Читать книгу Tarmac - Nicolas Dickner - Страница 10

Оглавление

6. Russisch zu Hause lernen

Nachdem es einige Jahre stillgehalten hatte, nahm sich das Sozialamt die Akte Ann Randall wieder vor. Ein Routinebesuch hatte in der Tat Anlass zu der Annahme gegeben, dass in dieser Familie tatsächlich nicht alles rund lief. Nicht nur, dass die Erziehungsberechtigte eine psychiatrische Vorgeschichte hatte, sie sammelte auch noch Tausende Päckchen Ramen-Nudeln und stapelweise Sardinendosen. Das war verdächtig.

Glücklicherweise war Hope immer auf der Hut. Jedes Mal, wenn sich ein Sozialarbeiter ankündigte, wischte sie den Boden, goss einen Liter Chlorreiniger in die Toilette, füllte einen hübschen Weidenkorb mit Äpfeln und Orangen. Wenn man sie in sorgfältig hergerichteter Umgebung antraf, konnte Ann Randall fast normal wirken.

Dieser Zirkus wiederholte sich alle sechs Monate, und Hope lernte mit der Zeit immer besser, nach außen die Illusion von Normalität zu erzeugen. Sie hatte schnell verstanden, dass bestimmte Details Verdacht erregten – vor allem eine Wohnung ohne Fernseher. Ein Fernseher war weitaus mehr als ein einfaches Haushaltsgerät, er bewies ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Hope durchstöberte also die Abfälle und stieß auf einen alten Schwarzweißfernseher der Marke Zenith. Der untere Teil des Bildschirms wollte zwar kein Bild mehr zeigen, aber solange man ihn nicht anstellte, erfüllte er seinen Zweck aufs Beste.

Sobald der Fernseher seinen Platz im Esszimmer eingenommen hatte, änderte sich die Haltung der Sozialarbeiter. Sie nahmen diese positive Entwicklung zur Kenntnis, und ihre Besuche erfolgten in immer größeren Abständen. Zwischen den Inspektionen musste der Fernseher allerdings verschwinden: Ann Randall verabscheute diesen Apparat, der Netzhautkrebs auslöste und einem das Gehirn zumüllte.

Das Fernsehgerät markierte einen Wendepunkt in Hopes Leben. Bisher war die Bibelsammlung ihrer Mutter ihre einzige Informationsquelle gewesen. Hope hatte einmal die King-James-Bibel gelesen – von der ersten bis zur letzten Seite –, und das hatte ihr wahrlich gereicht!

Von nun an schloss sie sich jeden Abend in ihrem Schrank ein, um die internationalen Nachrichten der CBC News zu sehen, alte Filme aus dem Spätprogramm und vor allem, unverzichtbar, The Nature of Things mit David Suzuki. Astronomie, Genetik, Chemie – sie interessierte sich für alles. Jeden Freitagabend durchquerte die frohe Botschaft, von Vancouver in Britisch-Kolumbien kommend, den Kontinent von Transponder zu Transponder, bis sie schließlich einen jämmerlichen Fernseher in der hintersten Ecke eines Kleiderschranks im neuschottischen Yarmouth erreichte und das Gehirn eines kleinen, wissensdurstigen Mädchens zum Glühen brachte.

Der Kalte Krieg neigte sich dem Ende zu. Der Amtsantritt von Michael Gorbatschow war ein gutes Vorzeichen. Die Perestroika war ein sehr gutes Vorzeichen und die Glasnost ein sehr, sehr gutes Vorzeichen. Fortan war keine Rede mehr vom nuklearen Holocaust: Man fragte sich, wann es wohl den ersten McDonald’s auf dem Roten Platz geben würde.

Mit ihrem besonderen Gespür für künftige Entwicklungen hatte Hope auf der Suche nach einem Lehrbuch für Russisch per R-Gespräch alle Buchhandlungen in Halifax angerufen. Bei Book Room wurde sie schließlich fündig. Eine Woche später brachte der (fluchende) Postbote drei riesige, in braunes Packpapier eingeschlagene und gut verschnürte Pakete mit 17 Bänden Russisch zu Hause lernen.

