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Von Sarah Engel

Totale Kontrolle im Kinderzimmer

Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Vor mehr als hundert Jahren soll der russische Revolutionär und Politiker Lenin diesen Spruch geprägt haben. An Aktualität hat er dennoch nicht verloren. Denn digitale Techniken unserer Zeit machen seine Aussage aktueller und lebensnaher, als es sich Lenin jemals hätte träumen lassen.

Spionage ist kinderleicht

Ob per Drohne, Kamera oder GPS – die Möglichkeiten der technischen Kontrolle sind unbegrenzt. Öffentliche Plätze werden überwacht, Gebäude per Kameraaufzeichnung gesichert, und selbst ein Laie kann über die GPS-Funktion sozialer Netzwerke sehen, wo sich Freunde und Familie befinden. Mit der richtigen Ausstattung ist Spionage kinderleicht, sodass auch Eltern diese immer mehr für sich entdecken

Die Suche nach Sicherheit

Bei hektischen Blicken aus dem Küchenfenster, wenn sich das Kind auf dem Schulweg verspätet, haben sich bestimmt viele Eltern schon erwischt. Sicherheit ist wichtig, Sicherheit für Kinder ist noch wichtiger. Unternehmen haben für diese Nöte einen neuen Markt entdeckt. Ihre Lösungen sind nur wenige Klicks, Downloads oder eine Postsendung entfernt.

GPS trifft auf Halsband

Der GPS-Empfänger „Wo ist Lilly“ des Berliner Start-ups „Myfairdeal“ ist eine davon. Dabei war das Gerät ursprünglich für den vierbeinigen Freund von Unternehmensgründer Daniel Spanier gedacht. Denn Lily ist nicht der Name seiner kleinen Tochter, sondern seines Labradors. So wurde der Tracker zunächst für Katzen und Hunde angeboten. Sollte sich das Tier in der Nachbarschaft verlaufen, konnten Herrchen oder Frauchen es mit einem kleinen Sender am Halsband orten. Doch das Produkt funktioniert nicht nur für Familienmitglieder mit Fell.

Kinderuhr mit Kontrollfunktionen

Inzwischen bietet „Myfairdeal“ eine GPS-Uhr für Kinder an. In Grasgrün oder zartem Rosa unterscheidet sie sich am Handgelenk des Nachwuchses kaum von herkömmlichen Uhren. Der Clou steckt im Inneren. Eine SIM-Karte, die mit Guthaben aufgeladen werden kann, macht weitere Funktionen möglich. Eine kostenlose App verknüpft das elterliche Handy mit der Kinderuhr. So können Familien ihre Kinder jederzeit orten. Auch Anrufe sind kein Problem. Über ein Mikrofon an der Uhr kann das Kind mit seinen Eltern sprechen. Zudem verfügt die Armbanduhr über einen Notfallkopf. Sobald dieser gedrückt wird, stellt die Uhr eine Telefonverbindung zu den Erziehungsberichtigten her.

Gebiete für Kinder abstecken

Kurios ist zudem die Funktion „Geo Zaun“. Über die App können Eltern einen Kreis um ein Gebiet ihrer Wahl ziehen. Sobald das Kind diesen Radius verlässt, beispielsweise den Garten oder seine Schule, wird eine Meldung verschickt. Darüber hinaus schlägt ein eingebauter Sender Alarm, sobald die Uhr abgelegt wurde.

„Trend geht zur Ängstlichkeit“

Kritisch beobachtet Susanne Häring, freie Medienpädagogin aus Osnabrück, Erfindungen wie diese. Sie bedienen nicht nur die Bedürfnisse der sogenannten „Helikopter-Eltern“, die stetig wie ein Flugobjekt über ihrem Nachwuchs kreisen. Vielmehr würden sie Sorgen noch verstärken. „Der Trend geht zur Ängstlichkeit“, sagt Häring im Gespräch mit unserer Redaktion. Dabei sei der Urinstinkt, das eigene Kind zu schützen, nicht falsch. Doch Produkte wie „Wo ist Lily“ würden zudem Ängste vor Vorfällen schüren, die nur selten existent sind. „Die Zahl der Entführungen geht seit Jahren zurück“, weiß die Medienpädagogin. „Die Welt ist nicht hundertprozentig böse.“ Häring glaubt, dass GPS-Tracker und Apps keine zusätzliche Sicherheit schaffen. Vielmehr würden sie dazu beitragen, dass Eltern sich immer weniger auf ihr gesundes Bauchgefühl verlassen würden.

Handy schützt nicht vor Überfall

„Entspannt euch!“, rät Häring daher vielen Eltern. Ein Handy oder eine intelligente Uhr könne Kinder schließlich nicht vor einem Überfall oder Gewalt schützen. „Was macht das Handy? Kann es Karate oder verwandelt es sich in ein Pfefferspray?“, entgegne sie besorgten Eltern oft. Darüber hinaus ruft sie den Familien ihre eigene Kindheit in Erinnerung. Schließlich habe sich jeder einmal mit Freundinnen verquatscht oder auf dem Schulweg getrödelt – eine Entführung steckte nur selten hinter der Unpünktlichkeit.

Digitale Überwachung ohne Grenzen

In der digitalen Welt kennt die Überwachung des Nachwuchses dennoch keine Grenzen. Während ein Babyphone früher nur die Geräusche aus dem Kinderzimmer übertrug, können sich frischgebackene Eltern heute per Kameras über das Bettchen ihres Säuglings beugen. Und selbst wenn die Kinder schon längst das Haus verlassen haben, kreisen Eltern weiter über ihnen. So sorgte in den vergangenen Monaten vor allem die amerikanische App „Class120“ für Aufsehen. Für 199 Dollar im Jahr verrät die App, die ebenfalls mit GPS-Ortung arbeitet, ob der akademische Nachwuchs den Kursraum seiner Universität besucht oder die Lehrveranstaltung nach einer durchzechten Nacht verpennt.

Mehr Gefahren als Sicherheiten

Egal wie gut es die Eltern mit ihrer Überwachung meinen, für Susanne Häring bietet sie mehr Gefahren als Sicherheiten. „Niemand weiß, was mit den Daten passiert, die über diese Apps gesammelt werden“, sagt die Expertin. Denn sobald Hacker in deren Besitz kommen, verwandeln sich die eigentlichen Helfer der Eltern zu Verbündeten von Kriminellen. Darüber hinaus würden sich die übersteigerten Ängste von Eltern auf ihren Nachwuchs übertragen. „Stress und Angst wirken sich auf die Psyche aus. Oft spüren Kinder sofort, wenn ihre Eltern unsicher sind“, sagt Susanne Häring.

Statt ihren Nachwuchs vor der Welt zu ängstigen, sollten Eltern besser dessen Stärken fördern und ihn gezielt aufklären. Das eigene Kind loszulassen, sei nicht einfach. Dennoch rät die Expertin, dessen Selbstständigkeit Schritt für Schritt zu fördern. Wer trotzdem Angst um sein Kind habe, sollte diesem statt eines GPS-Trackers besser einen Selbstverteidigungskurs sponsern. Denn Studien der Vergangenheit zeigten: Menschen, denen die Angst im Nacken sitzt, werden viel eher angegriffen.

Der alte Spruch von Revolutionär, Politiker und Kontrollfreak Lenin hat viel Wahres. Doch vielleicht sollten unsichere Eltern ihn um einen Zusatz erweitern: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, und ein gesundes Bauchgefühl ist am besten.

Familie mit allen Sinnen erleben

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