie nicht ohne Sinn waren. Er musste einen anderen Weg wählen, auch wenn er jetzt schon ahnte, dass er bei seinem Kameraden auf wenig Zustimmung stoßen würde. Er drückte sein Schwert noch ein wenig fester gegen die Kehle des Sellag, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.

»Ich denke, du hast Recht!«, sagte er mit gutmütigem Tonfall, der so gar nicht zu seinem Gesichtsausdruck passte. »Aber ich habe eine ganz wunderbare Idee, wie wir alle noch eine Zeit lang etwas voneinander haben können. Du wirst uns ein Stück begleiten.«

Ein entsetzter Ausruf klang durch den Raum, als er seine Aussage beendet hatte. Zuerst dachte Merit, der Sellag hätte ihn ausgestoßen, doch dieser musterte ihn nur mit finsterem Blick und brummte einige Worte in seiner eigenen Sprache. Herras war der Verursacher des Geräusches gewesen.

»Das kann doch nicht dein Ernst sein!«, entfuhr es dem Allendasser entgeistert. »Du willst ihn verschonen?«

»Nein, sei unbesorgt. Er wird bekommen, was er verdient«, entgegnete Merit und versuchte, Herras’ erhitztes Gemüt zu beschwichtigen. »Wir werden ihm nur ein wenig mehr Zeit geben, sich die Sache zu überlegen.«

Erzürnt fuhr sich Herras durch das zerzauste Haar und ließ sich auf den Boden fallen. Er zweifelte nicht daran, dass Merit mit dem, was er tat, Recht hatte. Schließlich fiel es dem Lemberusken leichter, in dieser Situation einen kühlen Kopf zu bewahren, aber ihm selbst gelang kaum, seinen Zorn gegenüber den Verbrechern, die sein Volk überfallen hatten, unter Kontrolle zu halten. Sein Hass verursachte ihm Magenschmerzen und er hätte sich am liebsten direkt auf diese gewissenlose Kreatur gestürzt.

Der Sellag vernahm Merits Worte nicht ohne eine gewisse Zufriedenheit. Auch wenn es ihm keineswegs zusagte, den Menschen weiterhin Gesellschaft leisten zu müssen, hatte er das Bestmögliche erreicht. Er hatte seinen Tod noch ein wenig herausgezögert. Man wusste ja nie, was noch geschehen würde.

Merit versetzte Marek einen Stoß, sodass dieser wieder hintenüber fiel. Durch seine Fesseln war es ihm nicht möglich, sich aus eigenen Kräften wieder aus dieser Position zu befreien und er fühlte sich wie ein Käfer, den man auf den Rücken gelegt hatte.

Merits Worte hatten auch Maleris aus ihren Gedanken gerissen. Sie sah Herras mit verständnisvollem Blick an. Sie konnte seine Gefühle gut nachempfinden. Auch ihr behagte es nicht, die Kreatur als Begleiter auf ihrem Weg zu haben. Wie musste sich erst Herras fühlen, der die Verbrechen miterlebt hatte, die diese Wesen an seinem Volk begangen hatten?

»Er wird uns eine Menge Zeit kosten!«, sagte sie zu ihrem Bruder, als er wieder zu ihnen trat und sich niedersinken ließ. »Und wir haben nicht genug Proviant, um ihn mit durchzufüttern.«

»Wir werden im schwarzen Wald sowieso nicht gut vorankommen, da wird seine Anwesenheit kaum auffallen«, erwiderte Merit ruhig. »Und ich werde schon dafür sorgen, dass er uns nicht zu viel Proviant wegfrisst. Was nach dem Togos mit ihm geschehen soll, werden wir dann sehen. Wir können ihn noch immer jederzeit los werden.«

»Wie du meinst«, antwortete Maleris knapp. Noch immer beschäftigten sich ihre Gedanken mit anderen Dingen, sodass es ihr schwer fiel, dem Sellag viel Aufmerksamkeit zu widmen.

»Wir sollten jetzt versuchen, uns noch ein wenig auszuruhen. Der Tag bricht bald heran und es gab viel Aufregung in dieser Nacht« sagte Merit schließlich. »Ich werde die restliche Wache übernehmen.« Der Waldmensch setzte sich in eine Position, von der aus er sowohl den Sellag als auch den Zugang des Turmes und die Lichtung innerhalb der Ruine im Auge hatte, und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand.

Herras sagte in dieser Nacht nichts mehr. Widerwillig schlüpfte er unter seine Decke und streckte sich neben Maleris aus. Sein Versuch, noch etwas Schlaf zu finden, scheiterte. Er konnte nicht verhindern, dass sein zorniger Blick immer wieder zu dem Sellag schweifte, der regungslos und mit geschlossenen Augen in der Ecke des Turmes lag.

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