Während sich ihre Mutter in der Küche die Nägel abkaute, verbarrikadierte sich Hope im Kleiderschrank, schaltete den Fernseher im Undercovermodus ein und lernte im stroboskopartigen Schein des Bildschirms alles über Personalpronomen, Konjunktionen und Konjugationen.

Sie war gerade bei den ersten unregelmäßigen Verben angelangt, als sich der Zwischenfall in Tschernobyl ereignete.

Ein einfacher Wartungsfehler, dreißig winzige Sekunden Unachtsamkeit, und ein Atomkraftwerk in der weit entfernten Ukraine zerschmolz so leicht wie ein Karamellbonbon auf einer heißen Herdplatte. Hope saß drei Tage lang wie angewachsen vor dem Fernseher. Zum ersten Mal konnte die Welt Stunde um Stunde eine Katastrophe mitverfolgen, die auf sowjetischem Gebiet stattfand – eine Situation, die zwei oder drei Jahre früher an Science-Fiction gegrenzt hätte.

Für Ann Randall hingegen war Tschernobyl eines der Vorzeichen – bis zum Sommer 1989 waren es immerhin nur noch drei Jahre –, und sie litt erneut unter Angstzuständen, begleitet von Schlaflosigkeit und Phasen plötzlicher und unerklärlicher Fiebrigkeit. Etwas Neues kam allerdings hinzu: Seit kurzem sprach sie im Schlaf auf Assyrisch.

Hope tippte darauf, dass es Assyrisch, Hebräisch oder Sumerisch war, auch wenn sie ehrlich gesagt nur wenige Anhaltspunkte hatte. Ihre Mutter schlief jeden Abend beim Lesen einer dicken mehrsprachigen Bibel ein. Vielleicht vollzog sich hier eine Art Kontaminierung? Immerhin stand es fest, dass es bestimmt kein Russisch war.

Für Hope, die Hüterin des häuslichen Gleichgewichts, waren diese apokalyptischen Psychosen nicht einfach ein archaisches Familienerbe, sondern ein echtes Problem. Sie schleppte ihre Erzeugerin also zum Psychiater, der bestätigte, dass die Dosierung des Clozapins, mit der sie über viele Jahre gut gefahren waren, nunmehr erhöht werden musste. Neue Dosierung, neuer Trott.

Woher kam dieser plötzliche Wirkungsabfall? Der Arzt konnte keine genaue Erklärung dafür geben. Er nannte mehrere mögliche Gründe: Fortschreiten der Krankheit, Veränderungen im Metabolismus, Gewöhnungseffekt. Hope dachte bei sich, dass vielleicht eine von der Wissenschaft noch nicht erkannte Unverträglichkeit zwischen Clozapin und den internationalen Nachrichten bestünde.

Doch ganz egal, woran es lag, sie würde von nun an ihre Anstrengungen vervielfachen müssen, um den Kern der Familie stabil zu halten. Ihre Einsamkeit wie auch die Anzahl der wöchentlich im Schrank verbrachten Stunden würde also zunehmen.

Sie fühlte sich von der Situation überfordert, aber wen hätte sie schon um Hilfe bitten können? Gewiss nicht die anderen Randalls, die sie eher tolerierten, als sie wirklich zu akzeptieren. Der Grund dafür lag auf der Hand: Hope hatte ihre kleine Höllentour noch nicht gehabt – und was galt schon eine Randall, die ihr Weltuntergangsdatum nicht kannte? Eine Unter-Randall, ein Wurm, ein Fremdkörper im Orbit des Familienstammbaums.

Hope bewegte sich im Niemandsland zwischen zwei Welten, die ihr jedoch beide verschlossen blieben. Glücklicherweise gab es David Suzuki.

Tarmac

Подняться наверх